Ich wusste, dass ich nicht in das kulturelle Schema passte. Ich wusste das schon lange. Dunkle Geheimnisse lagen in mir verborgen. Ich war gezwungen worden, sie lange Jahre verborgen zu halten. Ich wusste nicht, woher sie kamen. Sie waren allem, was ich gelernt hatte, diametral entgegengesetzt. Ihre Ursprünge aber lagen scheinbar tief in mir selbst und entsprachen, wie ich befürchtete, wenn ich nachts ängstlich, schwitzend und verzweifelt wach lag, meiner wahren Natur. Aber eine solche Natur wollte ich nicht, und wenn sie sich nicht verdrängen ließ, so subtil, unnachgiebig und zäh sie in mir wirkte, so wollte ich sie doch nie, nie, nie zugeben. Ja, ich bekämpfte sie, diese Geheimnisse, dieses verborgene Wissen, diese Erwartungen und Träume. Ja ich bekämpfte, wie es meine Kultur und meine Bildung verlangten, diese Dinge, die mir zeigten, wie ich wirklich war. Ich wies die Geheimnisse zurück, aber es nutzte nichts. Sie kamen immer wieder, entsetzten mich abermals, verspotteten mich und beraubten mich in der Dunkelheit meines Bettes meiner Vorwände und Lügen. Ich wand mich im Bett, schlug um mich, weinte und schrie: »Nein, nein!« Dann vergrub ich meinen Kopf in den Kissen und dämpfte meine ohnmächtigen Tränen. War ich wirklich so schwach und so schrecklich? War ich wirklich so anders als alle? Bestimmt war niemand so schwach, so beschämend, so schrecklich wie ich.
Dann, eines Nachts, erhob ich mich aus meinem Bett, ging zum Frisiertisch und zündete die kleine Kerze an, die dort stand. Ich hatte die Kerze einige Wochen vorher gekauft, sicher weil ich wusste, tief in meinem tiefsten Inneren, in meinem gequälten Geist, meiner gefolterten Brust wusste, dass diese Nacht kommen würde. Ich zündete die kleine Kerze an. Ich stand dort einige Minuten im flackernden Licht und sah mich an.
Ich trug ein weißes, knöchellanges Nachthemd. Ich hatte dunkles Haar und dunkle Augen. Zu dieser Zeit war mein Haar schulterlang. Dann, ohne zum Spiegel zu schauen, schlich ich in Kerzenlicht und Schatten zur Frisierkommode und holte dort unter mehreren Schichten von Kleidungsstücken, unter denen ich es schon vor Wochen versteckt hatte, ein kleines scharlachrotes Tuch hervor. Es war winzig und aus Seide und hatte Träger über den Schultern. Ich hatte es vor einigen Wochen genäht und bisher nicht gewagt, mich darin zu betrachten. Es war der dritte Versuch. Den Stoff und den Faden für den ersten hatte ich, noch nicht von der Schere berührt, in einem plötzlichen Erschrecken weggeworfen. Dann begann ich vor etwa zwei Monaten die Arbeit am zweiten, aber als das Tuch meinen Körper berührte, erfasste ich plötzlich seine Bedeutung, begann zu zittern und, kaum wissend, was ich tat, riss ich es in Stücke und warf es weg! Aber es erschreckte mich weiter, obwohl ich es zerstört hatte. Ich wusste, ich würde ein drittes machen.
Ich nahm das dritte Tuch aus dem Schubfach. Doch plötzlich stopfte ich es wieder zwischen die anderen Sachen und schloss die Kommode. Dann, schwer atmend, öffnete ich sie wieder und holte das Tuch wieder heraus. Ich ging zum Frisiertisch zurück und vermied dabei den Blick in den Spiegel. Ich ließ das Stück scharlachroter Seide neben meinen Fuß auf den Teppich fallen. Ich zitterte. Es schien, als könnte ich kaum Luft bekommen.
Ich hob meine Augen wieder zu der Gestalt im Spiegel. Sie war nicht groß, aber mir erschien sie hübsch. Aber es ist schwer, dabei objektiv zu sein. Ich nehme an, dass es objektive Kriterien gibt, ob Männer bereit sind, für ein Mädchen mit Geld zu bezahlen, aber das umfasst sicher ein ganzes Spektrum von Wunschvorstellungen, und hübsch zu sein ist vielleicht nicht einmal am Wichtigsten. Ich wusste es nicht. Ich nehme sogar an, für einen Mann ist die Vorstellung wichtiger, was er mit einer Frau anstellen könnte, und, wenn er sie sieht, was er mit ihr tun wird.
Ich sah zu der Gestalt im Spiegel. Ihr Nachthemd, knöchellang, war aus weißer Baumwolle. Es kam mir ziemlich zurückhaltend vor, ließ aber keinen Zweifel daran, dass sie eine Frau war und vielleicht sogar eine attraktive Frau, doch das lag sicher eher im Blick der Männer. Ich bemerkte Tränenspuren auf den Wangen des Mädchens, das mir im Spiegel gegenüberstand. Sie zitterte, ihre Lippen bebten. Wovor fürchtete sie sich? Davor, was sie im Spiegel sah? Sie war es selbst. Warum sollte sie sich vor sich selbst fürchten? Ich sah, dass sie ein Nachthemd trug. Ich mochte das. Pyjamas gefielen mir nicht. Vielleicht war sie zu feminin für Frauen in diesen Zeiten, aber auch solche Frauen gab es. Sie sind vorhanden und ihre Bedürfnisse sind vorhanden. Ich sah sie an. Ja, mir erschien sie wirklich hübsch. Daran war nicht zu zweifeln. Vielleicht war sie es nicht für ein Krokodil oder einen Baum, aber für einen Mann war sie zweifellos hübsch. Und das war es, was zählte. Um sicherzugehen, würde ein Mann bestimmt wissen wollen, ob der Rest ihres Körpers zu ihrem Gesicht passte. Männer waren so. Sie waren, wie Pferdehändler oder Hundezüchter, nur interessiert an der ganzen Frau.
Wieder betrachtete ich das Mädchen im Spiegel. Ja, sie schien mir zu feminin für diese Zeiten zu sein. Solch eine Frau passte nicht in die Zeit. Sie war wie etwas Schönes, das an einen fremden Strand gespült war. Sie wirkte fremd, wie aus einer anderen Zeit. Mit ihren Hormonen und ihrer Schönheit, ihrem Begehren wirkte sie wie eine Fremde, die aus ihrer Zeit gefallen war. Da stand sie in einer Welt, die ihrer tiefsten Natur fremd war, war kein Mann und wollte keiner sein, ein Opfer der Zeit und ihrer Gene, der Biologie und der Geschichte. Wie allein und ohne Beschützer, wie frustriert, wie unerfüllt und trübsinnig sie war! Wie wirklich tragisch sie auf mich wirkte.
Wieder sah ich das Mädchen im Spiel an. Sie passte viel besser Fleisch kochend an ein Höhlenfeuer, mit Lederriemen um ihr linkes Handgelenk, die anzeigten, wessen Frau sie war, oder vielleicht in eine Tempelprozession, wo sie unter dem Befehl von Priestern mit Hymnen die erlösenden Nilfluten begrüßen würde, oder sie sollte barfuss über einen einsamen ägäischen Strand laufen, oder Wolle spinnen auf Kreta oder Netze auswerfen an der Küste asiatischer Meere, besser sie zerbräche ihre Puppen und brächte sie zum Tempel der Vesta, besser sie wäre ein Seidenmädchen, gefangen in einem Serail oder eine zerlumpte Nutte, kniend beim Lecken und Küssen gegen Geld, besser sie würde eingetauscht gegen tausend Pferde in Skythien oder nach Jerusalem verschleppt, ihr Haar angebunden an den Steigbügel eines Kreuzfahrers, besser sie wäre eine hochwohlgeborene spanische Lady, die darum bettelt, die Braut eines Piraten sein zu dürfen, besser sie wäre eine irische Prostituierte, das Gesicht von Puritanern zerschnitten, weil sie den Truppen Charles’ gefolgt war, besser sie wäre eine zarte Favoritin des Regenten, die in die türkische Sklaverei verkauft wird, besser sie wäre eine spinnende Kolonialistin in Ohio, aufschauend zu ihrem ersten roten Master.
Ich senkte meinen Kopf und schüttelte ihn. Ich redete mir ein, dass ich solche Gedanken aus meinem Kopf verbannen müsste. Aber das Mädchen stand da, stand immer noch im Spiegel. Sie war nicht geflohen. Wie wagemutig sie war, oder wie drängend ihre Bedürfnisse! Ich schauderte.
Wie oft war ich schon aus dem Schlaf hochgeschreckt, eingeschnürt durch die rauen, engen Seile, die über und unter meinen Brüsten verliefen, sich zwischen ihnen kreuzten und ihre grausamen Zeichen auf meinem Körper hinterließen! Wie oft war ich erwacht und meinte, immer noch den festen Biss grausamer Ketten an Handgelenken und Knöcheln zu fühlen? Wie oft hatte ich zu meinen Herren aufgeschaut, gefesselt und ihrer Gnade ausgeliefert? Wie oft war ich vor Peitschenhieben zurückgewichen, nur um dann zu ihren Füßen zu kriechen und erbärmlich und voller Reue darum zu betteln, sie erfreuen zu dürfen? Ich war eine Frau.
Ohne in den Spiegel zu sehen zog ich das Nachthemd aus und hielt es krampfhaft in meiner Hand. Ich zögerte. Dann kauerte ich mich nieder und legte es sanft auf den Teppich, neben das Stück Seide. Schließlich nahm ich das Stück Seide, stand auf und zog es, ohne in den Spiegel zu sehen, an. Es war an mir! Ich schloss meine Augen. Ich spürte die Seide auf meiner Haut, fast nichts, nur wenig mehr als ein Flüstern oder eine Verhöhnung. Ich drückte ihren Saum gegen meinen Körper, vielleicht verteidigend, damit ich ihn deutlicher spürte, damit ich mir selbst gewisser war, redete ich mir ein, damit ich deutlicher spürte, dass ich bekleidet war. Doch dies konnte natürlich nicht darüber hinwegtäuschen, welch ein skandalöses, durchsichtiges Kleidungsstück das war, wie eng und durchsichtig es mich umschloss und wie es meine Schönheit preisgab. Ich stand dort und trug das Kleid. Dann wandte ich mich zum Spiegel und öffnete meine Augen. Plötzlich keuchte ich auf und mir wurde schwindlig. Für einen Augenblick wurde mir schwarz vor Augen und ich rang nach Luft. Meine Knie gaben fast nach, ich kämpfte, um das Bewusstsein nicht zu verlieren.
Ich sah in den Spiegel. Noch nie hatte ich mich so gesehen. Ich erschrak. Im Spiegel war eine andere Frau als die, die in der Welt bekannt war, eine, die noch niemand gesehen, die niemand erwartet hatte. Was war das für ein Ding, das sie da trug? Welche Art von Kleidungsstück konnte das sein, so köstlich und kurz, so entsetzlich und kompromisslos feminin? Niemals würde eine richtige Frau, feindselig, lieblos, schrill und frustriert, eifrig auf Anpassung bedacht, so etwas tragen. Es war zu weiblich, zu feminin. Wie könnte sie in einem solchen Kleidungsstück einem Mann gleichberechtigt sein? Es würde ihr sofort klar machen, dass sie es nicht war. Wie könnte sie in diesem Gewand ihre Würde bewahren? Es würde ihr nur zeigen, dass sie schön war und völlig anders als ein Mann. Es war die Art von Kleidung, in der ein Mann eine Frau gern sehen würde. Aber welche Frau würde freiwillig solch ein Gewand anziehen? Bestimmt keine reale Frau. Dafür war es zu weiblich. Nur eine schreckliche Frau, eine niedere Frau, eine schändliche, verruchte, wertlose Frau, eine Schande ihres Geschlechts, eine Frau, deren dunkle Seiten und Bedürfnisse denen vorheriger Jahrhunderte entsprechen, deren Bedürfnisse der allgemeinen Moral zuwiderlaufen, deren Bedürfnisse älter und tiefer, realer und tiefgehender, unmoderner und wunderbarer waren als ihr durch intellektuelle Fehlentwicklungen, entgegengesetzt zu ihrer Biologie, Wahrheit, Geschichte und Zeit, aufgezwungen waren. Erschreckt schlug ich die Hände vor den Mund.
Ich stand da, betrachtete mich und war beschämt, gedemütigt und erregt. Ich wusste, ich war da im Spiegel, niemand anders als ich. Was ich sah, war vielleicht keine reale Frau im erfundenen, künstlichen, verachtenswerten, grotesken, modernen Sinn, aber ich dachte, sie war trotzdem eine Frau und eine, die eine plötzliche starke Kraft umgab, als wären da zwei Geschlechter und beide völlig unvereinbar.
Ich betrachtete mich im Spiegel und erbebte. Ich hatte Angst, nach dem Grund dafür zu fragen. Was bedeutete es, dass wir nicht wie Männer, dass wir so unterschiedlich waren? War das wirklich völlig bedeutungslos, ein Unfall in der Weltgeschichte, ein zufälliger Absatz, geschrieben in die Ozeane, in den aufsteigenden Nebel über den Sümpfen, in die Tagebücher der Urwälder, in die Annalen der Steppen und Wüsten, in blütenreiche Täler, in die Betten breiter Flüsse und die Pfade der Nomadenvölker oder wurden damit biologische Notwendigkeiten, Ziele und Wesensarten vollzogen? Ich wusste es nicht. Aber ich wusste, wie ich mich fühlte. Ich senkte meine Hand und drehte mich langsam vor dem Spiegel. Ich betrachtete mich und missfiel mir nicht. Ich war kein Mann und wollte auch keiner sein. Ich war eine Frau. Ich unterdrückte ein Schluchzen. Ich fragte mich, was es bedeutete, dass Männer so viel stärker und mächtiger gewesen waren als wir, bis wir sie dazu gebracht hatten, sich gegen sich selbst zu richten, sie fesselten und verkrüppelten.
Ich hatte das Gewand mit Absicht unten offen gelassen. Es erschien mir notwendig zu sein. Als ich das Gewand entwarf, fand ich das interessant, doch erst jetzt verstand ich die wahre Bedeutung. Das Gewand, besonders wegen seiner Kürze, war das einer Frau, die, ob sie wollte oder nicht, offen war für die Berührung eines Mannes. Es diente der Bequemlichkeit der Männer, war eine Einladung an sie und gleichzeitig unterstrich es die Schwachheit der Frau und erinnerte sie daran, was sie war und was das bedeutete. Ich fragte mich, ob es irgendwo wahre Männer gab, Männer, die den Schrei der Bedürfnisse in einer Frau beantworten können, die uns als das behandeln können, was wir waren, als Frauen. Aber leider konnte ich nicht daran glauben.
Aber dann dachte ich, irgendwo musste es solche Männer geben! Irgendwo in der Natur musste es ein Grund für sie geben, so wie der Grund der Tänze der Bienen im Duft der Blumen lag, die Flucht der Antilope wegen der Zähne des Tigers, so wie es einen Grund für die Wanderungen der Fische und der Vögel, für das Ausschwärmen der Insekten, für den Drang der Schildkröten zum Meer gab. Es musste einen Grund geben für meine Gefühle, jenseits allen Leugnens, aller Anklagen und rationaler Meinungen. Diese Bedürfnisse rührten etwas tief in mir auf, aber ich wagte nicht, mir einzugestehen, was das war.
Ich war allein und verzweifelt! Ich fragte mich, ob es irgendwo in der Natur eine Erklärung für diese Bedürfnisse gab, die angesichts meines Umfelds und meiner Bildung mysteriös und unerklärlich schienen, weil sie diesem allen völlig entgegengesetzt lagen. Gehörten sie in nicht zu einem organischen Ganzen, in eine natürlichen Beziehung, die es immer in Zeit und Geschichte gab? Der Tanz der Bienen verrät Richtung und Distanz zum Nektar, der Duft der Blume, vordergründig ein nutzloser Aspekt der Schönheit, geleitet die Bienen zu ihrem Pollen, die Flucht der Antilope resultiert aus der Grausamkeit und Gewandtheit der Raubtiere, die Reißzähne des Raubtiers aus der Scheu seiner Beute. Am Ende der Wanderung liegen die Laich- und Nistplätze der Tiere, das Ausschwärmen bringt die Geschlechter zueinander, und Sinn gab es auch im Zug der Schildkröten, der zum Schluss im Meer endet. Ich überlegte, was die Antwort der Natur sein könnte auf die Bedürfnisse, die ich fühlte, was die Natur dieses erschreckenden organischen Ganzen wäre, die natürlichen Beziehungen, wenn es sie denn gäbe. Ich fragte mich, was in der Natur diesen überwältigenden, unbestreitbar vorhandenen, hartnäckigen Dingen in mir entspräche, die mich so bedrängten und bekümmerten, die mich jetzt beherrschten, mich ängstigten, diese unwiderstehlichen Schreie in mir, diese qualvollen Begierden, und ich schauderte.
Ich sah in den Spiegel. Wie schamlos, sich in einem solchen Gewand zu sehen! Ich fragte mich wie sie so gekleidet, oder eigentlich entkleidet, auf einen Mann wirken würde. Plötzlich erschien sie mir klein und schön und so verwundbar und unsagbar begehrenswert. Ich ahnte, was in der Natur meinen Bedürfnisse entsprechen könnte, was deren Blume, deren Meer, deren Raubtier wäre und mir graute davor. Ich fühlte die allumfassende Wirkung meiner Begierden, ihre Macht, ihre kompromisslose Grausamkeit und was es bedeutete, ihr Objekt und ihnen absolut ausgeliefert zu sein. Dann wieder freute ich mich, dass so etwas gar nicht existieren könne, dass ich sicher war. Ich hatte nichts zu fürchten.
Ich sah das Mädchen im Spiegel weiter an. Ich fand sie exquisit. Ich fand sie schön, wie sie da im ihrer kurzen Seide stand, im Kerzenlicht so weich enthüllt. Ich hatte vorher nie bemerkt, wie schön sie war. Ich hatte sie vorher nie so gesehen und nie vermutet, wie wunderbar sie sein könnte. Ja, glücklicherweise gibt es Männer wie die in meinen Träumen nicht. Aber wofür wäre dann diese Schönheit da, wenn nicht, um zu meinem Schicksal in den Händen der Männer zu werden? Ich überlegte, wie ich mit einem Kragen um den Hals aussehen würde.
›Solche Männer würden dich nicht wieder loslassen, Doreen. Zweifellos würdest du in sicherem Gewahrsam landen, nicht einmal der kleinste Gedanke an Flucht wäre möglich. Ich frage mich, ob du schnell lernen würdest, auch den kleinsten Launen der Männer zu dienen. Ja, ich glaube, du würdest schnell und gut lernen. Es wäre nicht angenehm, ihre Peitschen zu fühlen.‹
Ich weinte und war verzweifelt, weil ich nicht in einer anderen Zeit geboren war, nicht in Ägypten oder Sumer, oder im felsigen Griechenland, warum ich nicht im großen Palast von Persepolis gehalten wurde, warum ich Alexander nicht sehen durfte, vor ihm kniend als seine persische Sklavin, warum ich nicht als barbarische Sklavin in Ketten Rom betreten durfte, vor dem Streitwagen des Generals hergetrieben und seinen Triumphzug schmückend, warum ich nicht als muslimisches Mädchen Kreuzfahrern in ihrer Festung dienen durfte oder als christliche Sklavin schamlos ausgestellt und auf einem arabischen Markt verkauft wurde, um dann beigebracht zu bekommen, vor meinen Herren zu tanzen.
Dann verbannte ich solche Gedanken aus meinem Kopf. Ich dachte nicht, dass die Erklärung für meine Begierden, für die mysteriösen Dinge in mir, die so unterschiedlich zu dem waren, was mir beigebracht worden war, so komplex oder so einfach sein könnten, wie Erinnerungen der Rasse oder Erinnerungen eines Individuums, das ich an anderen Plätzen und zu anderen Zeiten hätte sein können. Im Gegenteil, ich argwöhnte, obwohl ich nicht sicher sein konnte, dass sie das Erbe meines Geschlechts waren, aber dazu zu sagen war auch, wenn ich an einem anderen Platz oder in einer anderen Zeit leben würde, könnte ich vielleicht Erfüllung in meiner Weiblichkeit finden, die mir in meiner gegenwärtigen Welt versagt blieb, dieser neurotischen, anonymen Welt, die Individualität und Liebe feindlich gegenübersteht, in der ich eine Gefangene der Zeit und der Umstände war.
Ich sah in den Spiegel und lächelte.
›Vielleicht warst du einmal ein irisches Mädchen‹, dachte ich, ›gefesselt zwischen die Bänke eines Wikingerschiffs, unterwegs nach Island, oder auch eine blasse, affektierte englische Lady, die 1802 in die Berberei verschleppt wurde und lernen musste, schwarzen Herren in hilfloser Ekstase zu dienen, aber vielleicht warst du auch nichts dergleichen. Das war sie und nicht wirklich du. Aber wer bist du? Gibt es irgendwo ein Schiff, das dich abholen wird? Sind die Ketten für dich schon geschmiedet? Ist irgendwo ein Eisen, das darauf wartet, glühend gemacht zu werden und deinen Körper zu zeichnen? Gibt es irgendwo einen Kragen, du kennst ihn jetzt noch nicht, wirst ihn aber gut kennen lernen, weil er deinen Hals umschließen wird? Ich würde es gern wissen. Du bist schön. Ich denke nicht, dass Männer geduldig mit dir wären. Sie würden eine hervorragende Dienerin erwarten, ohne Zögern oder Kompromisse. Du bist so schön. Freue dich, Doreen, dass es Männer wie die in deinen Träumen nicht gibt, wegen ihrer Macht und weil du in ihren Armen vergewaltigt, gedemütigt und unbeschreiblich schwach werden würdest. Ich lache höhnisch, weil du nicht wissen kannst, wie hilflos du ihnen gegenüber sein würdest, sie würden mit dir machen, was sie wollen. Was würde aus dir werden? Wie anmaßend du bist! Glaubst du, ich kenne dich nicht und weiß nicht, wer du bist und was du bist? Vielleicht kannst du das vor der Welt verbergen, aber nicht vor mir! Ich kenne dich und das, was du bist! Gib es zu oder du wirst geschlagen! Was wirst du werden? Was du werden wirst, erwiderte ich scharf, du weißt es schon in deinem Herzen, und weißt es sehr gut, du kleine, liebliche Heuchlerin, die du schon bist!‹
Das Mädchen im Spiegel sah erschreckt aus, dann machte sie einen Schmollmund und wirkte ärgerlich.
»Ist das etwa nicht wahr?«, forderte ich sie heraus.
»Ja«, schluchzte sie, »es ist wahr!«
»Hast du nicht viel zuviel an?« fragte ich.
Sie zog das winzige Stück Seide aus. Ich beobachtete sie im Spiegel.
»Du kannst jetzt tanzen.« sagte ich zu ihr.
Sie sah mich trotzig an.
»Du willst tanzen«, sagte ich zu ihr, »also tanze.«
Erschreckt sah ich dann sie, mich, im Spiegel.
»Wer bist du?«, fragte ich. »Wer brachte dir bei, dich so zu bewegen? Woher kamst du? Kannst du wirklich Doreen sein? Du bist nicht die Doreen, die ich bis jetzt kannte. Bist du ich? Sind wir die Gleiche? Bestimmt kann das nicht ich sein! Niemand zeigte mir solch einen Tanz! Hat solch ein Tanz die ganze Zeit in dir geschlummert? Können wir dieselbe sein? Das kann nicht sein! Ich muss damit aufhören! Du bist die Doreen, die ich verstecken muss, die Doreen, der ich um keinen Preis erlauben kann, gesehen oder auch nur erahnt zu werden! Du bist die Doreen, die ich verleugnen muss. Die ich verstecken muss! Und doch bist du mein wahres Ich. Ich weiß das! Also muss ich mein wahres Ich verleugnen und verstecken!«
Ich sah sie an.
»Du Hure!« beschimpfte ich sie. »Du schamlose Hure! Du wertlose, schamlose kleine Hure!«
Ich sah sie an. Wie schamlos, wie wertlos, wie schrecklich sie war, dieses Mädchen im Spiegel, diese sich windende, erstaunliche, unkontrollierbar sinnliche kleine Hure!
Sie tanzte weiter. Ich sah, dass sie wirklich wertlos war, wertloser als der Schmutz unter den Füßen der Götter, aber in ihrer Schönheit und Weiblichkeit und in ihrem Tanz besaß sie unglaubliche Reichtümer und Macht. In der Hinsicht, in der eine freie Person unbezahlbar war, war sie wertlos, aber sie hatte auf ihre Art Wert, wie ein paar Stiefel oder wie ein Hund. Sie war eine Person mit einem begrenzten, messbaren Wert. Sie war die Art Frau, für die ein fairer Preis gezahlt werden könnte.
Ich brach nackt auf dem Teppich zusammen. Ich fühlte seine groben Fasern an meinen Schenkeln. Ich schlang meine Arme um mich. Ich zog meine Beine an. Mir graute. Ich weinte. Ich verstand nicht, was ich getan und gesehen hatte. Das Mädchen im Spiegel war gegangen. Wir waren jetzt eins. Ich zitterte. Ich glaube, ich lag dort über eine Stunde, in den flackernden Schatten, nackt auf dem Teppich. Ich lauschte auf die Geräusche, die von außen hereindrangen, vor allem den Verkehrslärm. Irgendwann war die Kerze heruntergebrannt.