37.

Am Strand lag eine Frau, ganz allein. Sie war blond, nackt. Entweder schlief sie, oder sie stand in Verbindung. Außer ihren Fußspuren sah er keine Zeichen von der Anwesenheit irgendeines Wesens. Corson setzte sich und wartete. Er hatte viel Zeit.

Er ruhte sich aus. Er hatte das Ende seines Weges erreicht.

Er konnte es sich nun leisten, auf das Meer zu blicken und den Sand zwischen seinen Fingern hindurch rieseln zu lassen. Später würde auch er lernen, die Zeit zu beherrschen. Immerhin hatte er schon ganz beträchtliche Erfahrungen gesammelt.

Die Frau erhob sich. Sie streckte sich, drehte sich um und rieb sich die Augen. Corson erkannte sie sofort.

»Floria Van Nelle«, rief er.

»Wo sind die anderen?« fragte er. Als sie ihn nicht zu verstehen schien, fuhr er fort: »Cid, Selma und Ana! Ich muß doch dem Rat von Uria Bericht erstatten.«

»Es gab eine leichte Zeitschwankung«, sagte Floria sanft. »Es ist Ihnen zu verdanken, daß es nicht schlimmer war. Aber auf dieser Zeitlinie existieren sie nicht.«

»Sie sind tot?«

»Sie haben nie existiert.«

»Ich habe mich verirrt«, sagte Corson. »Ich bin in der falschen Zeit, am falschen Ort und vielleicht sogar im falschen Universum.«

»Sie haben sie ausgelöscht. Sie lebten in einer Geschichte, die durch Ihr Dazwischentreten ausgetilgt wurde.«

Corson fühlte, wie er erblaßte. Er ballte die Fäuste. »Sie waren meine Freunde, und ich habe sie getötet.«

Floria schüttelte den Kopf. »Nein, sie gehörten zu einer anderen Variante, und Sie haben eine bessere hervorgebracht. Sie wußten, was mit ihnen geschehen würde, wenn Sie erfolgreich waren. Sie hofften trotzdem auf Ihren Erfolg.«

Corson seufzte. Er hatte Freunde gehabt, und nun waren sie verschwunden. Sie hatten keine Spur hinterlassen in diesem Universum, das für sie für immer verschlossen war. Sie waren nicht geboren worden. Sie waren nichts als eine Erinnerung in Corsons Gedächtnis, abstrakte Eintragungen im Geisterbericht von Aergistal.

Was ich berühre, vernichte ich. Ich bin der Vollstrecker der Götter.

Er dachte an Touray, der zweifellos wieder in die Schlachten auf Aergistal zurückgestoßen worden war. Er dachte an Ngal R’nda, der von seinen eigenen Leuten in Stücke gehackt wurde, und an Veran, der ein ähnliches Schicksal hatte. Mit Schrecken dachte er an Antonella. Er wollte eine Frage stellen, aber es verschlug ihm die Sprache.

»Wäre die andere Variante eingetreten, würde ich nicht existieren«, sagte Floria. »Ich war dazu ausersehen, Sie auf Uria zu begrüßen. Glauben Sie, ich bin zufällig da? Ich existiere dank Ihrer Hilfe. Sagen Sie nicht, daß es Ihnen leid tut.«

Corson entgegnete bitter: »Wir sind also nur kleine Wellen auf der Oberfläche der Wirklichkeit. Wir kommen und gehen im Wind, den die Laune der Götter wehen läßt. Ich war ein Spielzeug für die Herren von Aergistal, die Puppenspieler, die die Geschichte beherrschen.«

»Es gibt keine Götter, selbst wenn die Herren von Aergistal etwas mehr sind als wir. Sie handeln nicht aus purer Laune.«

»Ich weiß«, krächzte Corson. »Sie tun ihr Bestes. Sie wollen den Krieg ausrotten. Sie korrigieren die Geschichte, damit sie angenehm schlafen können. All das habe ich auf Aergistal gehört. Sie wollen den Krieg ausrotten, verstehen und konservieren … Sie hocken wie Ratten am Ende der Zeit und fürchten die Außenseite des Universums.«

»Das ist nur die halbe Wahrheit«, sagte Floria geduldig. »Sie sind wir selbst.«

»Sie sind unsere Nachkommen. Sie machen sich den Vorteil ihrer Lage zunutze, um uns zu verspotten.«

»Sie sind wir selbst, Corson«, wiederholte Floria. »Wir sind die Herren von Aergistal. Aber wir wissen es nicht. Wir müssen diese Wahrheit verstehen lernen. Sie sind die Summe dessen, was möglich ist, für sie, für uns, für alle anderen, selbst für Rassen, von denen Sie nicht einmal träumen. Sie sind die gesamten Erscheinungen des Universums. Wir sind nicht die Vorfahren von Göttern und sie nicht unsere Nachkommen, aber wir sind ein Teil von ihnen, ein Teil ihrer Vollendung. Jeder von uns ist ein Teil ihrer Möglichkeiten. Wir streben durch das Labyrinth der Zeit, um uns mit ihnen zu vereinen. Noch kämpfen wir im Dunkeln, um unsere geteilte Existenz zu begreifen. Etwas hat sich irgendwo in Raum und Zeit zugetragen, was ich noch nicht verstehe, obwohl ich weiß, daß es weder der Beginn noch das Ende der Zeit war. Es gibt keinen Anfang und kein Ende. Für sie und auch schon ein wenig für uns ist Zeit nur eine Dimension, in der Ereignisse zusammen existieren, als hätte man sie nebeneinandergelegt. Wir stehen an einem bestimmten Punkt auf dem langen Weg der nach Aergistal führt, zur Union aller möglichen Bewußtseine. Die Herren von Aergistal sind alle die, die diesen Weg schon vor uns gegangen sind.«

»Schizophrene Götter!« brummte Corson.

»Ja, wenn Ihnen das hilft, sie zu verstehen. Manchmal glaube ich auch, daß sie mit den Möglichkeiten spielen. Sie haben sich dabei oft verirrt und wurden wir. Das ist der Grund, warum die Geschichte oft so wirr verläuft. Dies hindert sie trotz ihrer Macht daran, das Universum sofort und völlig in Ordnung zu bringen. Denn was sie sind, sind wir auch. Und wir müssen nun den langen Weg zurückfinden, der zu ihnen führt, das heißt zu uns. Ab und zu versuchen sie, einen Fehler zu verbessern oder einen Knoten zu entwirren. Wir tun es manchmal mit ihrer Hilfe. Sie haben es auch getan. Bedauern Sie das?«

»Nein«, antwortete Corson.

»Um den Krieg auszurotten«, fuhr Floria fort, »benutzen die Herren von Aergistal jene, die ihn geführt haben. Sie wissen, was das bedeutet. Oft hassen sie es, den Krieg zu vertilgen, aber sie tun es ohne Rücksicht darauf, was sie dafür einsetzen müssen. Alle, die das nicht begreifen, müssen eine bestimmte Zeit auf Aergistal verbringen. Irgendwann begreifen sie es alle.«

»Selbst ein Mensch wie Veran?« fragte Corson zweifelnd.

»Selbst ein Mensch wie Veran. Gerade jetzt ist er dabei, in der Lyra-Region einen beginnenden Krieg zu verhindern.«

»Aber er ist doch tot.« sagte Veran verblüfft.

»Niemand stirbt«, entgegnete Floria. »Das Leben ist wie die Seite eines Buches. Es ist immer eine andere Seite daneben. Sie folgt nicht, sondern sie ist daneben!«

Corson erhob sich und ging zum Meer.

»Das ist eine tolle Geschichte. Wer sagt mir, daß sie wahr ist?«

»Niemand. Sie werden es allmählich selbst herausfinden. Vielleicht kommen Sie sogar zu einem Ergebnis, das von meiner Vorstellung etwas abweicht. Niemand besitzt allein die gültige Wahrheit.«

Ohne sich umzusehen, sagte Corson heftig: »Ich kam zurück, um zu lernen, die Zeit zu beherrschen und wie man mit den Herren von Aergistal Verbindung aufnimmt. Und …«

»Das werden Sie lernen. Sie werden alles lernen, wozu Sie fähig sind. Wir brauchen Leute wie Sie. Es gibt so viele Kriege.«

»Aber ich hatte gehofft, endlich Frieden zu finden!« rief Corson. »Außerdem kam ich zurück wegen Antonella.«

Floria kam näher und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Ich bitte Sie …«, wollte sie beginnen, aber Corson schnitt ihr das Wort ab.

»Ich liebe sie! Oder vielmehr liebte ich sie damals. Sie ist auch verschwunden, nicht wahr?«

»Sie hat nie existiert! Sie war tot. Wir haben sie aus dem Mausoleum geholt und sie mit einer künstlichen Identität ausgestattet, so wie Sie es mit Ihren Rekruten getan haben. Es war wichtig, Corson. Ohne sie hätten Sie nicht so gut mit uns zusammengearbeitet. Denn ein wirklich menschliches Wesen hätte nie nach Aergistal gelangen können.«

»Mit Ausnahme der Kriegsverbrecher«, meinte Corson bitter.

»Sie war nur eine Maschine.«

»Sie meinen, sie war ein Lockvogel.«

»Es tut mir wirklich außerordentlich leid. Ich werde alles tun, was Sie wünschen, um das wiedergutzumachen. Ich werde Sie lieben, Corson, wenn Sie das wünschen.«

»So einfach ist das nicht«, murmelte er. Er dachte an das, was Cid ihm gesagt hatte. Er konnte ihnen nicht übelnehmen, was sie getan hatten. Cid war ausgelöscht worden. Er wußte, was ihm bevorstand, und hatte doch Corson bedauert …

»Niemand stirbt«, sagte Corson. »Vielleicht finde ich Antonella in einem anderen Leben.«

»Vielleicht«, seufzte Floria.

Corson trat ins Wasser. »So ist mir also nichts geblieben, weder Freundschaft noch Liebe. Meine Welt verschwand vor sechstausend Jahren. Man hat mich betrogen.«

»Sie können sich frei entscheiden. Sie können alles wieder rückgängig machen. Sie können von vorne beginnen. Aber denken Sie daran! Sie waren an Bord der Archimedes am Sterben.«

»Ich kann mich frei entscheiden?« wiederholte Corson ungläubig.

Er hörte, wie sie zurückging. Als er sich umdrehte, sah er, daß sie etwas aus dem Sand grub. Als sie zurückkam, hielt sie eine schimmernde Ampulle in der Hand, etwa von der Größe eines Taubeneis.

»Sie müssen noch etwas tun, wenn Sie einer der Unsrigen werden wollen. Wilde Pegasone verstehen nichts vom Zeitreisen. Diese Ampulle enthält aber ein Mittel, das ihre unterentwickelten Möglichkeiten millionenfach verstärkt. Sie müssen es im rechten Moment gebrauchen. Die Dosis wurde sorgfältig berechnet. Ihre Anwendung in der Vergangenheit wird für Sie keine besonderen Zeitschwankungen bewirken. Was den Zeitpunkt Ihres Erscheinens in der Vergangenheit betrifft, so ist ein Irrtum fast ausgeschlossen, wir haben das alles mit einkalkuliert. Nun müssen Sie entscheiden, Corson.«

Er hörte ihr zu und begriff. Es gab noch etwas zu tun. Er mußte den Schlußstein setzen. Er mußte seine Hand nach sich selbst ausstrecken, über eine Zeit von sechstausend Jahren.

»Danke«, sagte er nur. »Ich weiß noch nicht, was ich tun werde.«

Er nahm die Ampulle und bestieg sein Pegason.

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