31.

Sie mußten den Vorraum zu dem eiförmigen Saal nackt betreten. Dort wurden Sie einer rituellen Reinigung unterzogen und dann mit gelben Togen bekleidet. Corson war sicher, daß Veran die Vorstellung des Eies benutzen würde, um etwas zu unternehmen, aber er konnte sich nicht vorstellen, was. Er war fast sicher, das Veran keine Waffe trug. Die Urianer kannten die menschliche Anatomie gut genug, um alle natürlichen Verstecke am Körper zu finden. Hätte Veran Gewalt anwenden wollen, hätte er sicher mit seinen Männer und den Pegasonen angegriffen. Nein, er mußte etwas anderes im Sinn haben.

Verwirrt schritt Corson zum zweiten Mal durch die Reihen der Edlen, und Veran folgte ihm. Er schaute sich prüfend den Metallblock an, dann wurde das Licht schwächer. Ngal R’nda trat ein. Er schien noch hochmütiger als sonst. Es war ihm gelungen, diese zwei menschlichen Söldner vor seinen Karren zu spannen. Seine gelben Augen sahen sicher schon im Geiste die blauen Banner über den Trümmern der Städte wehen. Er träumte von einem Kreuzzug gegen die Menschheit.

Etwas mußte mit dem Ei geschehen. Plötzlich wurde Corson klar, was Veran vorhatte. Er erschrak. Ein seltsames Gefühl von Mitleid mit diesem letzten Prinzen von Uria überkam ihn, aber auch Verans Kühnheit mußte er gleichzeitig bewundern. Gespannt verfolgte er die Zeremonie. Er hörte, wie Ngal R’nda die seltsamen Töne ausstieß, die von der Menge wiederholt wurden. Er sah, wie sich der Metallblock öffnete und das Ei erschien. Die Urianer reckten ihre dünnen Hälse, obwohl sie doch die ganze Zeremonie schon oft gesehen hatten.

Der letzte Prinz von Uria öffnete den Schnabel, aber bevor er krächzen konnte, gab es einen Tumult. Veran hatte die urianischen Edlen, die neben ihm standen, zur Seite gestoßen und war zu Ngal R’nda gesprungen. Er packte den Alten am Hals und zeigte auf das Ei. Dann schrie er: »Betrüger! Piiekivo! Piiekivo! Piiekivo!«

Corson brauchte kein Wörterbuch, um zu verstehen.

»Das Ei ist angemalt«, schrie Veran. »Dieser Halunke hat euch hereingelegt! Ich werde es beweisen!«

Die Urianer waren sprachlos und rührten sich nicht. Das war ein glücklicher Umstand für Veran, dachte Corson. Aber dieser hatte sicher damit gerechnet, daß auch die edlen Urianer keine Waffen in diesen Raum mitnehmen durften. Er hatte nun genug Zeit, mit seiner Hand an dem Ei zu reiben. An der Stelle, wo er gerieben hatte, wurde das Ei elfenbeinfarbig.

Das war ein teuflischer Trick, dachte Corson. Er keuchte und glaubte sein Ende sei gekommen, obwohl ihm die Urianer keinerlei Beachtung schenkten.

Aber das Ei war nicht einfach mit Farbe angemalt. Man brauchte doch eine Chemikalie, um die Farbe zu neutralisieren, mit der es Veran vor zweihundertfünfzig Jahren — oder war es letzte Woche? — besprüht hatte. Er konnte doch nichts mit in den Saal genommen haben. Und falls er sich vorher eine Chemikalie auf die Hand geschmiert hatte, so wäre sie während der rituellen Waschung abgegangen. Der Trick war fast unglaublich.

Und dann verstand er plötzlich. Obwohl er dreimal gewaschen worden war, hatte Veran eine sehr wirksame Substanz mit in den Saal gebracht, die gleichzeitig basisch und sauer war.

Seinen eigenen Schweiß.

An dem Ei ging die Reaktion weiter. Es verlor nach und nach seine Farbe gänzlich.

Aus der Menge ertönten schrille Schreie. Klauen gruben sich in Corsons Schulter. Er wehrte sich nicht. Veran ließ Ngal R’nda los, der nun den Schnabel öffnete, um Atem zu schöpfen. Urianer in violetten Togen ergriffen Veran, aber dieser schrie: »Ich habe es bewiesen, das Ei ist nicht blau! Er ist ein Betrüger!«

»Er lügt!« schrie Ngal R’nda zurück. »Er hat das Ei mit Farbe besprüht! Bringt ihn um!«

»Brecht das Ei entzwei!« schrie Veran. »Wenn ich lüge, muß die Innenseite blau sein! Brecht das Ei entzwei!«

Ngal R’nda wurde von Urianern umkreist. Sie zeigten noch Ehrfurcht, wirkten aber irgendwie drohend. Ngal R’nda stieß piepsende Laute aus, die Corson nicht verstand, aber der Sinn war klar.

»Soll ich das Ei zerbrechen?«

Stille. Dann hörte man Laute kurz und gnadenlos. Ngal R’nda neigte den Kopf.

»So sei es. Ich werde die Schale zerbrechen, was eigentlich erst nach meinem Tode geschehen sollte, damit sie mit meiner Asche vermischt werden kann. Ich, der letzte Prinz von Uria, bin der einzige in der Reihe meiner Ahnen, der das Blaue Ei zweimal zerbricht!«

Er ergriff das Ei, hob es hoch und schmetterte es gegen den unteren Rand des Metallblocks. Bruchstücke fielen auf den Boden. Ngal R’nda ergriff ein Stück und hielt es dicht vor seine altersschwachen Augen. Dann prallte er zurück und fiel in Ohnmacht.

Einige der Edlen sprangen vor und ergriffen ein Stück von Ngal R’ndas Toga. Der Stoff hielt, und nun schleiften sie den Alten über den Boden. Ein Aufruhr brach los. Corson fühlte sich losgelassen. Endlich hatten alle Urianer Ngal R’nda erreicht. Verrückt vor Wut, pickten sie den letzten Prinzen von Uria zu Tode.

Jemand berührte Corsons Arm. Es war Veran.

»Kommen Sie, wir gehen, bevor diese Vögel zum Nachdenken kommen und meinen Trick durchschauen.«

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