23.

Er lag in der Dunkelheit zwischen sechs Wänden, die ihm kaum Bewegungsfreiheit ließen. Er lag auf dem Rücken. Sein Gewicht war normal plus oder minus zehn Prozent. Er fürchtete sich nicht mehr. Er drückte vergeblich gegen den Deckel seines Kastens. Dann kratzte etwas oder jemand an dem Metall, und plötzlich schien helles Licht herein. Einen Augenblick später öffnete sich der Deckel ganz, und Corson, geblendet vom Licht, versuchte sich zu erheben.

Die Luft roch nach Chlor. Er war in die Klauen der Urianer gefallen! Als seine Augen sich an das Licht gewöhnt hatten, erkannte er drei Gestalten, die sich über ihn beugten. Sie waren entfernt menschenähnlich, hatten aber hornige Schnäbel, sehr kleine Köpfe mit einem Hahnenkamm, lange, dünne Hälse, schrumpelige Arme und untersetzte Körper mit einem weit vorstehenden Brustbein.

Er war also durch das ganze Universum gezogen, um nun als Versuchskaninchen unter den Skalpellen der Urianer zu enden.

Er erwartete seinen Tod.

»Fürchten Sie sich nicht, Mensch Corson«, sagte einer der Urianer in krächzendem Ton.

Steifbeinig erhob sich Corson und schaute sich um. Er befand sich in einem riesigen Saal, der mit seidenen Wandteppichen behangen war. Fenster oder ein Ausgang waren nicht zu sehen.

Ein in prächtigen Kleider gehüllter Urianer, der älter als die anderen zu sein schien, hockte auf einer Art Thron, der Corson an eine Hühnerleiter erinnerte. Urianer hatten sich ähnlich wie irdische Vögel entwickelt. Dies war zumindest die offizielle Version, die bei den Menschen bekannt war. Ihre Großhirnrinde war relativ unterentwickelt, dagegen war das Kleinhirn sehr groß. Unter den Menschen kursierten viele Witze über das »Vogelhirn« der Urianer. Aber Corson hatte anders darüber gedacht. Er wußte, daß Vögel, selbst eine einfache Krähe, eine beträchtliche Intelligenz besaßen. Außerdem kannte er die geistige Schärfe der Prinzen von Uria nur zu gut.

Ein großer Teil des menschlichen Gehirns ist für die Sinnesorgane bestimmt, dagegen nur ein relativ kleiner Teil zum abstrakten Denken. Nach menschlichen Maßstäben waren die Sinnesorgane der Urianer nur schwach entwickelt. Obwohl sie besser sahen, konnten sie kaum Farben unterscheiden. Ihr Gehör war so schlecht, daß sie niemals eine Art von Musik besessen hatten. Auch der Tastsinn der Urianer war schwach, was aber auch zum Teil auf die Struktur der Greiforgane zurückzuführen war. Sie hatten Klauen statt Hände, und ihr Körper hatte statt einer Haut verkümmerte Federn. Aber sie besaßen die bemerkenswerte Gabe, sehr gut abstrakt denken und philosophische Probleme lösen zu können.

»Also haben sie uns einen Menschen geschickt«, sagte der alte Urianer mit offensichtlichem Argwohn.

Corson trat vorsichtig einen Schritt vor.

»Bevor Sie etwas Übereiltes tun«, fuhr der Urianer fort, »möchte ich Ihnen einige Tatsachen mitteilen. Nicht, daß wir von Ihnen etwas zu befürchten hätten …« Er zeigte auf die drei Urianer, und Corson sah, daß sie Waffen auf ihn gerichtet hatten. »Aber wir haben eine Menge für Sie bezahlt, und es täte mir leid, wenn Ihnen etwas zustoßen würde.«

Er erhob sich und trank aus einem Krug eine milchige Flüssigkeit. Corson wußte, um was es sich handeln mußte: Eine Lösung, die dem Bleichmittel verwandt war, das in menschlichen Haushalten benutzt wurde. Die Vorliebe der Urianer für Ammoniak hatte zu seiner Zeit ebenfalls zu vielen Spötteleien geführt.

»Sie sind ein Kriegsverbrecher. Sie können diese Welt nicht verlassen, ohne eine Strafe zu riskieren. Wenn Sie frei wären, würden Sie bald merken, daß Ihre Entscheidungsfreiheit auf dieser Welt sehr eingeschränkt ist. Sie sind also gezwungen, mit uns zu arbeiten und uns sogar zu vertrauen. Sie haben keine Wahl.«

Er putzte sich eine Zeitlang seinen Flaum und gab so Corson die Möglichkeit, das Gesagte zu überdenken. Dann fuhr er fort: »Wir benötigen einen Spezialisten, der in der Kriegskunst Erfahrung hat. Wir haben Sie, ich habe es bereits erwähnt, zu einem hohen Preis erworben. Wer der Vermittler war, brauchen Sie nicht zu wissen.«

Er näherte sich Corson mit dem wackligen Gang, der die Urianer riesigen Hühnern so ähnlich machte.

»Ich bin Ngal R’nda. Merken Sie sich diesen Namen, Mensch Corson. Ich möchte nicht, daß meine Pläne fehlschlagen. Sie sind der einzige Mensch, der mich in dieser Kleidung je gesehen hat. Merken Sie sich: Ich bin ein friedlicher alter Mann, der sich mit Kunst, Philosophie und ab und zu mit Geschichte befaßt. Was den Urianer betrifft, der jetzt vor Ihnen steht«, er machte eine weitausholende Bewegung, »so sehen Sie in mir den wahren Ngal R’nda, den einzigen Nachkommen einer langen Reihe der Prinzen von Uria. Ich bin aus dem Blauen Ei geschlüpft. Sie können sich nicht vorstellen, Mensch Corson, was in alten Zeiten die Schale eines Blauen Eies bedeutete … oder was es heute noch für eine Klaue voll Getreuer bedeutet. Vor mehr als sechstausend Jahren herrschten die Prinzen aus dem Blauen Ei über Uria. Und dann kamen Menschen und brachten ganze Schiffsladungen voller Lügen zu uns. Bald gab es Krieg. Ein langer und fürchterlicher Krieg, in dem die Menschen oft genug fast schon unter dem Schnabel von Uria lagen. Aber niemand siegte. Nur die Prinzen von Uria haben verloren. Das Gemetzel und die Erschöpfung führten zu einem schlechten Frieden. Menschen und Urianer gewährten sich gegenseitig Freiheiten auf den eigenen Planeten. Aber es stellte sich bald heraus, daß die Urianer nicht auf den Planeten der Menschen leben konnten, ohne unterzugehen. Darum gaben sie ihre sogenannten Freiheiten wieder auf. Dagegen gediehen die Menschen auf Uria, und bald wurden aus den Gästen die Herren. Ihre Nachkommenschaft übertraf die unsere bei weitem. Sie wandten ihren rohen Geist mit unglaublicher Verbissenheit an und befaßten sich mit Problemen, die unter der Würde der Prinzen von Uria lagen, die mit Meditation beschäftigt waren. So verloren sie einen Krieg, den die Menschen nicht gewonnen hatten. Uria war nie besiegt worden. Oh, dieser Verrat, oh, dieser faule Frieden!

Aber es kam noch schlimmer. Vom Krieg und dem verderblichen Kontakt mit den Menschen geschlagen, wandten sich die Urianer von der Tradition des Blauen Eies ab. Falsche, gleichmacherische Sagen wurden verbreitet. Die Urianer verloren ihren Stolz, vegetierten dahin und gaben ihre Welt Zoll um Zoll den Menschen, ohne um ihren Besitz zu kämpfen.

Aus Tagen wurden Jahrhunderte, dann Jahrtausende. Aber die reinste Flaumfeder von Uria — ich nenne sie die schönste Blume, damit Sie es verstehen — hat nichts vergessen. Vielleicht ist die Zeit gekommen, das Joch abzuschütteln. Ich habe vernommen, daß das galaktische Sicherheitsbüro in Schwierigkeiten ist und daher ein oder zwei Jahrhunderte keine Aufsicht mehr ausüben kann. Das ist mehr Zeit, als wir brauchen, um eine Flotte zu schaffen. Dann werden wir auf der Straße der Eroberung wandern. Aber vorher müssen wir unsere eigene Welt wieder von Menschen reinigen.«

Er schaute Corson an, und dieser blickte unbeweglich in diese Augen mit den doppelten Lidern und der senkrechten Iris.

»Und darum sind Sie hier. Wir haben das Kriegshandwerk vergessen. Nicht die Theorie, denn wir denken ständig über alle möglichen Probleme nach, aber die harte Praxis. Wir besitzen mächtige Waffen, die umsichtige Prinzen vor über sechstausend Jahren in den Tiefen des Planeten versteckt haben. Aber wir brauchen ein listiges, stures Tier wie Sie, das uns sagt, wann und wie wir zuschlagen sollen. Ich unterschätze die Menschen nicht. Ich verachte sie nur, und das ist etwas anderes.

Ich habe viel darüber nachgedacht und bin immer nur zu einem Ergebnis gekommen: Gegen Menschen gibt es nur eine Waffe, den Menschen selbst.

Dagegen können Sie nichts einwenden. Wir haben die gleichen Interessen. Sie wurden von Ihrem eigenen Volk gerichtet, verurteilt und weggejagt. Bei den Menschen sind Sie nicht mehr sicher. Wenn Sie aber in die Dienste des ehrwürdigen Blauen Eies treten, werden Sie frei sein, so frei wie die Urianer. Sie werden über menschliche Sklaven herrschen. Wenn Sie sich aber gegen uns entscheiden, Mensch Corson, werden Sie der Verlierer sein. Wir kennen verbotene Wissenschaften und haben die Versuche, die wir vor sechstausend Jahren gemacht haben, nicht vergessen. Ich fürchte, Sie wären nicht mehr Sie selbst, wenn wir Sie behandeln würden.

Sie sind auch nicht der einzige, der uns zur Verfügung steht, Mensch Corson. Es gibt zur Zeit eine Menge Krieger. Auf vielen Welten will man das Sicherheitsbüro abschaffen. Dort kauft man sich Söldner zu einem guten Preis. Ich hoffe, Mensch Corson, daß wir in Ihnen keinen Fehlgriff getan haben, in unserem und in Ihrem eigenen Interesse. Für Sie gibt es nur eine Möglichkeit: Sie müssen für uns siegen!«

»Ich verstehe«, sagte Corson.

Die Urianer standen in dem Ruf, sehr geschwätzig zu sein. Dieser Urianer bildete keine Ausnahme. Er hatte aber nicht über das Gesprochen, was Corson am meisten interessierte: das Datum. Lag sein jetziger Besuch vor oder nach seinem ersten Eintreffen auf Uria? Drohten noch Gefahren von dem Monster oder dem eroberungssüchtigen Veran? Konnte er eine Katastrophe zwar hinauszögern, aber nicht vermeiden?

Und dieser Name, Ngal R’nda. Floria Van Nelle hatte gesagt: »Ngal R’nda ist einer meiner besten Freunde.« Damals hatte er dieser Aussage keine Bedeutung beigemessen. Es war seltsam, daß er sich jetzt so genau daran erinnerte.

Es wurde ihm klar, daß es sinnlos war, nach dem Datum zu fragen. Er wußte nicht einmal, wann er nach dem urianischen Kalender zum ersten Mal nach Uria gekommen war. Aber er hatte doch einen Anhaltspunkt.

»Ist kürzlich über ein wildes Monster berichtet worden?«

»Sie stellen seltsame Fragen. Mensch Corson. Aber ich kann Ihnen diese Frage ruhig beantworten. Auf Uria wurde seit Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden kein Monster gesehen.«

Dann gibt es also zwei Möglichkeiten. Entweder geschieht dies alles, bevor ich zum ersten Mal auf Uria landete, oder kurz danach. Dann sitzt das Monster noch irgendwo im Dschungel und brütet seine achtzehntausend Nachkommen aus. In diesem Fall betrug die Zeitspanne, innerhalb der er erneut angekommen war, weniger als sechs Monate.

»Sehr gut«, meinte Corson. »Sie haben mich überzeugt. Ich werde auf Ihrer Seite stehen. Das heißt, falls Sie eine Armee haben.«

»Eine Armee ist ein schlechtes Mittel, um einen Krieg zu führen.«

»Welche Mittel haben Sie dann?«

»Erpressung, Mord, Propaganda.«

»Das ist wirklich klug ausgedacht!« sagte Corson ironisch. »Trotzdem brauchen Sie eine Armee.«

»Wir haben Waffen, die nicht von Soldaten bedient werden müssen«, meinte der Urianer. »Ich kann von hier aus alles vernichten, was sich auf dem Planeten befindet, egal ob es sich um eine Stadt oder einen winzigen Zweig handelt. Ich kann auch jeden Menschen töten, wo er auch sei … Sie mit eingeschlossen.«

»Wozu brauchen Sie mich dann?«

»Sie müssen uns sagen, welche Ziele wir angreifen sollen und in welcher Zahl und Reihenfolge. Wir werden Ihre Vorschläge sorgfältig prüfen, bevor wir angreifen. Sie werden auch mit den Menschen verhandeln. Sie werden gehaßt werden und dadurch nicht in Versuchung kommen, uns zu betrügen.«

»Welche Bedingungen stellen Sie den Menschen?«

»Zunächst werden neun von zehn Frauen getötet. Man muß die Geburtenrate der Menschen senken und unter Kontrolle halten. Männer zu töten, wäre sinnlos, denn ein Mann könnte viele Frauen befruchten. Dagegen sind die Frauen das schwächste Glied Ihrer Rasse.«

»Damit werden die Menschen nicht einverstanden sein«, sagte Corson. »Sie werden sich wie die Teufel dagegen wehren. Menschen können furchtbar werden, wenn man sie zu sehr reizt.«

»Sie werden keine andere Wahl haben«, entgegnete der Urianer. »Entweder sie sind einverstanden, oder sie werden völlig ausgerottet.«

Corson runzelte die Stirn.

»Ich bin müde und hungrig«, sagte er dann. »Wollen Sie sofort mit dem Krieg beginnen, oder kann ich vorher noch etwas ausruhen und mich erfrischen … und ein wenig nachdenken?«

»Oh, wir haben Zeit«, sagte der Urianer.

Er gab den Wachen ein Zeichen. Diese senkten die Waffen und nahmen Corson in ihre Mitte.

»Bringt ihn weg«, befahl der alte Urianer. »Behandelt ihn gut. Er ist für uns sehr wertvoll.«

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