15.

Antonella holte tief Luft und fragte: »Uria?«

»Nein«, gab Corson zur Antwort. »Dieser Planet ist von seiner Sonne viel weiter entfernt. Auch der Sternhimmel ist anders. Wir sind nicht nur durch die Zeit, sondern auch durch den Raum gesprungen.«

Das Pegason schwebte zu Boden. Es zögerte keinen Moment, so als ob es den Weg schon kenne. Bald waren sie in den Wolken und durchquerten einen Regenschauer.

Als der Regen aufhörte, hatten sie den Wolkengürtel über sich und sahen nun eine Ebene, bedeckt mit gemähtem Gras, die sich erstreckte, so weit sie sehen konnten. Sie wurde von einer Straße durchschnitten. Sie begann jenseits des Horizonts und führte zu einem riesigen Gebäude. Es bestand aus Steinen oder einem anderen festen Material, und seine Spitze verschwand in den Wolken. Fenster waren keine zu sehen. Corson schätzte, daß der nächstgelegene Teil breiter als ein Kilometer war. Das Gebäude war kahl, glatt und grau.

Das Pegason landete. Corson band sich los, ging um das Tier herum und half Antonella beim Herabsteigen. Offensichtlich zufrieden, begann das Pegason zu grasen und geräuschvoll zu schlucken.

Das Gras war wie ein gepflegter Rasen. Die Ebene war so flach, daß es für Corson außer Zweifel stand, sie sei künstlich angelegt worden. Die Straße bestand aus einer glänzenden, blauen Substanz. In der Entfernung von etwa einem Kilometer ragte das Gebäude in schwindelnder Höhen empor.

»Hast du diesen Ort schon einmal gesehen?« fragte er.

Antonella schüttelte den Kopf.

»Nun denn, was wird jetzt geschehen?«

»Wir gehen zu dem Gebäude, wir werden es betreten. Bis dahin werden wir niemandem begegnen. Was danach geschieht, kann ich nicht voraussagen.«

»Siehst du keine Gefahr?«

»Keine, soweit ich es sagen kann.«

Er schaute sie an. »Antonella, was denkst du von dieser Situation?«

»Ich denke wie du. Das ist im Augenblick alles.«

Die Straße endete an einem riesigen Tor, das hermetisch verschlossen war. Aber als sie davorstanden, öffnete es sich geräuschlos. Corson lauschte angestrengt in das Innere des Gebäudes, aber er hörte nichts.

»Schließt sich das Tor hinter uns, wenn wir hineingehen?«

Antonella schloß die Augen.

»Ja. Aber wir werden nicht bedroht. Zumindest nicht in den nächsten paar Minuten.«

Sie gingen über die Schwelle. Das Tor schloß sich und Corson sprang zurück. Das Tor öffnete sich erneut. Der Mechanismus war offenbar sehr einfach. Corson war ziemlich erleichtert. Er hatte nicht den Wunsch, das Gebäude zu erforschen, ohne Näheres darüber zu wissen, aber sie konnten auch nicht ewig im Flur herumstehen.

Ihre Augen hatten sich an die hier herrschende Dämmerung gewöhnt. Zu beiden Seiten eines Ganges, der in eine große Halle mündete, ragten geometrische Aufbauten hervor, wie Waben in einem Bienenstock. Auch diese verloren sich in der Halle.

Die erste Zelle enthielt zehn Mädchenkörper, völlig nackt und in ein schwaches, violettes Gas eingehüllt, das sich aber nicht verflüchtigte. Bewegungslos lagen sie da. Sie waren alle sehr schön und hatten ein Alter von etwa achtzehn bis zweiundzwanzig Jahren. Corson atmete tief ein und versuchte eine ungefähre Schätzung. Wenn jede Wabe den gleichen Inhalt hatte, mußten allein in diesem relativ kleinen Teil der riesigen Halle eine gute Million Körper liegen.

Dicht neben ihm flüsterte Antonella: »Sind sie tot?«

Er beugte sich vor. Seine Hand durchdrang das violette Gas ohne Widerstand. Er fühlte nur ein leichtes Prickeln. Vielleicht hatte das Gas konservierende Eigenschaften. Er berührte eine warme, weiche Schulter. In gewissem Sinn konnte man sagen, daß das Mädchen lebte. Sacht fühlte er den Puls, er war kaum spürbar. Das Herz schien zu schlagen, wenn auch äußerst langsam.

»Nein«, sagte er.

»Zu Füßen jedes Mädchens sah man einen schwachen, leuchtenden Halbkreis, der wie ein Regenbogen aus sieben Farben bestand. Als er sah, daß die Farben in bestimmten Intervallen wechselten, dachte er über dieses Phänomen eine Weile nach und kam dann zu dem Schluß, daß es sich um eine Art EKG-Impulse handeln müsse. Wie sollte man so ein Gerät nennen? Vielleicht Metaboloskop?«

Corson schauderte.

»Wenn ich recht habe«, murmelte er, »dann sind diese Mädchen nicht tot. Es sieht aus, als ob ihre Körper noch lebten, aber das Gehirn arbeitet nicht.«

Er hatte zerstörte Städte und verwüstete Planeten gesehen, zerschmetterte Raumschiffe und Tausende von Toten und Gefallenen. Niemals aber hatte er etwas so unheimlich Trauriges gesehen wie dieses Mausoleum. Hatte es denn einen Sinn, Körper zu lagern, die niemals mehr eine Persönlichkeit haben würden? Wie lange konnte man sie aufbewahren? Er schaute noch einmal genauer hin und sah winzige, hauchdünne Drähte, die in die Haut des Mädchens eindrangen. Das waren zweifellos die Enden eines automatischen Lebenserhaltungssystems.

Plötzlich rannte er vorwärts wie ein Verrückter. Er spähte in sämtliche Waben. Er mußte mehr als einen Kilometer zurückgelegt haben, als er plötzlich anhielt. Er schwitzte stark. In keiner Wabe hatte er einen männlichen Körper gesehen. Sicher konnte er nicht zu den oberen Zellen hinaufklettern, aber er hätte alles darauf gewettet, daß auch sie nur weibliche Körper enthielten.

Kein Mädchen war über fünfundzwanzig. Alle waren sehr schön. Er hatte Vertreterinnen aller Rassen gefunden, die er kannte. Die Ähnlichkeit, die er zuerst bemerkt hatte, schien von einem bestimmten System abhängig zu sein. Das Mädchen, dessen Puls er gefühlt hatte, war schwarzhaarig gewesen. Das letzte Mädchen, das nun vor ihm lag, war blond. Auf der anderen Seite des Flures lagen dunkelhäutige Frauen in allen Schattierungen.

Das Gebäude erinnerte an eine Sammlung. Jemand hatte diese Mädchen ausgestellt, wie Funde eines Entomologen.

Wurden die Männer vielleicht in einem anderen Gebäude aufbewahrt? War der Sammler vielleicht nur an weiblichen Wesen interessiert? Das könnte bedeuten, daß die verantwortliche Person ein Mensch war. Unglaublich pervers, aber ein menschliches Wesen.

Langsam ging er zum Eingang zurück. Plötzlich kam ihm ein Gedanke. Die einzig vernünftige Erklärung für diesen Ort war, daß sie ein Gefangenenlager entdeckt hatten.

Vielleicht hatten in einem fürchterlichen Krieg, der schon lange zurücklag in Zeit und Raum, die Herrscher Horden von Sklaven gesammelt. Die Herrscher hätten es als Verschwendung ihrer eigenen Vorräte angesehen, wenn sie ihre Gefangenen ernährt hätten. Man mußte daher die Kosten für Nahrung und Bewachung auf ein Minimum senken. Auch hatte die Geschichte gezeigt, daß Herrscher von ihren eigenen Gefangenen getötet worden waren.

Darum kamen diese Herrscher auf den Gedanken, das Bewußtsein ihrer Opfer auszulöschen. Dann gaben sie ihnen eine neue, roboterähnliche Persönlichkeit. Ähnliches war schon zu Corsons Zeit möglich gewesen. Wenn man die Mädchen so behandelt hatte, reichte ihre Intelligenz gerade noch an die eines Menschenaffen heran. Aber das hatte die Herrscher sicher nicht gestört. In einem Sklavenmädchen sucht man keinen Geist oder Verständnis.

Wie konnte jemand so etwas tun? Solche Leute konnten im wahrsten Sinne des Wortes nur nekrophil sein.

Corson fühlte für einen Moment eine mörderische Wut. Seine Kiefer mahlten und seine Fäuste ballten sich. Dann verschwand die Vision. Der Wutanfall ging vorüber, und er stand nur noch zitternd da. War das der Weg des Universums? Sollte Gewalt immer wieder neue Gewalt erzeugen? War das wahre Gesicht der Menschheit nur eine blutige Maske? Ritt ein grinsender Dämon auf dem Rücken dieser etwas weiter entwickelten Affen? Konnte man mit diesem Gespenst des Todes und der Verwüstung überhaupt fertig werden, um etwas anderes, Besseres aufzubauen?

Nun … Dyoto. Er dachte an dieses Utopia, das auf den Trümmern des Krieges aufgebaut war. Eine Welt, die keinen Zwang kannte und sich einer Regierung erfreute, die über sechs Jahrhunderte stabil war, eine Welt, die keine Armee brauchte. Die üble Seite der Menschheit mußte ausgerottet werden, aber nicht wieder mit Gewalt. Aber wie konnte man Gewalt beseitigen, ohne Gewalt anzuwenden? Wie konnte man der Fessel des Krieges entkommen?

Antonella kauerte mitten auf dem Boden des Flures. Sie weinte. Die ganze unterdrückte Wut, die er empfunden hatte, seit sie in dem Gleiter ihren Trick mit dem Feuerzeug versucht hatte, wich plötzlich von ihm wie Schnee in der Sonne. Sie war doch ein menschliches Wesen, wie er selbst. Er half ihr auf die Füße und nahm sie in seine Arme.

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