22.

Corson träumte, und es wurde ihm schwach bewußt, daß er es tat. Er grübelte über das nach, was er gehört hatte und dachte ab und zu auch an Antonella.

Diese verdammten Pazifisten vom Ende der Zeit waren unfähig, ihre schmutzige Arbeit selbst zu machen. Für sie sind wir nur Schachfiguren, diese Tyrannen! Ich wirbele durch diese Maschen, die aus Leben gewebt sind. Tu was du willst, hatte der Gott angeordnet, aber beende diese Kriege, die meine Träume stören.

Das Gewebe bestand aus menschlichen Körpern. Jeder Knoten war ein Mensch. Jeder hielt die Knöchel zweier anderer Menschen, und das ganze Netz dehnte sich bis in die Unendlichkeit aus. Diese nackten Menschen wehrten sich und schrien Beleidigungen. Sie versuchten zu kratzen und zu beißen. Manchmal konnte sich einer losmachen und verschwand im Abgrund. Ein Schlund erschien, der sich rasch mit einer Masse von windenden Menschen füllte. Corson passierte dieses Netzt wie ein Fisch, der durch die Maschen schlüpft.

Er träumte, daß er erwachte. Er ging in einer großen und schönen Stadt umher.

Er fühlte einen quälenden Druck auf seiner Brust, den er sich zunächst nicht erklären konnte. Dann konnte er sich wieder erinnern. Auf seiner Brust befand sich ein Gerät, das es ihm ermöglichte, durch die Zeit zu reisen. An jedem Handgelenk war eine Art Uhr befestigt. Es waren ungewöhnlich präzise Meßinstrumente, mit deren Hilfe er die Zeit bestimmen und beherrschen konnte. Eine feine rote Linie zeigte exakt Stunde, Minute und Sekunde. Er konnte sehen, daß er in etwa fünf Minuten die rote Linie erreichen würde. Er wußte, daß die Apparatur eingestellt war, um ihn in die Vergangenheit oder Zukunft zu schleudern.

Rot! Etwas Fürchterliches sollte bei dieser Markierung geschehen. Aber in der Stadt war alles ruhig. Niemand ahnte, was bevorstand. Und als die Ursache seiner Angst klarer wurde, als er sich an mehr Einzelheiten erinnerte, fragte er sich, warum er den Augenblick seiner Befreiung erwarten konnte, ohne zu schreien.

Alles war ruhig in der Stadt. Der Wind schüttelte sanft die hängenden Straßen und die spitzen Türme der Gebäude. Eine Frau spielte mit einer Halskette. In einem Garten arbeitete ein Bildhauer. Singende Kinder spielten mit bunten Bällen. Den Träumer Corson erinnerte die Stadt an eine Skulptur.

In weniger als zwei Minuten würde die Stadt durch Nuklearwaffen zerstört werden. Die Raketen waren schon unterwegs. Sie jagten durch die Stratosphäre. Die bevorstehende Zerstörung schien dem Träumer fast unglaublich, aber der genaue Moment wurde von seinen Instrumenten exakt angezeigt. Er wußte, daß er der Katastrophe entkommen und nur das Bild der friedlichen Stadt im Gedächtnis behalten würde. Er würde nicht Zeuge der furchtbaren Zerstörung werden, die mit dem Licht von tausend Sonnen und einer furchtbaren Hitzewelle über die Stadt fegen würde.

Dann bemerkte er etwas, das er zuerst nicht begreifen konnte. Seine Zeitmaschine konnte ihm das nicht ersparen.

Es geschah plötzlich. Die Stadt war ruhig. Dann begann die Frau zu schreien. Sie zog so heftig an der Halskette, daß sie riß und kleine polierte Metallplättchen umherflogen. Panikartig rannten die Kinder davon. Sie weinten. Ein Schrei, der aus der ganzen Stadt zu kommen schien, drang schmerzend an die Ohren des Träumers. Er kam aus Millionen von Kehlen. Er drang bis zu den Spitzen der Gebäude empor. Er hörte sich nicht mehr menschlich an.

Corson wollte sich die Ohren zuhalten, aber er konnte es nicht.

Nun erinnerte er sich. Die Einwohner dieser Stadt konnten in die Zukunft sehen. Sie wußten ein paar Minuten vorher, was geschehen würde.

Sie wußten, daß die Raketen unterwegs waren. Sie würden solange schreien, bis der Lärm der Explosion sie übertönte. Sie sahen schon das Feuer, das schreckliche Licht und die folgende, totale Finsternis.

Und er, der Fremde, der Träumer wußte, daß er nichts tun konnte. Er hatte sie noch nicht einmal warnen können, bevor sie selbst die kommenden Ereignisse vorhersahen. Er würde den Untergang der Stadt nicht sehen, aber er hörte die Schreie.

Nun hatte der Zeiger fast die rote Markierung erreicht. Es erschien dem Fremden, dem Träumer, als ob sich die letzten Augenblicke in die Ewigkeit zögen. Ein schrecklicher Gedanke kam ihm in den Sinn. Wenn nun das Gerät auf seiner Brust keine Zeitmaschine war? Vielleicht war er dazu verdammt, mit den anderen unterzugehen?

Er öffnete den Mund. Die Maschine funktionierte. Er war gerettet. Er war völlig allein.

Er war an einem anderen Ort, und die Schreie waren nicht mehr zu hören. Er versuchte, sich daran zu erinnern. Er wußte, daß er träumte. Er wußte auch, daß er diesen Raum schon einmal geträumt hatte. Die Meßgeräte an seinen Handgelenken zeigten unfehlbar und unerbittlich die Zeit. Er beherrschte die Zeit. Vor ihm lag eine flache, ebene Stadt, die von Kanälen durchzogen war. Sie erstreckte sich entlang einer Küste, die ein violettes Meer bespülte.

Er begann zu stöhnen, allein, in einer Stille, die kaum durch den Gesang der Vögel gestört wurde. Irgend jemand, der weit entfernt war, kam auf ihn zu.

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