5 Der Sturm bricht los

Die Sonne war erst auf halbem Wege vom Zenit zum Horizont, als sie den gut ausgetretenen, gewundenen Pfad zur Spitze des steilen Hügels über den Scheunen emporstiegen. Renaile hatte diesen Punkt ausgewählt. Es machte nach dem, was Elayne über die Beeinflussung des Wetters wußte und was sie von einer Windsucherin des Meervolks gelernt hatte, um sicher zu sein, durchaus Sinn. Um etwas jenseits der unmittelbaren Umgebung verändern zu können, mußte man über weite Entfernungen arbeiten, was bedeutete, daß man über eine weite Strecke freie Sicht haben mußte, was auf dem Meer viel leichter war als an Land, es sei denn, man befand sich auf einem Berg oder Hügelkamm. Weiterhin mußte man geschickt vorgehen, um wolkenbruchartigen Regen oder Wirbelwinde oder nur das Licht wußte, was sonst, zu verhindern. Was auch immer man tat — die Wirkung verbreitete sich wie Wellen von einem in einen Teich geworfenen Stein. Sie wollte auf keinen Fall den Kreis anführen, der die Schale benutzen würde.

Der Boden auf dem kahlen Hügelkamm war flach, eine rauhe Felsplatte, fünfzig Schritte lang und breit, mit viel Platz für alle, die hiersein sollten, wie auch für einige, die strenggenommen nicht hiersein sollten. Von mindestens fünfzig Schritt oberhalb des Bauernhofs aus hatte man meilenweit eine großartige Aussicht über die von Gehöften, Weiden, Wäldern und Olivenhainen geprägte Landschaft. Viel zu viele Brauntöne und versengte Gelbtöne mischten sich mit wenigen Schattierungen von Grün, schrien ihnen die Notwendigkeit dessen entgegen, was sie zu tun beabsichtigten, und doch berührte Elayne diese Schönheit. Trotz des wie leichter Nebel in der Luft liegenden Staubs konnte sie so weit sehen! Das Land war hier bis auf jene wenigen Hügel überwiegend flach. Ebou Dar lag südlich gerade außer Sicht, selbst wenn sie die Macht umarmte, und doch schien es, als sollte sie es sehen können, wenn sie sich nur ein wenig bemühte. Mit ein wenig Anstrengung konnte sie gewiß den Eldar sehen. Eine phantastische Aussicht. Aber nicht alle hatten Gefallen daran.

»Eine Stunde vergeudet«, murrte Nynaeve und sah dabei Reanne von der Seite an. Und auch fast jedermann sonst. Da Lan nicht mitgekommen war, wollte sie die Gelegenheit anscheinend nutzen, ihre Launen an anderen auszulassen. »Fast eine Stunde. Vielleicht sogar mehr. Vollkommen vergeudet. Alise ist vermutlich ausreichend fähig, aber man sollte meinen, Reanne wüßte, wer da wäre! Licht! Wenn diese törichte Frau abermals in meiner Gegenwart ohnmächtig wird...!« Elayne hoffte, daß sie sich noch ein wenig länger beherrschte. Es würde ein gewaltiger Sturm werden, wenn sie ihren Gefühlen freien Lauf ließe.

Reanne versuchte, eine eifrige, heitere Miene beizubehalten, aber sie bewegte unruhig die Hände und zupfte ständig ihre Röcke zurecht oder glättete sie. Kirstian umklammerte ihre Röcke nur, schwitzte und schien sich jeden Moment übergeben zu wollen. Wenn jemand sie ansah, irgend jemand, zitterte sie. Die dritte Frau der Schwesternschaft, Garenia, war eine saldaeanische Händlerin mit breiter Nase und vollen Lippen, eine kleine, schmalhüftige Frau, stärker als die beiden anderen, die nicht viel älter als Nynaeve aussah. Auf ihrem blassen Gesicht glänzte öliger Schweiß, und ihre dunklen Augen weiteten sich, wann immer ihr Blick auf eine Aes Sedai fiel. Elayne dachte, daß sie vielleicht bald erfahren würde, ob einem Menschen wirklich die Augen aus dem Kopf fallen konnten. Zumindest hatte Garenia aufgehört zu jammern, was sie den ganzen Weg den Hügel hinauf getan hatte.

Tatsächlich wären vielleicht noch andere stark genug gewesen — möglicherweise; die Schwesternschaft achtete nicht sehr darauf —, aber die letzten beiden waren vor drei Tagen fortgegangen. Niemand sonst auf dem Bauernhof kam ihnen auch nur annähernd nahe, weshalb Nynaeve noch immer angewidert war. Einer der Gründe. Der andere Grund bestand darin, daß Garenia als eine der ersten ohnmächtig im Hof aufgefunden worden war. Und sie war die ersten beiden Male, als sie wieder zu sich kam, erneut ohnmächtig geworden, sobald ihr Blick auf eine der Schwestern fiel. Da Nynaeve Nynaeve war, würde sie natürlich nicht zugeben, daß sie einfach Alise hätte bitten sollen, die sich noch immer auf dem Bauernhof befand. Oder Alise hätte sagen sollen, was sie suchte, bevor die Frau danach fragte. Nynaeve erwartete niemals, daß jemand oben von unten unterscheiden konnte. Außer ihr selbst.

»Wir könnten jetzt schon fertig sein!« grollte Nynaeve. »Wir könnten abgeschlossen haben, was...« Sie zitterte fast unter der Anstrengung, die MeervolkFrauen nicht grimmig anzustarren, die sich nahe dem östlichen Rand der Felsplatte versammelten. Renaile, die eindringlich gestikulierte, schien Anweisungen zu erteilen. Elayne hätte viel darum gegeben, diese verstehen zu können.

Nynaeves finstere Blicke schlossen Merilille, Careane und Sareitha, welche die seidenumwickelte Schale noch immer fest umklammerte, gewiß mit ein. Adeleas und Vandene waren unten bei Ispan geblieben. Jene drei Schwestern standen schwatzend zusammen und achteten überhaupt nicht auf Nynaeve, bis sie diese direkt ansprach, während Merililles Blick manchmal zu den Windsucherinnen schweifte, sich aber dann wieder losriß. Ihre heitere Maske verzerrte sich leicht, und sie leckte sich mit der Zungenspitze über die Lippen.

Hatte sie dort unten einen Fehler gemacht, als sie sie Geheilt hatte? Merilille hatte Verträge ausgehandelt und bei Streitigkeiten zwischen Nationen vermittelt. Nur wenige in der Weißen Burg waren besser darin als sie. Aber Elayne erinnerte sich, einmal eine Geschichte gehört zu haben, eine Art Witz über eine Domani-Händlerin, einen Lademeister des Meervolks und eine Aes Sedai. Nicht viele Menschen erzählten Witze über Aes Sedai. Es könnte gefährlich sein. Die Händlerin und der Lademeister fanden am Strand einen gewöhnlichen Felsen und verkauften ihn sich gegenseitig immer wieder, wobei sie jedesmal auf unbestimmte Weise einen Gewinn machten. Dann kam eine Aes Sedai vorbei. Die Domani überzeugte die Aes Sedai davon, den schlichten Felsen für den doppelten Preis, den sie zuletzt bezahlt hatte, zu kaufen. Woraufhin der Atha'an Miere die Aes Sedai davon überzeugte, denselben Felsen von ihm für noch einmal das Doppelte zu kaufen. Es war nur ein Witz, aber er verdeutlichte, was die Menschen glaubten. Vielleicht hätten die älteren Schwestern keinen besseren Vertrag mit dem Meervolk ausgehandelt.

Aviendha ging geradewegs zum Rand der Felswand, sobald sie den Hügelkamm erreicht hatten, und blieb dann dort nach Norden blickend regungslos wie eine Statue stehen. Kurz darauf erkannte Elayne, daß sie keineswegs die Aussicht bewunderte. Aviendha starrte lediglich vor sich hin. Elayne sammelte mit den drei Angrealen in Händen ein wenig unbeholfen ihre Röcke und gesellte sich zu ihrer Freundin.

Die Felswand fiel in fünfzig Fuß hohen Stufen zu den Olivenhainen hin ab, steile Reihen welligen grauen Gesteins, die bis auf einige wenige verdorrte Büsche kahl waren. Der Abgrund erschien nicht wirklich bedrohlich, aber es war doch etwas anderes, als von einem Baumwipfel zu Boden zu blicken. Seltsamerweise fühlte Elayne sich ein wenig benommen, als sie hinabblickte. Aviendha schien nicht zu bemerken, daß sich der Rand der Felswand direkt unter ihren Zehen befand.

»Beunruhigt dich etwas?« fragte Elayne leise.

Aviendha blickte weiterhin in die Ferne. »Ich habe dich enttäuscht«, sagte sie schließlich. Ihre Stimme klang tonlos und leer. »Ich konnte das Wegetor nicht angemessen gestalten, und alle haben gesehen, wie ich dich beschämt habe. Ich habe einen Diener für ein Schattenwesen gehalten und mich daraufhin töricht verhalten. Die Atha'an Miere verachten mich und betrachten die Aes Sedai, als wäre ich deren Hund, der auf ihren Befehl bellt. Ich habe behauptet, ich könnte die Schattenläuferin zum Reden bringen, aber keine Far Dareis Mai darf Gefangene befragen, ehe sie zwanzig Jahre mit dem Speer verheiratet ist; sie darf nur dabei zusehen, ehe sie zehn Jahre mit dem Speer verheiratet ist. Ich bin schwach und verweichlicht, Elayne. Ich kann es nicht ertragen, dich weiterhin zu beschämen. Wenn ich dich erneut enttäusche, werde ich sterben.«

Elaynes Mund wurde trocken. Das klang zu sehr nach einem Versprechen. Sie ergriff fest Aviendhas Arm und zog sie vom Rand des Abgrunds zurück. Aiel konnten fast so seltsam sein, wie sie vom Meervolk beurteilt wurden. Sie glaubte nicht, daß Aviendha springen würde — nicht wirklich —, aber sie würde kein Risiko eingehen. Zumindest versuchte Aviendha sich ihr nicht zu widersetzen.

Alle übrigen schienen mit sich selbst oder miteinander beschäftigt zu sein. Nynaeve hatte begonnen, zu den Atha'an Miere zu sprechen, beide Hände fest um ihren Zopf geschlossen und das Gesicht von der Anstrengung, nicht zu schreien, beinahe so dunkel wie deren Gesichter, während sie ihr mit geringschätziger Anmaßung zuhörten. Merilille und Sareitha bewachten noch immer die Schale, und Careane versuchte recht erfolglos, mit den Frauen der Schwesternschaft ins Gespräch zu kommen. Reanne antwortete ihr, wenn sie auch unbehaglich blinzelte und ihre Lippen benetzte, aber Kirstian stand zitternd und schweigend da, während Garenia die Augen fest zupreßte. Elayne sprach dennoch leise. Dies ging niemanden sonst etwas an.

»Du hast niemanden enttäuscht, mich am allerwenigsten, Aviendha. Nichts, was du jemals getan hast, hat mich beschämt, und nichts, was du tun wirst, könnte mich jemals beschämen.« Aviendha sah sie zweifelnd an. »Und du bist ungefähr so schwach und verweichlicht wie ein Fels.« Das mußte das seltsamste Kompliment sein, das sie jemals jemandem gemacht hatte, und doch wirkte Aviendha aufrichtig erfreut. »Ich wette, daß sich selbst das Meervolk vor dir zu Tode ängstigt.« Noch ein seltsames Kompliment, aber es ließ Aviendha lächeln, wenn auch nur schwach. Elayne atmete tief durch. »Was Ispan betrifft...« Es gefiel ihr nicht, hierüber auch nur nachzudenken. »Ich dachte ebenfalls, ich könnte tun, was nötig ist, aber nur daran zu denken läßt meine Hände schwitzen und meinen Magen rumoren. Ich würde es verderben, selbst wenn ich es versuchte. Das haben wir also gemeinsam.«

Aviendha vollführte die Geste in der Zeichensprache der Töchter des Speers, die ›du erstaunst mich‹ bedeutete. Sie hatte begonnen, Elayne einige Gesten der Zeichensprache beizubringen, obwohl sie sagte, es sei verboten. Anscheinend änderte sich das bei Nächstschwestern, die noch mehr werden wollten. Aber nicht wirklich. Aviendha dachte anscheinend, ihre Erklärung sei vollkommen eindeutig gewesen. »Ich meinte nicht, daß ich es nicht kann«, sagte sie laut, »nur daß ich nicht weiß, wie ich es anstellen soll. Wahrscheinlich hätte ich sie getötet, wenn ich es versucht hätte.« Plötzlich lächelte sie stärker und herzlicher als zuvor und berührte leicht Elaynes Wange. »Wir haben beide unsere Schwächen«, flüsterte sie, »aber das ist keine Schande, solange nur wir beide davon wissen.«

»Nein«, sagte Elayne kraftlos. Sie wußte einfach nicht wie »Natürlich nicht.« Diese Frau barg mehr Überraschungen als jeder fahrende Sänger. »Hier«, sagte sie und drückte Aviendha die von ihrem Haar umhüllte Frauenfigur in die Hand. »Benutze sie im Kreis.« Es war nicht leicht, das Angreal aus der Hand zu geben. Sie hatte es selbst benutzen wollen, aber Aviendha, ihre Freundin, ihre Nächstschwester, benötigte trotz ihres Lächelns Ermunterung. Aviendha wandte die kleine Elfenbeinfigur in ihren Händen um. Elayne konnte fast sehen, wie sie zu entscheiden versuchte, auf welchem Wege sie die Figur zurückgeben könnte. »Aviendha, du weißt, wie es sich anfühlt, wenn du soviel Saidar festhältst wie möglich? Stell dir vor, doppelt soviel festzuhalten. Stell es dir wirklich vor. Ich möchte, daß du sie benutzt. Einverstanden?«

Aiel zeigten vielleicht kaum Empfindungen, aber jetzt weiteten sich Aviendhas grüne Augen. Sie hatte bei ihrer Suche über Angreale gesprochen, aber sie hatte zuvor wahrscheinlich niemals daran gedacht, wie es wäre, eines zu benutzen. »Doppelt soviel«, murmelte sie. »Soviel festzuhalten. Das kann ich mir nicht einmal vorstellen. Dies ist ein sehr großes Geschenk, Elayne.« Sie berührte erneut Elaynes Wange und drückte ihre Fingerspitzen daran. Das war die Aiel-Entsprechung eines Kusses und einer Umarmung.

Was auch immer Nynaeve dem Meervolk zu sagen hatte, es dauerte nicht lange. Sie verließ sie schon bald wieder, wobei sie heftig an ihren Röcken zerrte. Als sie sich Elayne näherte, sah sie Aviendha und den Rand des Abgrunds gleichermaßen grimmig an. Normalerweise leugnete sie, daß sie nicht schwindelfrei war, aber nun achtete sie darauf, daß die beiden anderen Frauen zwischen ihr und dem Abgrund blieben. »Ich muß mit dir reden«, murrte sie und führte Elayne ein kleines Stück auf dem Hügelkamm entlang und weiter vom Rand fort. Nur ein kleines Stück, aber weit genug von allen anderen entfernt, so daß niemand sie belauschen konnte. Sie atmete mehrere Male tief durch, bevor sie leise zu sprechen begann, wobei sie Elayne nicht ansah.

»Ich ... ich habe mich wie eine Närrin benommen. Daran ist dieser verdammte Mann schuld! Wenn er nicht bei mir ist, kann ich an kaum etwas anderes denken, und wenn er da ist, kann ich überhaupt nicht denken! Du ... du mußt mir sagen, wenn ich ... wenn ich mich töricht verhalte. Ich verlasse mich auf dich, Elayne.« Sie sprach weiterhin leise, aber ihr Tonfall wurde fast klagend. »Ich kann es mir nicht leisten, meinen Verstand wegen eines Mannes zu verlieren, nicht jetzt.«

Elayne war so erschrocken, daß sie einen Moment nichts sagen konnte. Nynaeve gab zu, töricht gewesen zu sein? Sie hätte beinahe nachgesehen, ob die Sonne grün geworden war! »Es ist nicht Lans Fehler, und das weißt du, Nynaeve«, sagte sie schließlich. Sie verdrängte die Erinnerungen an ihre eigenen, kürzlich gehegten Gedanken an Rand. Dies war nicht dasselbe. Doch die Gelegenheit war ein Geschenk des Lichts. Morgen würde Nynaeve sie wahrscheinlich ohrfeigen, wenn sie behauptete, Nynaeve sei töricht. »Beherrsche dich, Nynaeve. Hör auf, dich wie ein albernes Kind zu verhalten.« Bestimmt keine Gedanken an Rand! Sie hatte Rand nicht so sehr angehimmelt! »Du bist eine Aes Sedai, und du sollst uns anführen. Anführen! Und nachdenken!«

Nynaeve faltete die Hände über der Taille und ließ den Kopf hängen. »Ich werde es versuchen«, murmelte sie. »Ich werde es wirklich versuchen. Aber du weißt nicht, wie das ist. Ich ... es tut mir leid.«

Elayne hätte fast ihre Zunge verschluckt. Nynaeve entschuldigte sich noch zusätzlich? Nynaeve war beschämt? Vielleicht war sie krank?

Es hielt natürlich nicht an. Nynaeve betrachtete plötzlich stirnrunzelnd das Angreal und räusperte sich. »Du hast Aviendha eines gegeben, nicht wahr?« fragte sie mit Nachdruck. »Nun, sie ist gewiß vertrauenswürdig. Schade, daß wir dem Meervolk eines überlassen müssen. Ich wette, daß sie anschließend versuchen werden, es zu behalten! Nun, sollen sie es versuchen! Welches ist meines?«

Elayne reichte ihr seufzend das Armband mit den damit verbundenen Ringen, und Nynaeve schritt davon, während sie das Schmuckstück an ihre linke Hand anlegte und allen Frauen laut zurief, sie sollten ihre Plätze einnehmen. Manchmal war es schwer, die Anführerin Nynaeve von der Tyrannin Nynaeve zu unterscheiden. Zumindest, solange sie tatsächlich anführte.

Die Schale der Winde stand inmitten der Felsplatte auf ihrer abgewickelten weißen Umhüllung, eine nahezu flache, schwere Scheibe aus reinem Kristall von zwei Fuß Durchmesser, auf deren Innenseite dicht umherwirbelnde Wolken eingearbeitet waren. Ein reich verziertes Stück und doch schlicht, wenn man bedachte, was sie — hoffentlich — zu bewirken vermochte. Nynaeve nahm ihren Platz in der Nähe der Schale ein, das Angreal um ihr Handgelenk geschlossen. Sie bewegte die Hand und wirkte überrascht, daß die Ketten ihr anscheinend kein Unbehagen bereiteten. Das Angreal schien wie für sie gemacht. Die drei Frauen der Schwesternschaft waren bereits da, Kirstian und Garenia hinter Reanne zusammengedrängt und anscheinend verängstigter denn je, wenn das noch möglich war. Die Windsucherinnen standen fast zwanzig Schritte entfernt hinter Renaile aufgereiht.

Elayne raffte ihre geteilten Röcke, trat zu Aviendha, die nahe der Schale stand, und betrachtete das Meervolk mißtrauisch. Beabsichtigten sie, ein Aufhebens zu machen? Genau das hatte sie befürchtet, seit das erste Mal erwähnt wurde, daß sich Frauen auf dem Bauernhof befänden, die vielleicht ausreichend stark waren, sich der Verbindung anzuschließen. Die Atha'an Miere beharrten so auf ihren Rängen, daß es die Weiße Burg beschämte, und Garenias Anwesenheit bedeutete, daß Renaile din Calon Blauer Stern, Windsucherin der Herrin der Schiffe der Atha'an Miere, nicht Teil des Kreises sein würde. Nicht sein sollte.

Renaile betrachtete forschend die Frauen um die Schale. Sie schien sie abzuschätzen, ihre Fähigkeiten zu beurteilen. »Talaan din Gelyn«, rief sie plötzlich barsch, »nehmt Euren Platz ein!« Es klang wie ein Peitschenhieb! Sogar Nynaeve zuckte zusammen.

Talaan verbeugte sich tief, berührte ihre Brust und lief dann zu der Schale. Sobald sie sich bewegte, rief Renaile erneut barsch: »Metarra din Junalle, nehmt Euren Platz ein!« Metarra, rundlich, aber doch kräftig, eilte hinter Talaan her. Beide waren noch zu jung, um sich den vom Meervolk sogenannten ›Salznamen‹ verdient zu haben.

Einmal begonnen, ratterte Renaile alle Namen rasch herunter; sie setzte auch Rainyn und die beiden anderen Windsucherinnen in Bewegung, die alle schnell reagierten, wenn auch nicht so hastig wie die Neulinge. Der Anzahl ihrer Medaillons nach zu urteilen, standen Naime und Rysael rangmäßig höher als Rainyn, würdevolle Frauen mit einer ruhigen Befehlshaltung, aber merklich schwächer im Gebrauch der Macht. Dann hielt Renaile nur einen Herzschlag lang inne, und doch stach dieser Moment aus der raschen Aufzählung hervor. »Tebreille din Gelyn Südwind, nehmt Euren Platz ein! Caire din Gelyn Fließende Woge, übernehmt das Kommando!«

Elayne empfand einen Moment der Erleichterung, daß Renaile nicht auch sie selbst genannt hatte, aber dieser Moment dauerte nur so lange, wie Renailes Innehalten gedauert hatte. Tebreille und Caire wechselten einen Blick, Tebreille grimmig und Caire selbstgefällig, bevor sie zur Schale traten. Acht Ohrringe und eine Vielzahl von einander überlappenden Medaillons wiesen die Windsucherinnen als Wogenherrinnen der Clans aus. Allein Renaile stand über ihnen. Nur Dorile unter den auf der Felsplatte befindlichen Meervolk-Leuten kam ihnen gleich. In mit Brokat versehene gelbe Seide gehüllt, war Caire ein wenig größer. Tebreille, in ebenfalls mit Brokat verbrämter grüner Seide, hatte das etwas strengere Gesicht, aber beide waren überaus hübsche Frauen, und man mußte nicht ihre Namen wissen, um zu erkennen, daß sie blutsverwandt waren. Sie hatten dieselben großen, fast schwarzen Augen, dieselbe gerade Nase, das gleiche kräftige Kinn. Caire deutete schweigend auf den Platz zu ihrer Rechten. Tebreille sagte ebenfalls nichts; noch zögerte sie, den ihr von ihrer Schwester angewiesenen Platz einzunehmen, aber ihr Gesicht war starr. Mit ihr umgab jetzt ein Kreis von dreizehn Frauen fast Schulter an Schulter die Schale. Caires Augen funkelten beinahe. Tebreilles Augen wirkten trüb. Elayne wurde an ein weiteres Sprichwort Linis erinnert. Kein Dolch ist schärfer als der Haß einer Schwester.

Caire sah sich in dem Kreis der Frauen um die Schale um, der noch kein geschlossener Kreis war, als versuche sie, sich jedes Gesicht zu merken. Elayne kam zu sich, übergab Talaan hastig das letzte Angreal, die kleine Elfenbeinschildkröte, und erklärte, wie es benutzt wurde. Die Erklärung war einfach, und doch konnte jedermann, der es ohne Erklärung zu benutzen versuchte, Stunden damit vergeuden. Sie konnte jedoch keine fünf Worte äußern.

»Ruhe!« brüllte Caire. Die tätowierten Fäuste in die Hüften gestemmt und die bloßen Füße auseinander stehend, hätte sie an Deck eines in die Schlacht segelnden Schiffes gehört. »Niemand hier wird ohne meine Erlaubnis sprechen. Talaan, Ihr erstattet sofort Bericht, wenn Ihr auf Euer Schiff zurückgekehrt seid.« Nichts an Caires Tonfall ließ vermuten, daß sie zu ihrer eigenen Tochter sprach. Talaan verbeugte sich tief, berührte ihre Brust und murmelte etwas Unhörbares. Caire schnaubte verächtlich — sie funkelte Elayne auf eine Art und Weise an, die ihren Wunsch vermuten ließ, sie könnte sie auch zur Berichterstattung verpflichten —, bevor sie mit einer Stimme fortfuhr, die man sicherlich noch am Fuße des Hügels hören konnte. »Heute werden wir tun, was seit der Zerstörung der Welt nicht mehr getan worden ist, als unsere Vorfahren gegen die entfesselte Natur gekämpft haben. Sie haben durch die Schale der Winde und die Gnade des Lichts überlebt. Heute werden wir die Schale der Winde benutzen, die uns mehr als zweitausend Jahre lang verloren war und uns jetzt zurückgegeben wurde. Ich habe das alte Wissen studiert, die Aufzeichnungen aus der Zeit, als unsere Vorfahren zum erstemal das Meer und das Weben der Winde kennenlernten und unserem Blut das Salz zugeführt wurde. Ich weiß alles, was über die Schale der Winde bekannt ist, mehr als jede andere.« Sie blickte zu ihrer Schwester, ein zufriedener Blick, den Tebreille ignorierte, was Caire noch mehr zufriedenzustellen schien. »Ich werde, wenn es dem Licht gefällt, heute tun, wozu die Aes Sedai nicht imstande sind. Ich erwarte, daß Ihr alle bis zuletzt standhaltet. Ich werde kein Versagen dulden.«

Die übrigen Atha'an Miere hatten diese Ansprache anscheinend erwartet und fanden sie angemessen, aber die Frauen der Schwesternschaft sahen Caire erstaunt an. Elaynes Ansicht nach war Anmaßung nicht annähernd die richtige Bezeichnung. Caire erwartete allen Ernstes, daß es dem Licht gefiele, und es ihr zutiefst mißfallen würde, wenn dem nicht so wäre! Nynaeve blickte gen Himmel und öffnete den Mund. Caire kam ihr zuvor. »Nynaeve«, verkündete die Windsucherin laut, »Ihr werdet jetzt Eure Fähigkeit im Verbinden unter Beweis stellen. Macht Euch an die Arbeit, Frau, schnell!«

Nynaeve schloß fest die Augen. Ihr Mund ... verzerrte sich. Sie wirkte, als stünde sie vor einem Zusammenbruch. »Vermutlich bedeutet das, daß ich die Erlaubnis zu sprechen habe!« murmelte sie —glücklicherweise zu leise, als daß Caire auf der anderen Seite des Kreises es hätte hören können. Sie öffnete die Augen wieder und setzte ein schwaches Lächeln auf, das sich auf grausige Weise von ihrem übrigen Gesichtsausdruck unterschied. Sie war das pure Unbehagen.

»Als erstes muß die Wahre Quelle umarmt werden, Caire.« Das Licht Saidars schien plötzlich hell um Nynaeve. Elayne spürte, daß sie das Angreal in ihrer Hand bereits benutzte. »Ihr wißt vermutlich, wie man dies tun muß.« Nynaeve ignorierte, daß Caire jäh die Lippen zusammenpreßte, und fuhr fort. »Elayne wird mir jetzt bei der Demonstration helfen. Wenn wir Eure Erlaubnis haben?«

»Ich bereite mich darauf vor, die Quelle zu umarmen«, warf Elayne schnell ein, bevor Caire sie unterbrechen konnte, »aber ich umarme sie noch nicht wirklich.« Sie hielt inne; die Windsucherinnen beugten sich vor und beobachteten sie, obwohl in Wirklichkeit noch nichts zu sehen war. Selbst Kirstian und Garenia vergaßen ihre Angst soweit, daß sie Interesse zeigten. »Während ich in diesem Stadium verharre, vollführt Nynaeve den Rest.«

»Jetzt werde ich mich nach ihr ausstrecken...« Nynaeve hielt inne und sah Talaan an. Elayne hatte keine Gelegenheit gehabt, ihr etwas Wesentliches zu sagen. »Es ist genauso wie mit dem Angreal«, sagte Nynaeve an den schlanken Neuling gewandt. Caire grollte, und Talaan versuchte, Nynaeve mit gesenktem Kopf zu beobachten. »Ihr öffnet Euch durch ein Angreal zur Quelle, genauso wie ich mich durch Elayne zur Quelle öffnen werde. Als wolltet Ihr das Angreal und die Quelle gleichzeitig umarmen. Es ist wirklich nicht sehr schwer. Seht gut zu, und Ihr werdet es erkennen. Wenn Ihr bereit seid, Euch in den Kreis einzubringen, dann tretet einfach hinzu. Auf diese Weise werde ich die Quelle, wenn ich sie durch Euch umarme, auch durch das Angreal umarmen.«

Ob Konzentration oder nicht — Schweißperlen traten auf Elaynes Stirn. Die Hitze hatte nichts damit zu tun. Die Wahre Quelle lockte. Sie pulsierte, und Elayne pulsierte mit ihr. Sie forderte. Je länger sie eine Haaresbreite von der Berührung der Macht trennte, desto stärker würden das Verlangen und die Notwendigkeit. Sie begann leicht zu zittern. Vandene hatte ihr gesagt, daß die Erwartung um so schlimmer wurde, je länger man die Macht lenkte.

»Achtet auf Aviendha«, wies Nynaeve Talaan an. »Sie weiß, wie man...« Sie gewahrte Elaynes Gesicht und stieß hastig hervor: »Achtet darauf!«

Es war nicht genau das gleiche, als wenn man ein Angreal benutzte, wenn es dem auch sehr nahe kam. Es war auch nicht vorgesehen, es eilig zu tun. Nynaeves Berührung war, milde ausgedrückt, nicht sanft. Elayne fühlte sich, als würde sie geschüttelt. Physisch geschah nichts, aber in ihrem Kopf sprang sie scheinbar umher und stürzte dann einen steilen Hang hinab. Schlimmer noch, sie wurde mit quälender Langsamkeit auf die Umarmung Saidars zu gedrängt. Es dauerte kürzer als einen Herzschlag und schien doch Stunden, Tage zu dauern. Sie wollte schreien, aber sie konnte nicht atmen. Dann floß die Eine Macht jäh durch sie hindurch, wie ein berstender Damm, ein Ansturm von Leben und Freude, von Entzücken, und der Atem wich in langen Zügen des Vergnügens und einer solch großen Erleichterung aus ihr, daß ihre Beine zitterten. Sie konnte nur mühsam ein Keuchen unterdrücken. Sie zog sich taumelnd hoch und sah Nynaeve finster an, und Nynaeve zuckte entschuldigend die Achseln. Zweimal an einem Tag! Die Sonne mußte grün werden.

»Ich kontrolliere jetzt ihren wie auch meinen Strom Saidar«, fuhr Nynaeve fort, ohne Elaynes Blick wirklich zu begegnen, »und werde es weiterhin tun, bis ich Elayne loslasse. Befürchtet nun nicht, daß derjenige, der den Kreis anführt«, sie warf Caire einen finsteren Blick zu und schnaubte, »Euch dazu bringen kann, zuviel Macht heranzuziehen. Dies ist einem Angreal sehr ähnlich. Das Angreal fängt zusätzliche Macht vor Euch ab, und ungefähr auf die gleiche Weise könnt Ihr in einem Kreis nicht dazu gebracht werden, zuviel Macht heranzuziehen. Tatsächlich könnt Ihr in einem Kreis nicht ganz soviel Macht heranziehen wie son...«

»Das ist gefährlich!« unterbrach Renaile sie und drängte sich grob zwischen Caire und Tebreille hindurch. Ihr finsterer Blick schloß auch Nynaeve, Elayne und die Schwestern, die abseits vom Kreis standen, mit ein. »Ihr sagt, daß eine Frau eine andere einfach ergreifen, gefangenhalten, benutzen kann? Wie lange wißt Ihr Aes Sedai das schon? Ich warne Euch — wenn Ihr es bei einer von uns anzuwenden versucht...« Jetzt wurde sie unterbrochen.

»So geht das nicht, Renaile.« Sareitha berührte Garenia, und sie und Kirstian stoben auseinander, um ihr Platz zu machen. Die junge Braune sah Nynaeve unsicher an, faltete dann die Hände und nahm einen belehrenden Tonfall an, als spräche sie zu einer Schulklasse. Damit kehrte auch ihre Haltung zurück. Vielleicht sah sie Renaile in diesem Moment tatsächlich als Schülerin an. »Die Burg hat dies viele Jahre lang, schon lange vor den Trolloc-Kriegen, studiert. Ich habe jede Seite gelesen, die von jener Forschung in der Burg-Bibliothek überdauert hat. Es wurde überzeugend bewiesen, daß sich eine Frau nicht gegen den Willen einer anderen Frau mit ihr verbinden kann. Es kann einfach nicht geschehen. In diesem Fall passiert nichts. Bereitwillige Hingabe ist notwendig, genau wie das eigene Umarmen Saidars.« Sie klang vollkommen überzeugt, aber Renaile runzelte noch immer die Stirn. Zu viele Menschen wußten, wie Aes Sedai den Eid, der das Lügen verbot, umgehen konnten.

»Und warum hat die Burg es erforscht?« fragte Renaile. »Warum war die Weiße Burg daran so interessiert? Vielleicht forscht Ihr Aes Sedai noch immer daran?«

»Das ist lächerlich.« Sareithas Stimme klang verärgert. »Wenn Ihr es wissen wollt, hat die Auseinandersetzung mit Männern, die die Macht lenken können, sie dazu geführt. Die Zerstörung der Welt war damals für einige noch eine lebendige Erinnerung. Vermutlich erinnern sich nicht mehr sehr viele Schwestern daran — es gehörte nicht zu der notwendigen Unterweisung seit der Zeit vor den Trolloc-Kriegen —, aber Männer können auch in den Kreis mit eingebracht werden, und da der Kreis nicht bricht, selbst wenn man schläft... Nun, Ihr könnt die Vorteile erkennen. Das war leider ein grundlegendes Versäumnis. Um wieder auf uns zurückzukommen, behaupte ich erneut, daß es unmöglich ist, eine Frau in einen Kreis zu zwingen. Wenn Ihr meine Worte anzweifelt, versucht es selbst. Ihr werdet es sehen.«

Renaile nickte und akzeptierte damit letzteres. Man konnte nur wenig mehr tun, wenn eine Aes Sedai eine einfache Tatsache feststellte. Und doch fragte sich Elayne: Was stand auf jenen Seiten, welche die Zeit nicht überdauert hatten? Sie hatte in einem Moment eine leichte Veränderung an Sareithas Tonfall bemerkt. Sie hatte Fragen. Später, wenn weniger Zuhörer dabei waren.

Als sich Renaile und Sareitha zurückzogen, zupfte Nynaeve ihre geteilten Röcke zurecht; durch die Unterbrechung eindeutig irritiert, öffnete sie erneut den Mund.

»Fahrt mit Eurer Demonstration fort, Nynaeve«, befahl Caire barsch. Ihr dunkles Gesicht war vielleicht so unbewegt wie die Oberfläche eines zugefrorenen Teichs, aber sie war ebenfalls nicht sehr erfreut.

Nynaeve bewegte bereits die Lippen, bevor ein Laut hervordrang, und als sie sprach, geschah es eilig, als befürchte sie, daß sie womöglich abermals unterbrochen würde.

Der nächste Teil der Lektion bestand darin, die Kontrolle über den Kreis weiterzugeben. Das mußte gleichfalls freiwillig geschehen, und selbst als sich Elayne zu Nynaeve ausstreckte, hielt sie den Atem an, bis sie die kaum merkliche Veränderung spürte, die bedeutete, daß jetzt sie die in sie hineinfließende Macht kontrollierte. Und jene, die in Nynaeve hineinfloß, natürlich ebenfalls. Sie war sich nicht sicher gewesen, daß es funktionieren würde. Nynaeve konnte mühelos einen Kreis bilden, wenn auch nicht sehr geschickt, aber die Führung weiterzugeben, schloß auch eine Art Verzicht mit ein. Nynaeve hatte normalerweise erhebliche Schwierigkeiten damit, Kontrolle abzugeben oder in einen Kreis eingebracht zu werden, genauso wie es ihr einst schwergefallen war, sich Saidar zu überlassen. Dies war auch der Grund dafür, warum Elayne im Moment die Führung beibehielt. Sie würde an Caire weitergegeben werden müssen, und Nynaeve schaffte es vielleicht nicht, sie zweimal loszulassen. Die Entschuldigungen mußten für sie weitaus leichter gewesen sein.

Elayne verband sich als nächstes mit Aviendha, damit Talaan tatsächlich erkennen konnte, wie dies mit einem Angreal geschah, soweit man es überhaupt sehen konnte, und es funktionierte einwandfrei. Aviendha lernte sehr schnell und verschmolz auf Anhieb mit der Verbindung. Talaan lernte ebenfalls schnell, wie sich herausstellte, und fügte ohne Zögern ihren noch stärkeren, durch das Angreal heraufbeschworenen Machtstrom hinzu. Elayne führte die Frauen eine nach der anderen in den Kreis, und sie selbst erschauderte beinahe unter dem gewaltigen Strom der Macht, die in sie hineinströmte. Niemand zog bisher auch nur annähernd soviel Macht heran wie sie selbst, aber die Machtströme summierten sich, besonders wenn ein Angreal im Spiel war. Elaynes Wahrnehmung steigerte sich mit jeder zusätzlichen Menge Saidar. Sie konnte die schweren Düfte in den durchbrochenen goldenen Dosen riechen, welche die Windsucherinnen um den Hals trugen, und sie voneinander unterscheiden. Sie konnte jede Falte und jede Naht an jedermanns Kleidung genauso deutlich ausmachen, als würde sie ihre Nase auf den Stoff pressen, wenn nicht noch deutlicher. Sie war sich der geringsten Luftbewegung auf ihrer Haut und in ihrem Haar bewußt, Liebkosungen, die sie ohne die Macht niemals wahrgenommen hätte.

Aber ihre Wahrnehmung beschränkte sich natürlich nicht nur darauf. Die Verbindung ähnelte in gewisser Weise dem Bund mit einem Behüter, war ebenso intensiv und irgendwie noch inniger. Sie wußte, daß eine kleine Blase vom Aufstieg auf den Hügel an Nynaeves rechter Ferse ihr leichte Schmerzen verursachte. Nynaeve sprach stets von robustem Schuhwerk, aber sie hatte eine Schwäche für leichte Schuhe mit viel Stickerei. Nynaeve sah Caire finster an, die Arme verschränkt, die Hand, die das Angreal hielt, spielte mit dem über ihre rechte Schulter gezogenen Zopf, ganz starr, und doch brodelte in ihrem Inneren ein Mahlstrom von Gefühlen. Angst, Sorge, Vorahnung, Verärgerung, Wachsamkeit und Ungeduld vermischten sich, und durch all das hindurch und manchmal überlagernd drohten Wärmewellen und Hitzewogen zu entflammen. Nynaeve unterdrückte letztere rasch, besonders die Hitze, aber sie kehrten stets zurück. Elayne glaubte, sie fast erkennen zu können, aber es war wie etwas, das man nur aus dem Augenwinkel sah und fort war, wenn man den Kopf wandte.

Überraschenderweise empfand auch Aviendha Angst, aber nur wenig und gut beherrscht, ansonsten aber war sie von Entschlossenheit erfüllt. Garenia und Kirstian, die sichtbar zitterten, waren reinem Entsetzen nahe in einem Maße, daß es verwunderte, daß sie die Quelle auch nur annähernd hatten umarmen können. Reanne war bis zum Überfluß von Eifer erfüllt, auch wenn sie ihre Röcke glättete. Und was die Atha'an Miere betraf... Selbst Tebreille strahlte wachsame Vorsicht aus, und Metarras und Rainyns umherschwirrende Blicke waren nicht nötig, um erkennen zu können, daß ihre Aufmerksamkeit Caire galt, die sie alle ungeduldig und herrisch beobachtete.

Elayne hatte sich Caire bis zuletzt aufgespart, und es überraschte sie nicht, daß sie vier Versuche — vier! —benötigte, um die Frau in den Kreis einzubringen. Caire war ebenso unnachgiebig wie Nynaeve. Elayne hoffte verzweifelt, daß die Frau aufgrund ihrer Fähigkeiten und nicht aufgrund ihres Ranges ausgewählt worden war.

»Ich werde den Kreis jetzt Euch übergeben«, belehrte sie die Windsucherin, als es schließlich vollbracht war. »Wenn Ihr Euch in Erinnerung ruft, was ich mit Nynaeve getan ha...« Die Worte blieben ihr jäh in der Kehle stecken, als ihr die Führung des Kreises entrissen wurde, ein Gefühl, als hätte sie ein plötzlicher Windstoß durcheinandergebracht. Sie atmete heftig aus, und es klang fast wie Ausspeien. Nun, dann sollte es wohl so sein.

»Gut«, sagte Caire und rieb sich die Hände. »Gut.« Sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf die Schale und wandte den Kopf hierhin und dorthin, während sie das Artefakt betrachtete. Nun, vielleicht nicht ihre ganze Aufmerksamkeit. Reanne wollte sich gerade hinsetzen, als Caire ohne aufzublicken fauchte: »Behaltet Euren Platz bei, Frau! Dies ist kein Spaß! Bleibt stehen, bis man Euch befiehlt, Euch zu rühren!«

Reanne sprang bestürzt wieder auf und murrte leise, aber Caire schenkte ihr keinerlei Beachtung mehr. Der Blick der Windsucherin blieb auf die flache Kristallform gerichtet. Elayne spürte ausreichend große Entschlossenheit, einen Berg zu versetzen. Und noch etwas anderes, schwach und rasch wieder unterdrückt. Unsicherheit. Unsicherheit? Wenn die Frau nach alledem in Wahrheit nicht wußte, was zu tun war...

In diesem Moment streckte sich Caire weit aus. Saidar durchströmte Elayne, fast soviel, wie sie festhalten konnte. Ein ungebrochener Lichtring sprang auf, schloß sich den Frauen im Kreis an, wurde heller, wann immer eine der Frauen ein Angreal benutzte, war aber auch ohne diese niemals schwach. Sie beobachtete genau, wie Caire die Macht lenkte, ein kompliziertes Gewebe aus allen fünf Mächten gestaltet, ein vierflammiger Stern, den sie mit, wie Elayne anerkennend bemerkte, großartiger Präzision auf die Schale legte. Der Stern berührte die Schale, und Elayne keuchte. Sie hatte einst mit der Macht ein Rinnsal in die Schale gelenkt — in Tel'aran'rhiod, um sich zu vergewissern, und nur in ein Spiegelbild der Schale, obwohl das noch immer gefährlich war —, und dieses klare Kristall war hellblau geworden, und die eingearbeiteten Wolken hatten sich bewegt. Jetzt war die Schale der Winde tiefblau, das strahlende Blau eines Sommerhimmels, und weiche, weiße Wolken wogten darüber.

Der vierflammige Stern wurde fünfflammig, die Zusammensetzung des Gewebes veränderte sich leicht, und die Schale war jetzt ein grünes Meer mit hoch aufsteigenden Wogen. Der fünfflammige Stern wurde sechsflammig, und es war ein anderer Himmel zu sehen, ein anderes Blau, dunkler, vielleicht wie im Winter, mit vor Regen oder Schnee schweren purpurfarbenen Wolken. Der sechsflammige Stern wurde siebenflammig, und ein graugrünes Meer tobte im Sturm. Achtflammiger Stern und Himmel. Neunflammiger Stern und Meer, und plötzlich spürte Elayne, wie die Schale selbst Saidar heranzog, ein wilder und weitaus stärkerer Strom, als der ganze Kreis zusammen hätte heraufbeschwören können.

Die Veränderungen in der Schäle hielten unvermindert an, von Meer zu Himmel, von Wogen zu Wolken, aber dann schoß eine gewundene, verflochtene Säule Saidar von der flachen Kristallscheibe empor, Feuer und Luft, Wasser und Erde und Geist, eine Säule so breit wie die Schale schoß immer höher in den Himmel hinein, bis ihre Spitze außer Sicht geriet. Caire führte ihr Gewebe fort während Schweiß ihr Gesicht hinabströmte. Sie hielt anscheinend nur inne, um salzige Tropfen von ihren Augen fortzublinzeln, während sie die Bilder in der Schale prüfte, und gestaltete dann ein neues Gewebe. Das Flechtmuster der dicken Säule veränderte sich mit jedem neuen Gewebe, spiegelte flüchtig wieder, was Caire wob.

Elayne erkannte, daß es eine weise Entscheidung gewesen war, daß sie die Ströme für diesen Kreis nicht hatte verweben wollen. Was die Frau tat, erforderte weit mehr Jahre des Studiums, als sie selbst bisher absolviert hatte. Viele weitere Jahre. Und plötzlich erkannte sie noch etwas anderes. Diese sich ständig verändernde Spitze Saidars wand sich noch um etwas Zusätzliches, etwas Unsichtbares, das der Säule Festigkeit verlieh. Sie schluckte schwer. Die Schale zog sowohl Saidar als auch Saidin heran.

Ihre Hoffnung, daß niemand sonst es herausgefunden hätte, schwand mit einem Blick auf die anderen Frauen. Die Hälfte von ihnen betrachtete die sich drehende Säule mit einem Abscheu, der dem Dunklen König hätte vorbehalten bleiben sollen. Die Angst wurde unter den in ihren Köpfen vorhandenen Empfindungen stärker. Einige kamen Garenia und Kirstian nahe, und es war ein Wunder, daß diese beiden noch nicht wieder in Ohnmacht gefallen waren. Nynaeve stand kurz davor, sich zu übergeben, auch wenn ihr Gesicht vollkommen ausdruckslos war. Aviendha schien äußerlich ebenso ruhig, aber innerlich bebte und pulsierte ihre kleine Angst und versuchte anzuwachsen.

Caire strahlte nur Entschlossenheit aus, ebenso stahlhart wie ihre Miene. Nichts würde Caire in den Weg treten, gewiß nicht die bloße Gegenwart des mit ihrem Gewebe vermischten, schattenbefleckten Saidins. Nichts würde sie aufhalten. Sie lenkte die Ströme, und plötzlich sprangen Spinnweben Saidar von der unsichtbaren Spitze der Säule auf wie ungleichmäßige Speichen eines Rads, südlich fast ein stabiler Fächer und sich nach Norden und Nordwesten ausstreckende spärlichere Fächer, sowie einzelne spitzenartige Speichen, die sich in andere Richtungen ausstreckten. Sie veränderten sich, während sie anwuchsen, waren von einem Moment zum nächsten nicht mehr dieselben und breiteten sich weiter und weiter über den Himmel aus, bis die Enden dieses Musters ebenfalls außer Sicht gerieten. Elayne war sich sicher, daß nicht nur Saidar im Spiel war. An manchen Stellen schloß und wand sich das Spinnengewebe um etwas, das sie nicht sehen konnte. Caire wob unverdrossen, und die Säule tanzte nach ihren Befehlen, Saidar und Saidin zusammen, und das Spinnengewebe veränderte sich und schwebte wie ein schillerndes Kaleidoskop, das am Himmel entlang wirbelte und immer weiter in der Ferne verschwand.

Dann richtete sich Caire ohne Vorwarnung auf, rieb sich den Rücken und ließ die Quelle vollkommen los. Säule und Spinnengewebe verschwanden. Caire brach halbwegs zusammen und atmete schwer. Die Schale wurde wieder klar, aber kleine Flecken Saidar blitzten und knisterten noch um ihren Rand auf. »Es ist getan, wenn das Licht es will«, sagte sie erschöpft.

Elayne hörte sie kaum. So sollte ein Kreis nicht beendet werden. Als Caire auf diese Weise losließ, wich die Macht aus allen Frauen gleichzeitig. Elayne öffnete ruckartig die Augen. Es war einen Moment so, als stünde sie auf dem höchsten Turm der Erde — und plötzlich war der Turm nicht mehr da! Nur ein Moment, aber kaum ein erfreulicher. Sie fühlte sich erschöpft, wenn auch nicht annähernd so, wie sie sich gefühlt hätte, wenn sie etwas anderes getan hätte, als nur als Kanal zu dienen. Aber ein Verlustgefühl herrschte vor. Saidar loszulassen war schon schlimm genug. Es einfach aus sich schwinden zu spüren war unvorstellbar schlimm.

Andere litten weitaus schwerer darunter als sie. Als das Schimmern verblaßte, das den Kreis begleitet hatte, setzte sich Nynaeve am Fleck hin, als wären ihre Beine geschmolzen, saß da und strich über das mit den Ringen verbundene Armband, starrte es an und keuchte. Schweiß lief ihr über das Gesicht. »Ich fühle mich wie ein Küchensieb, durch das gerade alle Milch hindurchgegossen wurde«, murmelte sie. Soviel Macht in sich zu bergen forderte seinen Preis, selbst wenn man nichts tat, selbst mit einem Angreal.

Talaan schwankte, ein Schilfrohr im Wind, warf ihrer Mutter verstohlene Blicke zu und fürchtete sich eindeutig davor, sich hinzusetzen. Aviendha stand aufrecht da, und ihr starrer Gesichtsausdruck verriet, daß Willenskraft genausoviel damit zu tun hatte wie alles andere. Sie lächelte jedoch zaghaft und vollführte eine Geste in der Zeichensprache der Töchter des Speers — den Preis wert — und dann unmittelbar danach eine weitere — mehr. Mehr als den Preis wert. Alle wirkten erschöpft, wenn auch am meisten diejenigen, die Angreale benutzt hatten. Die Schale der Winde kam schließlich zum Stillstand, eben wie eine breite Schale aus klarem Kristall, aber jetzt mit hoch aufragenden Wogen verziert. Saidar schien jedoch noch immer vorhanden zu sein, von niemandem gelenkt und nicht anders sichtbar als in schwach aufflammenden Blitzen wie jene, die gegen Ende am Rand der Schale aufgeflammt waren.

Nynaeve hob den Kopf, blickte grollend in den wolkenlosen Himmel und senkte den Blick dann zu Caire. »Und wofür das alles? Haben wir etwas bewirkt oder nicht?« Eine leichte Brise regte sich auf dem Hügelkamm, warm wie Küchenluft.

Die Windsucherin erhob sich mühsam. »Meint Ihr, das Weben der Winde geschähe so schnell, wie man einem Pfeilschützen den Helm überstülpt?« fragte sie verächtlich. »Ich habe gerade mit einem Hebel von der Breite der Welt das Ruder an einem Boot bewegt! Es wird Zeit brauchen, bis es umkehrt, Zeit zu erkennen, daß es umkehren soll. Daß es umkehren muß. Aber wenn es dies tut, wird nicht einmal der Vater der Stürme selbst ihm in den Weg treten können. Ich habe es getan, Aes Sedai, und die Schale der Winde gehört uns!«

Renaile trat in den Kreis und kniete sich neben die Schale. Vorsichtig wickelte sie die Schale wieder in die weiße Seide. »Ich werde sie der Herrin der Schiffe bringen«, sagte sie zu Nynaeve. »Wir haben unseren Teil des Vertrags eingehalten, jetzt müßt Ihr Aes Sedai den restlichen Vertrag erfüllen.« Merilille stieß einen Laut aus, aber als Elayne sie ansah, schien die Graue ein Vorbild an Gelassenheit.

»Vielleicht habt Ihr Euren Teil erfüllt«, sagte Nynaeve und erhob sich schwankend. »Vielleicht. Das werden wir sehen, wenn dieses ... dieses Boot, das Ihr erwähntet, umkehrt. Wenn es umkehrt!« Renaile sah sie über die Schale hinweg hart an, aber Nynaeve beachtete sie nicht. »Seltsam«, murmelte sie und rieb sich die Schläfen. Das mit den Ringen verbundene Armband verfing sich in ihren Haaren, und sie zog eine Grimasse. »Ich kann fast ein Echo Saidars spüren. Es muß dieses Ding sein!«

»Nein«, sagte Elayne zögernd. »Ich kann es ebenfalls spüren.« Nicht lediglich das schwach wahrnehmbare Knistern in der Luft und nicht wirklich ein Echo. Mehr der Schatten eines Echos, so schwach, als spüre sie, daß jemand Saidar benutzte... Sie wandte sich um. Am Horizont im Süden blitzte es, Dutzende leuchtend silberblauer Blitze vor dem Nachmittagshimmel. Ganz in der Nähe von Ebou Dar.

»Ein Sturmregen?« fragte Sareitha eifrig. »Das Wetter muß sich bereits umgekehrt haben.« Aber es waren keine Wolken am Himmel zu sehen, selbst dort nicht, wo die Blitze herniederprasselten. Sareitha war nicht stark genug in der Macht, um spüren zu können, wenn auf diese Entfernung Saidar gelenkt wurde.

Elayne erschauderte. Sie war nicht stark genug. Es sei denn, jemand lenkte soviel Saidar, wie sie es auf diesem Hügelkamm getan hatten. Fünfzig oder sogar einhundert Aes Sedai, die alle gleichzeitig die Macht lenkten. Oder... »Keiner der Verlorenen«, murmelte sie. Jemand hinter ihr stöhnte.

»Einer allein könnte das nicht vollbringen«, stimmte Nynaeve ihr leise zu. »Vielleicht haben sie uns nicht so empfunden wie wir sie, aber sie werden es gesehen haben, wenn sie nicht alle blind sind. Das Licht verdamme unser Glück!« Auch wenn sie leise sprach — sie war beunruhigt. Sie rügte Elayne häufig für solche Ausdrucksweisen. »Nimm alle, die nach Andor gehen werden, mit dir, Elayne. Ich werde ... ich werde euch dort treffen. Mat ist in der Stadt. Ich muß zu ihm zurückgehen. Verdammt sei der Junge — er ist wegen mir gekommen, und ich muß zurückkehren.«

Elayne schlang die Arme um sich und atmete tief durch. Sie überließ Königin Tylin der Gnade des Lichts. Tylin würde überleben, wenn es möglich war. Aber Mat Cauthon, ihr sehr seltsamer, sehr aufschluß-reicher Untertan, ihr unwahrscheinlichster Retter... Er war auch wegen ihr gekommen und bot noch mehr an. Und Thom Merrilin, der liebe Thom, von dem sie manchmal wünschte, daß er sich als ihr richtiger Vater erweisen würde, und das Licht verdamme, was das aus ihrer Mutter machte. Und der Junge, Olver, und Chel Vanin und... Sie mußte wie eine Königin denken. Die Rosenkrone ist schwerer als ein Berg, hatte ihre Mutter sie belehrt, und die Pflicht wird dich erdrücken, aber du mußt ertragen und tun, was getan werden muß.

»Nein«, sagte sie dann fester. »Nein. Sieh dich an, Nynaeve. Du kannst kaum noch stehen. Selbst wenn wir alle gingen — was könnten wir denn tun? Wie viele der Verlorenen sind dort? Wir würden sterben oder Schlimmeres — und das vollkommen umsonst. Die Verlorenen haben keinen Grund, nach Mat oder anderen zu suchen. Sie werden hinter uns her sein.«

Nynaeve sah sie mit offenem Mund an, die eigensinnige Nynaeve, welcher der Schweiß das Gesicht herablief und deren Beine sie nicht mehr recht trugen. Die wundervolle, tapfere, törichte Nynaeve. »Du meinst also, wir sollten ihn allein lassen, Elayne? Aviendha, redet mit ihr. Erzählt ihr von dieser Ehre, von der Ihr stets sprecht!«

Aviendha zögerte und schüttelte dann den Kopf. Sie war fast so verschwitzt wie Nynaeve und ihren Bewegungen nach zu urteilen auch ebenso erschöpft. »Es gibt Zeiten, in denen man ohne Hoffnung kämpfen muß, Nynaeve, aber Elayne hat recht. Die Schattenseelen werden nicht nach Mat Cauthon suchen. Sie werden hinter uns und der Schale her sein. Mat könnte die Stadt bereits verlassen haben. Wenn wir zurückkehren, riskieren wir, ihnen das zu geben, was unser Werk wieder zunichte machen könnte. Wo auch immer wir die Schale hinschicken — sie werden uns dazu bringen, ihnen zu sagen, wohin wir sie geschickt haben.«

Nynaeves Gesicht verzerrte sich vor Qual. Elayne wollte sie in die Arme nehmen.

»Schattengezücht!« schrie jemand, und plötzlich umarmten Frauen auf dem ganzen Hügelkamm

Saidar.

Feuerkugeln schossen von Merililles, Careanes und Sareithas Händen auf, so schnell sie die Kugeln werfen konnten. Eine riesige, beflügelte, in Flammen eingehüllte Gestalt stürzte vom Himmel, zog Öligen, schwarzen Rauch nach sich und fiel geradewegs in den Abgrund.

»Dort ist noch eines!« rief Kirstian und deutete in die entsprechende Richtung. Ein zweites beflügeltes Wesen, groß wie ein Pferd, stürzte auf den Abgrund zu, die geriffelten Schwingen dreißig Schritte oder noch weiter, den langen Hals vor sich ausgestreckt und der noch längere Schwanz hinter ihm her flatternd. Zwei Gestalten kauerten auf seinem Rücken. Ein Feuersturm regnete hinter ihm herab, am schnellsten von Aviendha und dem Meervolk heraufbeschworen, die ihre Gewebe ohne Wurfbewegung gestalteten. Es war ein solch dichter Feuerhagel, daß es schien, als bilde sich das Feuer aus der Luft. Das Wesen wich hinter den Hügel auf der anderen Seite aus und war verschwunden.

»Haben wir es getötet?« fragte Sareitha. Ihre Augen schimmerten aufgeregt, und sie atmete heftig.

»Haben wir es überhaupt getroffen?« grollte eine der Atha'an Miere angewidert.

»Schattengezücht«, murmelte Merilille erstaunt. »Hier! Das beweist zumindest, daß sich die Verlorenen in Ebou Dar befinden.«

»Kein Schattengezücht«, sagte Elayne mit hohler Stimme. Nynaeves Miene war ein Bild der Qual. Sie hatte es auch erkannt. »Sie nennen es Raken. Es sind die Seanchaner. Wir müssen gehen, Nynaeve, und alle Frauen auf dem Bauernhof mit uns nehmen. Ob wir dieses Wesen getötet haben oder nicht — es werden weitere nachfolgen. Jedermann, den wir zurücklassen, wird morgen früh eine Damane-Koppel tragen.« Nynaeve nickte zögernd, fast schmerzlich. Elayne glaubte, sie »Oh, Mat« murmeln zu hören.

Renaile kam mit der Schale im Arm heran, die wieder weiß umhüllt war. »Einige unserer Schiffe sind diesen Seanchanern begegnet. Wenn sie sich in Ebou Dar befinden, dann stechen die Schiffe in See. Mein Schiff kämpft um sein Leben, und ich bin nicht an Bord! Wir brechen sofort auf!« Und sie gestaltete genau am Fleck das Gewebe für ein Wegetor.

Es verflocht sich natürlich nutzlos, flammte einen Moment hell auf und brach dann zu Nichts zusammen, aber Elayne schrie wider Willen auf. Direkt hier, mitten unter ihnen! »Ihr werdet von hier aus nirgendwo hingehen, wenn Ihr nicht lange genug zu bleiben beabsichtigt, um diesen Hügelkamm kennenzulernen!« fauchte sie. Sie hoffte, daß keine der Frauen, die dem Kreis angehört hatten, das Gewebe versuchten. Saidar festzuhalten war der schnellste Weg, einen Ort kennenzulernen. Sie hätte es hier wirken lassen können, und sie konnten es höchstwahrscheinlich auch. »Ihr werdet auch von nirgendwo sonst zu einem Schiff eilen. Ich glaube nicht einmal, daß es möglich ist!« Merilille nickte, obwohl das wenig bedeutete. Aes Sedai hielten vieles für wahr, und einige Dinge waren es auch. Zumindest, wenn das Meervolk sie für erwiesen hielt. Nynaeve war im Moment nicht in der Verfassung, die Führung zu übernehmen, so daß Elayne fortfuhr. Sie hoffte, dem Andenken ihrer Mutter würdig zu sein. »Aber vor allem werdet Ihr nirgendwo ohne uns hingehen, weil unser Vertrag noch nicht vollständig erfüllt ist. Die Schale der Winde gehört Euch erst, wenn das Wetter reguliert ist.« Das stimmte nicht ganz, es sei denn, man verdrehte den Wortlaut des Vertrages ein wenig, und Renaile öffnete den Mund, aber Elayne sprach weiter. »Und weil Ihr einen Handel mit Matrim Cauthon, meinem Untertan, eingegangen seid. Ihr geht bereitwillig dorthin, wo ich Euch hinschicke, oder Ihr werdet auf einen Packsattel gebunden. Diese Wahlmöglichkeiten habt Ihr akzeptiert. Also verlaßt jetzt diesen Hügel, Renaile din Calon Blauer Stern, bevor die Seanchaner mit einem Heer und einigen hundert Frauen, welche die Macht lenken können und nichts mehr wollen, als uns gekoppelt neben ihnen zu sehen, auf uns herniederstürzen. Lauft jetzt los!«

Zu ihrem Erstaunen lief sie tatsächlich los.

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