Elayne hoffte insgeheim, daß die Reise nach Caemlyn reibungslos verlaufen würde. Vollkommen erschöpft kauerte sie neben Aviendha und Birgitte in den von ihrer Kleidung übriggebliebenen Lumpen, die vor Dreck und Staub und dem Blut der Verletzungen starrten, die sie bei der Explosion des Wegetors davongetragen hatte. Sie wäre bestenfalls in zwei Wochen imstande, ihre Ansprüche auf den Löwenthron anzumelden. Auf dem Hügelkamm heilte Nynaeve Elaynes zahlreiche Verletzungen, sprach kaum ein Wort und schalt sie vor allem nicht aus. Das war sicherlich ein erfreuliches Zeichen, wenn auch ungewöhnlich. Ihre Miene spiegelte den Kampf zwischen der Erleichterung darüber, daß sie alle am Leben waren, und der Sorge wider.
Lans Kraft war nötig, um den seanchanischen Armbrustpfeil aus Birgittes Oberschenkel zu ziehen, bevor sie von dieser Wunde Geheilt werden konnte, aber obwohl ihr Gesicht bleich wurde und Elayne durch den Bund einen stechenden Schmerz empfand, der in ihr das Bedürfnis erweckte aufzuschreien, stöhnte ihre Behüterin nur durch zusammengebissene Zähne.
»»Tai'shar, Kandor«, murmelte Lan, als er die vierkantige Eisenspitze, die eigentlich dafür gedacht war, Rüstungen zu durchschlagen, neben sich auf den Boden warf. Das wahre Blut Kandors. Birgitte blinzelte, und er hielt inne. »Verzeiht, wenn ich mich geirrt habe. Aus Eurer Kleidung habe ich geschlossen, daß Ihr eine Kandori wärt.«
»O ja«, hauchte Birgitte. »Kandori.« Sie lächelte, vielleicht aufgrund ihrer Verletzungen, nur schwach. Nynaeve scheuchte Lan ungeduldig aus dem Weg, damit sie sich um Birgitte kümmern konnte. Elayne hoffte, daß die Frau mehr über Kandor wüßte als nur den Namen des Landes. Als Birgitte geboren wurde, hatte Kandor noch nicht existiert. Das hätte sie als Omen nehmen sollen.
Birgitte ritt die fünf Meilen bis zu dem kleinen Gutshaus mit dem Schieferdach hinter Nynaeve auf deren stämmiger brauner Stute, und Elayne und Aviendha ritten Lans großen schwarzen Hengst. Zumindest Elayne saß auf Mandarbs Sattel, Aviendhas Arme um ihre Taille, während Lan das temperamentvolle Tier führte. Ausgebildete Schlachtrosse waren ebenso gute Waffen wie Schwerter und für Fremde gefährliche Reittiere. Sei deiner selbst sicher, Mädchen, hatte Lini ihr stets gesagt, aber nicht zu sicher, und sie versuchte es. Sie hätte erkennen sollen, daß sie die Ereignisse nicht besser unter Kontrolle hatte als Mandarbs Zügel.
Bei dem dreistöckigen Steingebäude hatten der stämmige und grauhaarige Meister Hornwell und seine etwas weniger rundliche und etwas weniger grauhaarige Frau, die aber ihrem Mann ansonsten bemerkenswert ähnlich sah, alle auf den Ländereien arbeitenden Knechte und Mägde sowie Merililles Dienerin Pol und die grünweiß livrierten Bediensteten aus dem Tarasin-Palast umhergescheucht, um Schlafgelegenheiten für über zweihundert Leute, zumeist Frauen, zu schaffen, die in der Dämmerung aus dem Nichts aufgetaucht waren. Die Vorbereitungen schritten überraschend schnell voran, obwohl die Landarbeiter immer wieder stehenblieben, um das alterslose Gesicht einer Aes Sedai, den die Farbe verändernden Umhang eines Behüters, der ihn teilweise verschwinden ließ, oder eine Angehörige des Meervolks in all ihrer bunten Seide und mit ihrem ungewöhnlichen Schmuck anzustarren. Frauen der Schwesternschaft kamen überein, daß es jetzt angebracht sei, sich zu fürchten und zu weinen, gleichgültig, was Reanne und der Frauenzirkel ihnen sagten. Die Windsucherinnen murrten darüber, wie weit sie sich vom Meer entfernt hätten — gegen ihren Willen, wie Renaile din Calon lauthals behauptete. Und Adlige und Handwerkerinnen, die nur zu bereitwillig vor dem geflohen waren, was auch immer in Ebou Dar zurückgeblieben war, und bereitwillig das Bündel mit ihren Habseligkeiten auf dem Rücken trugen, schimpften jetzt darüber, daß ihnen ein Heuboden zum Schlafen angeboten wurde.
All das war im Gange, als Elayne und die übrigen eintrafen, während die Sonne am westlichen Horizont versank — Trubel und Geschrei rund um das Haus und die strohgedeckten Außengebäude, aber Alise Tenjile, die liebenswürdig und gleichzeitig verbissen lächelte, schien die Situation besser im Griff zu haben als selbst die fähigen Hornwells. Frauen der Schwesternschaft, die trotz Reannes tröstenden Versuchen jetzt noch heftiger weinten, trockneten auf eine gemurmelte Bemerkung von Alise hin ihre Tränen und setzten sich mit der entschlossenen Haltung von Frauen, die sich in einer feindselig gesinnten Welt viele Jahre lang um sich selbst gekümmert hatten, in Bewegung. Hochmütige Adlige mit Hochzeitsdolchen in den ovalen Ausschnitten ihrer spitzengesäumten Leibchen und Handwerkerinnen, die fast ebenso viel Anmaßung und Busen zeigten, wenn sie auch keine Seide trugen, schreckten beim Anblick der herannahenden Alise zurück und eilten auf die großen Scheunen zu, während sie ihre Bündel umklammerten und laut verkündeten, sie hätten es sich schon immer gewünscht, auf Stroh zu schlafen. Selbst die Windsucherinnen, von denen viele unter den Atha'an Miere bedeutende und mächtige Frauen waren, äußerten ihre Beschwerden verhaltener, wenn Alise sich näherte. Sareitha, welche die Alterslosigkeit noch nicht erlangt hatte, sah Alise fragend an und berührte ihre Stola mit den braunen Fransen, wie um sich zu vergewissern, daß diese noch vorhanden war. Merilille, die durch nichts zu erschüttern war, beobachtete die Frau mit einer Mischung aus Anerkennung und offener Verwunderung bei ihrer Arbeit.
Nynaeve stieg vor der Eingangstür des Hauses aus dem Sattel, schaute zu Alise, zog einmal wohlerwogen und angemessen an ihrem Zopf, was die andere Frau vor Geschäftigkeit nicht bemerkte, und schritt ins Haus, wobei sie ihre blauen Reithandschuhe abstreifte und vor sich hin murmelte. Lan lachte leise, während er ihr nachsah, erstickte sein Lachen aber sofort, als Elayne abstieg. Licht, wirkten seine Augen kalt! Sie hoffte um Nynaeves willen, daß der Mann vor seinem Schicksal bewahrt werden konnte, aber sie glaubte es nicht, wenn sie in diese Augen sah.
»Wo ist Ispan?« flüsterte sie, während sie Aviendha beim Absteigen half. Viele der Frauen wußten, daß eine Aes Sedai — eine Schwarze Schwester — gefangengehalten wurde, daher würde sich die Nachricht wie ein Lauffeuer auf den Ländereien verbreiten, aber es war besser, wenn die Bewohner des Gutshofs ein wenig vorbereitet waren.
»Adeleas und Vandene haben sie zu einer kleinen Holzfällerhütte ungefähr eine halbe Meile von hier gebracht«, erwiderte er ebenso leise. »Ich glaube nicht, daß jemand in all diesem Durcheinander eine Frau mit einem Sack über dem Kopf bemerkt hat. Die Schwestern sagten, sie würden heute nacht bei ihr bleiben.«
Elayne erschauderte. Die Schattenfreundin sollte anscheinend erneut befragt werden, sobald die Sonne untergegangen war. Sie waren jetzt in Andor, daher empfand sie noch stärker das Gefühl, sie hätte den entsprechenden Befehl gegeben.
Schon bald saß sie in einer kupfernen Badewanne, genoß parfümierte Seife und saubere Haut, lachte und bespritzte Birgitte mit Wasser, die sich in einer weiteren Wanne rekelte und zurückspritzte, woraufhin sie beide über Aviendhas schlecht verhülltes Entsetzen kicherten, daß sie bis zur Brust im Wasser saß. Aviendha meinte jedoch, einen sehr guten Scherz gemacht zu haben und erzählte daraufhin eine höchst unpassende Geschichte über einen Mann, der sich Segadestacheln im Hinterteil zuzog. Dann erzählte Birgitte eine noch unpassendere Geschichte über eine Frau, die mit dem Kopf zwischen Zaunlatten feststeckte, die sogar Aviendha erröten ließ. Sie hatten jedoch wirklich Spaß dabei. Elayne wünschte, sie könnte ebenfalls eine solche Geschichte beitragen.
Sie und Aviendha kämmten und bürsteten einander das Haar — ein allabendliches Ritual von Nächstschwestern —, dann kuschelten sie sich müde in die mit einem Baldachin versehenen Betten in einem kleinen Raum, in dem glücklicherweise nur sie und Aviendha, Birgitte und Nynaeve schliefen. In größeren Räumen bedeckten Feldbetten und Strohlager den Boden, auch in den Wohnräumen, den Küchen und auf den meisten Gängen. Nynaeve murrte die halbe Nacht über die Ungehörigkeit, eine Frau zu zwingen, von ihrem Mann getrennt zu schlafen, und die andere Hälfte der Nacht weckten ihre Ellbogen Elayne anscheinend jedes Mal, wenn sie einschlief. Birgitte weigerte sich schlicht, den Platz zu tauschen, und Aviendha konnte sie nicht bitten, die heftigen Stöße der Frau zu erdulden, so daß sie nicht viel Schlaf fand.
Elayne fühlte sich noch immer angeschlagen, als sie sich am nächsten Morgen, als die aufgehende Sonne wie eine schmelzende Goldkugel am Himmel stand, zum Aufbruch bereitmachten. Es gab nur wenige Reittiere auf dem Gutshof, die sie zudem nicht alle mitnehmen konnten, so daß diejenigen, die zu Fuß vom Bauernhof der Schwesternschaft geflohen waren, auch weiterhin zu Fuß gehen mußten, wohingegen Elayne einen schwarzen Wallach namens Feuerherz und Aviendha und Birgitte ebenfalls frische Pferde ritten. Auch die meisten Frauen der Schwesternschaft waren zu Fuß, während die Diener die Packpferde führten wie auch die ungefähr zwanzig Frauen, die ihren Besuch auf dem Bauernhof der Schwesternschaft in der Hoffnung auf Frieden und besinnliche Betrachtung offensichtlich nicht mehr bedauerten. Die Behüter ritten voraus und erkundeten den Weg um die welligen, mit verdorrten Bäumen bestandenen Hügel. Alle übrigen bildeten eine höchst eigenartige Kolonne, angeführt von Nynaeve, Elayne und den anderen Schwestern. Und natürlich Aviendha.
Die Gruppe konnte kaum unbemerkt bleiben — so viele Frauen, die mit so wenigen Männern als Beschützer reisten, ganz zu schweigen von zwanzig dunklen Windsucherinnen, die unbeholfen auf ihren Pferden saßen und bunt wie exotisch gefiederte Vögel gekleidet waren, sowie neun Aes Sedai, von denen sechs für jedermann erkennbar waren, der wußte, worauf er achten mußte. Als zöge nicht schon die eine Frau, die mit einem Ledersack über dem Kopf ritt, neugierige Blicke auf sich. Elayne hatte gehofft, Caemlyn unbemerkt zu erreichen, aber das schien kaum mehr möglich. Dennoch gab es keinen Grund, warum jemand vermuten sollte, daß Elayne Trakand, die Tochter-Erbin selbst, zu dieser Reisegesellschaft gehörte. Anfangs glaubte sie, die größte bevorstehende Schwierigkeit bestünde darin, daß sich jemand ihren Ansprüchen entgegenstellte, wenn er von ihrer Anwesenheit erführe, und bewaffnete Männer entsandte, die sie in Gewahrsam nehmen sollten, bis die Nachfolge geregelt wäre.
Inzwischen erwartete sie die ersten Schwierigkeiten von den fußkranken Handwerkerinnen und Adligen, allesamt stolze Frauen und keine daran gewöhnt, staubige Hügel zu erklimmen. Besonders, seit Merililles Dienerin ihre eigene gedrungene Stute ritt. Den wenigen Bäuerinnen unter ihnen machte der Fußmarsch anscheinend nicht allzuviel aus, aber fast die Hälfte der Gruppe bestand aus Frauen, die Ländereien und Güter und Paläste besaßen, und die meisten der übrigen hätten es sich zumindest leisten können, unter Umständen sogar mehrere Gutshöfe zu kaufen. Darunter befanden sich zwei Goldschmiedinnen, drei Weberinnen, die zusammen über vierhundert Webstühle besaßen, eine Frau, in deren Manufakturen ein Zehntel aller Lackwaren Ebou Dars gefertigt wurden, und eine Bankhalterin. Sie gingen zu Fuß, ihren Besitz auf den Rücken gebunden, während ihre Pferde mit Proviant beladen waren. Es drohte drückende Not. Die letzten Münzen aus aller Geldbörsen waren gesammelt und Nynaeves strenger Obhut übergeben worden, aber selbst das reichte vielleicht nicht mehr den ganzen Weg nach Caemlyn für Nahrung, Futter und Unterkunft für eine solch große Gruppe aus. Doch die Frauen verstanden anscheinend nicht. Während der ersten Tagesmärsche beschwerten sie sich laut und unablässig. Am lautesten von allen klagte eine schlanke Lady mit einer dünnen Narbe auf der Wange, eine Frau mit starrer Miene namens Malien, die unter dem Gewicht eines gewaltigen Bündels von einem Dutzend oder mehr Kleidern stark gebeugt ging.
Als sie am ersten Abend lagerten, die Herdfeuer im Zwielicht flackerten und alle von Bohnen und Brot gesättigt, wenn auch nicht zufrieden mit dem Essen waren, versammelte Malien die adligen Frauen um sich, deren Seidengewänder von der Reise stark verschmutzt waren. Die Handwerkerinnen schlössen sich ihnen ebenfalls an wie auch die Bankhalterin, und die Bäuerinnen blieben in der Nähe. Bevor Malien jedoch ein Wort sagen konnte, gesellte sich Reanne zu der Gruppe. Ihr Gesicht wies viele kleine Fältchen auf. In ihrem einfachen braunen Tuch und mit auf der linken Seite hochgenähten Röcken, so daß bunte Schichten Unterröcke zu sehen waren, hätte man sie ebenfalls für eine Bäuerin halten können.
»Wenn Ihr nach Hause zurückkehren wollt«, verkündete sie mit ihrer ungewöhnlich hohen Stimme, »könnt Ihr das jederzeit tun. Ich bedaure jedoch, in diesem Fall Eure Pferde hierbehalten zu müssen. Ihr werdet dafür entschädigt, sobald es möglich ist. Wenn Ihr Euch jedoch entscheidet zu bleiben, denkt daran, daß die Regeln des Bauernhofs noch immer gelten.« Eine Anzahl der Frauen um sie herum sahen sie mit offenen Mündern an. Malien war nicht die einzige, die verärgert den Mund aufsperrte.
Alise tauchte plötzlich an Reannes Seite auf, die Fäuste in die Hüften gestemmt. Sie lächelte jetzt nicht mehr. »Ich sagte, daß die letzten zehn, die zum Aufbruch bereit wären, den Abwasch übernehmen müß-ten«, belehrte sie die Frauen erneut entschlossen und benannte sie augenblicklich: Julien, eine rundliche Goldschmiedin, Naiselle, die Bankhalterin mit den kühlen Augen, sowie alle acht adligen Frauen. Sie standen da und starrten Alise an, bis sie in die Hände klatschte und verkündete: »Zwingt mich nicht, die Regel für Versäumnisse anzuwenden, damit Ihr Euren Anteil an den Aufgaben erledigt.«
Malien eilte mit geweiteten Augen und ungläubig vor sich hin murmelnd als letzte davon, um die Schalen einzusammeln, aber am nächsten Morgen verringerte sie ihr Bündel, indem sie spitzengesäumte Seidengewänder am Fuß des Hügels zurückließ, über die beim Aufbruch hinweggetrampelt wurde. Elayne erwartete weiteren Widerstand, aber Reanne führte die Frauen mit fester Hand und Alise mit noch festerer, und wenn Malien und die übrigen mürrisch dreinblickten und sich über die tagtäglich zunehmenden Schmutzflecken auf ihren Kleidern beklagten, waren nur wenige Worte Reannes nötig, um sie an die Arbeit zu schicken. Alise mußte sogar nur in die Hände klatschen.
Wäre die restliche Reise ebenso friedlich verlaufen, wäre Egwene bereit gewesen, sich diesen Frauen bei ihrer Schmutzarbeit anzuschließen. Dessen war sie sich schon lange sicher, bevor sie in Caemlyn eintrafen.
Als sie einen schmalen, staubigen Pfad erreichten, der kaum mehr als eine Wagenspur war, trafen sie bald auf Bauernhöfe, strohgedeckte Steinhäuser und an den Hügelhängen kauernde oder sich in Mulden schmiegende Scheunen. Von da an verbrachten sie, gleichgültig, ob das Land hügelig oder flach, bewaldet oder kahl war, selten viele Stunden außer Sicht eines Bauernhofs oder Dorfes. Während die Ortsansässigen die seltsamen Fremden anstarrten, versuchte Elayne überall zu erfahren, wieviel Unterstützung das Haus Trakand fand und worüber sich die Menschen am meisten sorgten. Es wäre bedeutsam, diese Sorgen anzusprechen, wenn sie ihren Anspruch auf den Thron hinreichend bestärken wollte — ebenso wichtig wie die Unterstützung durch andere Häuser. Sie hörte vieles, wenn auch nicht immer das, was sie sich zu hören erhofft hatte. Andoraner beanspruchten das Recht, der Königin selbst ihre Meinung kundzutun. Sie hielten sich einer jungen Adligen gegenüber kaum zurück, gleichgültig, welch eigentümliche Reisegefährten sie begleiteten.
In einem Dorf namens Damelien mit drei Mühlen neben einem schmalen, fast ausgetrockneten Fluß bemerkte ein Gastwirt mit kantigem Kinn, daß er Morgase für eine gute Königin gehalten habe, die beste, die man haben konnte, die beste, die es jemals gäbe. »Ihre Tochter wäre vielleicht auch eine gute Herrscherin gewesen«, fuhr er mürrisch fort und rieb mit dem Daumen über sein Kinn. »Schade, daß der Wiedergeborene Drache sie getötet hat. Vermutlich mußte er es tun — vielleicht wegen der Prophezeiungen —, aber er hatte keinen Grund, die Flüsse austrocknen zu lassen, nicht wahr? Wieviel Korn, sagtet Ihr, brauchen Eure Pferde, Lady? Ich fürchte, es ist sehr teuer.«
Eine Frau mit hartem Gesichtsausdruck in einem zerschlissenen braunen Gewand, das ihr offensichtlich zu groß war, begutachtete ein von einer niedrigen Steinmauer umgebenes Feld, von dem der heiße Wind Staub in den Wald fegte. Die übrigen Bauernhöfe um Grabhügel waren in ebenso schlechtem oder noch schlechterem Zustand. »Ich frage Euch — hatte der Wiedergeborene Drache ein Recht, uns das anzutun?« Sie spie aus und sah stirnrunzelnd zu Elayne auf. »Der Thron? Oh, Dyelin ist ebensogut wie jede andere, jetzt, da Morgase und ihre Tochter tot sind. Einige hier in der Gegend treten noch immer für Naean oder Elenia ein, aber ich bin für Dyelin. Doch Caemlyn ist weit entfernt, und meine Sorge gilt der Ernte. Wenn ich jemals wieder etwas ernten kann.«
»Oh, es ist wahr, meine Lady, es ist wahr. Elayne lebt«, belehrte sie ein hagerer alter Tischler in Forel Markt. Er war vollkommen kahl und seine Finger vom Alter verkrümmt, aber die Arbeiten, die in seiner Werkstatt zwischen Hobel- und Sägespänen standen, waren nicht schlechter als alle anderen, die Elayne bisher gesehen hatte. Sie war mit ihm allein in der Werkstatt. Das Dorf machte einen ziemlich verlassenen Eindruck. »Der Wiedergeborene Drache läßt sie nach Caemlyn bringen, um ihr die Rosenkrone eigenhändig aufzusetzen«, wagte er sich weiter vor. »Die Nachricht hat sich schnell verbreitet. Ich finde es nicht richtig. Wie ich hörte, ist er einer dieser schwarzäugigen Aiel. Wir sollten nach Caemlyn marschieren und ihn und alle Aiel dorthin zurücktreiben, woher sie gekommen sind. Dann kann Elayne den Thron selbst beanspruchen. Wenn Dyelin ihr den Thron überhaupt überläßt.«
Elayne hörte vieles über Rand. Man munkelte, daß er Elaida die Treue geschworen habe, und andere wollten wissen, daß er ausgerechnet der König von Illian sei. In Andor wurde er für alles Schlechte verantwortlich gemacht, was während der letzten zwei oder drei Jahre geschehen war, einschließlich Totgeburten und gebrochener Beine, Heuschreckenplagen, zweiköpfiger Kälber und dreibeiniger Hühner. Und selbst Menschen, die glaubten, Elaynes Mutter hätte das Land verwüstet und es sei ein Segen, daß die Herrschaft des Hauses Trakand beendet sei, hielten Rand al'Thor noch immer für einen Eindringling. Der Wiedergeborene Drache solle lieber den Dunklen König in Shayol Ghul bekämpfen und aus Andor vertrieben werden. Das war nicht das, was sie zu hören gehofft hatte, ganz und gar nicht. Aber sie hörte dieses Gerede immer und immer wieder. Es war eine durchwegs unerfreuliche Reise. Es war eine einzige lange Lektion in Linis Lieblingssprichwort: Nicht der Stein, den du siehst, ist schuld daran, wenn du auf die Nase fällst.
Sie dachte daran, daß die Adligen Schwierigkeiten machen könnten, und noch an eine Anzahl anderer Dinge, von denen einige gewiß ebenso große Erschütterungen hervorriefen wie das Wegetor. Durch den Vertrag mit Nynaeve und ihr selbst überheblich geworden, traten die Windsucherinnen den Aes Sedai gegenüber aufreizend überlegen auf, besonders nachdem herauskam, daß Merilille zugestimmt hatte, als eine der ersten Schwestern zu den Schiffen zu gehen. Aber obwohl eine Mißstimmung blieb, kam sie niemals ganz zum Ausbruch. Die Windsucherinnen und die Frauen der Schwesternschaft, besonders der Frauenzirkel, schienen ebenso gewiß mit ihrer Geduld am Ende. Sie ignorierten einander, wenn sie sich nicht offen verhöhnten, die Schwesternschaft die ›Meervolk-Wilden, die die Nase hoch tragen‹, und die Windsucherinnen die kriecherischen Sandwürmer, die den Aes Sedai die Füße küssen‹. Aber es ging niemals über geschürzte Lippen oder liebkoste Dolche hinaus.
Ispan bot gewiß Anlaß zur Sorge, wie Elayne glaubte, aber nach wenigen Tagen ließen Vandene und Adeleas sie ohne den Ledersack, jedoch abgeschirmt reiten, eine schweigsame Gestalt mit farbigen Perlen in ihren dünnen Zöpfen, das alterslose Gesicht gesenkt und die Zügel in Händen. Renaile erzählte jedermann, der zuhören wollte, daß eine Schattenfreundin unter den Atha'an Miere ihrer Namen beraubt wurde, sobald ihre Schuld bewiesen sei, und dann mit Steinen an den Füßen über Bord geworfen würde. Unter den Frauen der Schwesternschaft erblaßten sogar Reanne und Alise ein jedes Mal, wenn sie der Tarabonerin ansichtig wurden. Ispan hingegen wurde von Tag zu Tag sanfter, suchte eifrig zu gefallen und lächelte den beiden weißhaarigen Schwestern gewinnend zu, gleichgültig, was sie ihr antaten, wenn sie sie nachts von den übrigen fortbrachten. Adeleas und Vandene wurden andererseits immer mißmutiger. Adeleas berichtete Nynaeve in Elaynes Hörweite, daß die Frau ganze Bände über alte Pläne der Schwarzen Ajah erzählte, sowohl über jene, an denen sie nicht beteiligt war, wie auch über jene, die sie sehr wohl mit Begeisterung verfolgt hatte, aber selbst als sie sie hart bedrängten — Elayne mochte sich nicht überwinden zu fragen, wie dies geschah — und sie Namen von Schattenfreunden preisgab, waren es überwiegend Namen von Toten, unter denen kein Name einer Schwester war. Vandene äußerte ihre allmähliche Befürchtung, sie habe einen Eid geschworen, ihre Komplizen nicht zu verraten. Sie schirmten Ispan weiterhin so weit wie möglich von den anderen ab und fuhren mit ihren Befragungen fort, aber es war offensichtlich, daß sie sich blind und vorsichtig vorantasten mußten.
Und da waren Nynaeve und Lan, wobei sie bei dem Bemühen fast platzte, ihr Temperament in seiner Nähe zu zügeln. Nynaeve verträumte die Zeit mit Gedanken an ihn, wenn sie getrennt schlafen mußten — was bei der Einteilung der Unterkünfte fast immer der Fall war — und schwankte zwischen Begierde und Angst, wenn sie sich mit ihm auf einen Heuboden davonstehlen konnte. Elaynes Einschätzung nach war es ihr eigener Fehler, sich eine Meervolk-Hochzeit erwählt zu haben. Die Meervolkleute glaubten ebenso an Hierarchie wie an das Meer, und sie wußten, daß bei einem Ehepaar vielleicht viele Male in ihrem Leben einmal der eine und einmal der andere überwog. Ihre Hochzeitsriten trugen dem Rechnung. Wer auch immer das Recht hatte, offiziell zu befehlen, mußte privat gehorchen. Nynaeve behauptete, daß Lan niemals Nutzen daraus zog. »Nicht wirklich«, sagte sie, was immer das bedeuten sollte, und bei diesen Worten errötete sie stets. Aber sie wartete weiterhin darauf, daß er es täte, und ihn belustigte dies anscheinend in zunehmendem Maße. Diese Belustigung schürte natürlich wiederum Nynaeves Zorn. Und Nynaeve explodierte tatsächlich —von allen Wutausbrüchen, die Elayne erwartet hatte, der erste. Sie fauchte jeden an, der ihr in den Weg geriet, außer Lan, bei dem sie butterweich war, und Alise. Ein oder zwei Mal hätte sie beinahe die Beherrschung verloren, aber selbst Nynaeve konnte sich wohl nicht dazu bringen, Alise anzufauchen.
Elayne hegte Hoffnungen, nicht Sorgen, da auch die anderen Artefakte zusammen mit der Schale der Winde aus dem Rahad herausgebracht worden waren. Aviendha half ihr beim Suchen und auch Nynaeve das eine oder andere Mal, aber sie war viel zu langsam und unbeholfen und zeigte wenig Geschick darin, das, was sie suchten, zu finden. Sie entdeckten keinen Angreal mehr, aber die Sammlung von Ter 'angrealen wuchs. Nachdem aller Unrat beseitigt worden war, füllten die Gegenstände, die man mit Hilfe der Einen Macht benutzen konnte, fünf ganze Tragkörbe der Packpferde.
Da Elayne sehr vorsichtig vorging, schritt ihr Studium der Artefakte nicht allzu schnell voran. Hierbei war die Anwendung der Macht Geist die sicherste — es sei denn natürlich, daß zufällig Geist die Macht war, die den Gegenstand auslöste! —, aber hin und wieder mußte sie auch andere Stränge benutzen, die sie dann so sanft wie möglich verwob. Manchmal ergab ihr vorsichtiges Sondieren nichts, aber ihre erste Berührung eines Gegenstands, der wie ein gläsernes Geduldsspiel aussah, machte sie benommen und hielt sie die halbe Nacht wach, und ein Faden Feuer, der einen aus flaumigen Metallfedern gefertigten Helm berührte, verursachte jedermann innerhalb zwanzig Schritten rasende Kopfschmerzen. Außer ihr selbst. Und dann war da die karmesinrote Rute, die sich irgendwie heiß anfühlte.
Sie saß auf dem Rand ihres Bettes im Gasthaus Wilder Eber und untersuchte die glatte Rute im Licht zweier polierter Messinglampen. Von gleichem Umfang wie ihr Handgelenk und einen Fuß lang, schien sie aus Stein, fühlte sich aber eher nachgiebig an. Elayne war allein. Seit dem Vorfall mit dem Helm hatte sie versucht, ihre Studien fern von den übrigen zu betreiben. Die Hitze der Rute ließ sie an Feuer denken ...
Sie öffnete blinzelnd die Augen und setzte sich im Bett auf. Sonnenlicht strömte zum Fenster herein. Sie trug ihr Nachthemd, und Nynaeve stand vollständig angezogen da und blickte stirnrunzelnd auf sie herab. Aviendha und Birgitte beobachteten die Szene von der Tür aus.
»Was ist geschehen?« fragte Elayne, doch Nynaeve schüttelte grimmig den Kopf.
»Das willst du nicht wissen.« Ihre Lippen zuckten.
Aviendhas Miene verriet nichts. Birgittes Mund war vielleicht ein wenig angespannt, aber ihre stärkste Empfindung, die sich Elayne vermittelte, war eine Mischung aus Erleichterung und — Heiterkeit! Es kostete die Frau Mühe, sich nicht lachend auf dem Boden zu wälzen!
Das schlimmste daran war, daß niemand ihr erzählen wollte, was geschehen war. Was hatte sie nur gesagt oder getan? Sie war sicher, daß es das war, dem rasch versteckten Grinsen der Frauen der Schwesternschaft, der Windsucherinnen und auch der übrigen Schwestern nach zu urteilen. Aber niemand wollte es ihr sagen! Danach beschloß sie, das Studium der Ter'angreale an einen behaglicheren Ort zu verlegen. Irgendwohin, wo sie entschieden ungestörter war!
Neun Tage nach ihrer Flucht aus Ebou Dar erschienen hier und da Wolken am Himmel, und vereinzelte dicke Regentropfen ließen auf der Straße Staub aufstieben. Am nächsten Tag nieselte es mit Unterbrechungen, und am nachfolgenden Tag hielt sie strömender Regen in den Häusern und Scheunen von Forel Markt. In der Nacht verwandelte sich der Regen in Graupel, und am Morgen schwebte dichtes Schneegestöber von einem von dunklen Wolken verhangenen Himmel. Nachdem sie mehr als die Hälfte des Weges nach Caemlyn zurückgelegt hatten, hegte Elayne Zweifel, ob sie die restliche Strecke in zwei Wochen schaffen würden.
Mit dem Schnee erwies sich die Kleidung als unzureichend. Elayne machte sich Vorwürfe, weil sie nicht bedacht hatte, daß jedermann warme Kleidung benötigen könnte, bevor sie ihr Ziel erreichten. Auch Nynaeve machte sich Vorwürfe, nicht daran gedacht zu haben. Merilille hielt es für ihr eigenes Versäumnis, und Reanne ebenfalls. Tatsächlich standen sie an diesem Morgen auf der Hauptstraße von Forel Markt und stritten darüber, wem die Vorwürfe gebührten, während sich Schneeflocken auf ihren Köpfen niederließen. Elayne war sich hinterher nicht mehr sicher, wem von ihnen die Unsinnigkeit ihres Streits zuerst auffiel, wer als erster lachte, aber schließlich lachten sie alle, als sie sich im Weißen Schwan um einen Tisch niederließen, um das weitere Vorgehen zu erörtern. Eine mögliche Lösung ließ ihnen das Lachen jedoch vergehen: Jeden mit einer warmen Jacke oder einem Umhang zu versorgen würde ihre Geldbörse stark schrumpfen lassen, wenn man überhaupt so viele wie nötig auftreiben konnte. Natürlich konnte Schmuck verkauft werden, aber niemand in Forel Markt schien an ihren edlen Halsketten oder Armbändern interessiert.
Aviendha löste dieses Problem, indem sie einen kleinen Beutel voll reinen, perfekten, teilweise recht großen Edelsteinen präsentierte. Seltsamerweise starrten genau die Leute, die nicht allzu höflich erklärt hatten, sie hätten keine Verwendung für juwelenbesetzte Halsketten, mit großen Augen auf die ungefaßten Steine auf Aviendhas Handfläche. Reanne meinte, das eine sähen sie als Tand und das andere als Reichtum an, aber was auch immer sie bewog, die Leute von Forel Markt waren überaus bereit, im Austausch für zwei Rubine mittelmäßiger Größe, einen großen Mondstein und einen kleinen Feuertropfen so viele dicke, teilweise kaum getragene Kleidungsstücke heranzuschaffen, wie ihre Besucher wünschten.
»Sehr großzügig von ihnen«, murrte Nynaeve verärgert, als die Leute begannen, Kleider aus ihren Kisten und Dachböden auszugraben. Ein beständiger Strom von Menschen marschierte mit Armen voller Kleidung in das Gasthaus. »Mit diesen Steinen könnte man das ganze Dorf kaufen!« Aviendha zuckte die Achseln. Sie hätte eine Handvoll Edelsteine hergegeben, wenn Reanne nicht eingeschritten wäre.
Merilille schüttelte den Kopf. »Wir haben, was sie wollen, aber sie haben auch, was wir wollen. Ich fürchte, das bedeutet, daß sie den Preis bestimmen.« Was nur allzu sehr dem Verhältnis zum Meervolk entsprach. Nynaeve fühlte sich entschieden unwohl.
Als sie in einem Gang des Gasthauses allein waren, fragte Elayne Aviendha, woher sie ein solches Vermögen an Edelsteinen hatte, und noch dazu eines, das sie so eifrig loswerden wollte. Sie erwartete als Antwort von ihrer Nächstschwester, es sei Beute aus dem Stein von Tear oder vielleicht aus Cairhien.
»Rand al'Thor hat mich getäuscht«, murrte Aviendha verdrießlich. »Ich habe versucht, mich von meinem Toh ihm gegenüber freizukaufen. Ich weiß, daß das der ehrloseste Weg ist«, begehrte sie auf, »aber ich habe keine andere Möglichkeit gesehen, und er hatte leichtes Spiel mit mir! Warum tut ein Mann, wenn man die Dinge logisch überdenkt, stets etwas vollkommen Unlogisches und gewinnt dennoch die Oberhand?«
»Ihre hübschen Köpfe sind so wirr, daß eine Frau nicht erwarten darf, ihren Gedankengängen zu folgen«, belehrte Elayne sie. Angesichts des Beutels voller wertvoller Edelsteine im Besitz ihrer Nächstschwester fragte sie nicht, welches Toh Aviendha freizukaufen beabsichtigt hatte oder wie der Versuch geendet hatte. Es war schon ohne die Vorstellung, wo dies hinführen sollte, schwer genug, über Rand zu sprechen.
Der Schnee machte noch mehr als nur warme Kleidung nötig. Gegen Mittag, als das Schneegestöber weiter zunahm, schritt Renaile die Treppe in den Gemeinschaftsraum hinab. Sie verkündete, daß ihr Teil des Handels erfüllt sei, und forderte nicht nur die Schale der Winde, sondern auch Merilille. Die Graue Schwester starrte sie bestürzt an — wie auch viele andere. Die Bänke waren mit den Frauen der Schwesternschaft besetzt, die jetzt an der Reihe waren, ihr Mittagsmahl einzunehmen. Bedienungen liefen umher und versorgten diese dritte Gruppe. Renaile sprach laut und vernehmlich, und aller Augen im Raum wandten sich ihr zu.
»Ihr könnt jetzt mit Eurer Lektion beginnen«, belehrte Renaile die verblüffte Aes Sedai. »Geht in meine Räume hinauf.« Merilille wollte widersprechen, aber die Windsucherin der Herrin der Schiffe stemmte mit kalter Miene die Fäuste in die Hüften. »Wenn ich einen Befehl gebe, Merilille Ceandevin«, sagte sie frostig, »erwarte ich, daß jedermann an Deck springt. Und jetzt springt Ihr!«
Merilille sprang nicht wirklich, aber sie riß sich zusammen und stieg, mehr oder weniger von Renaile gescheucht, die Treppe hinauf. Sie hatte aufgrund ihres Versprechens keine andere Wahl. Reanne bemühte sich um Fassung. Alise und die untersetzte Sumeko, die noch immer ihren roten Gürtel trug, schauten nachdenklich drein.
In den folgenden Tagen behielt Renaile Merilille, außer wenn sie mit einer anderen Windsucherin unterwegs war, in ihrer Nähe, gleichgültig, ob sie sich auf Pferden einen schneebedeckten Weg entlang mühten, durch die Straßen eines Dorfes gingen oder auf einem Bauernhof Quartier zu finden hofften. Das Schimmern Saidars umgab die Graue Schwester und ihre Eskorte fast ununterbrochen, und Merilille führte ein Gewebe nach dem anderen vor. Die blasse Cairhienerin war merklich kleiner als jede der dunklen MeervolkFrauen, aber zunächst gelang es Merilille durch die reine Macht der Gelassenheit der Aes Sedai, größer zu erscheinen. Schon bald wirkte sie jedoch ständig erschreckt. Elayne erfuhr, als sie einmal alle Betten zum Schlafen hatten, was nur selten der Fall war, daß Merilille sich einen Raum mit Pol, ihrer Dienerin, und den Schülern der Windsucherinnen, Talaan und Metarra, teilte. Elayne war sich nicht sicher, was das über Merililles Status verriet. Die Windsucherinnen stellten sie eindeutig nicht auf eine Stufe mit den Schülern. Sie erwarteten einfach, daß sie ohne Verzögerungen oder Ausflüchte tat, was man ihr sagte.
Reanne war nach wie vor über die Wendung der Ereignisse entsetzt, aber Alise und Sumeko waren nicht die einzigen unter den Frauen der Schwesternschaft, die genau beobachteten, und auch nicht die einzigen, die nachdenklich nickten. Und plötzlich bemerkte Elayne noch ein weiteres Problem. Die Frauen der Schwesternschaft sahen Ispan in der Gefangenschaft immer gefügiger werden, aber sie war die Gefangene anderer Aes Sedai. Die Meervolk-Frauen waren keine Aes Sedai und Merilille keine Gefangene, und doch sprang sie, wenn Renaile einen Befehl erteilte oder auch Dorile oder Caire oder Caires Blutsschwester Tebreille. Bei immer mehr Frauen der Schwesternschaft wich entsetztes Staunen nachdenklicher Beobachtung.
Vielleicht waren Aes Sedai doch nicht so verschieden. Wenn Aes Sedai einfach Frauen wie sie selbst waren —warum sollten sie sich dann erneut der Strenge der Burg, der Autorität und Disziplin der Aes Sedai unterwerfen? Hatten sie nicht auch allein sehr gut überlebt, einige weitaus längere Zeit, als irgendeine der älteren Schwestern zu glauben bereit war? Elayne sah es ihnen beinahe an, wie der Gedanke in ihren Köpfen entstand.
Als sie es jedoch Nynaeve gegenüber erwähnte, murrte diese nur: »Es war höchste Zeit, daß einige der Schwestern erfahren, wie es ist, wenn man eine Frau zu lehren versucht, die mehr zu wissen glaubt. Diejenigen, die die Voraussetzungen haben, die Stola zu erlangen, werden sie noch immer erlangen wollen, und was die übrigen betrifft, so kann ich nicht erkennen, warum sie nicht ein wenig Selbstvertrauen gewinnen sollten.« Elayne sah davon ab, Nynaeves Klagen über Sumeko zu erwähnen, die gewiß Selbstvertrauen gezeigt hatte. Sumeko hatte mehrere von Nynaeves Heilgeweben als ›unbeholfen‹ bezeichnet, und Elayne hatte gedacht, Nynaeve würde augenblicklich der Schlag treffen. »Es ist jedenfalls nicht nötig, Egwene irgend etwas davon zu erzählen, wenn sie wieder da ist. Sie hat schon genug Sorgen.« Das ›irgend etwas davon‹ bezog sich zweifellos auf Merilille und die Windsucherinnen.
Sie saßen im Nachthemd auf ihren Betten im zweiten Stock des Gasthauses Neuer Pflug, und sie trugen den gedrehten, ringförmigen Traum-Ter'angreal um ihren Hals, Elayne an einem einfachen Lederband und Nynaeve neben Lans schwerem Siegelring an einer dünnen goldenen Kette. Aviendha und Birgitte, die noch vollkommen angekleidet waren, saßen auf ihren Kleiderkisten. Sie nannten es ›Wache halten‹, bis Elayne und Nynaeve aus der Welt der Träume zurückgekehrt wären. Beide trugen ihre Umhänge, bis sie unter ihre Decken kriechen könnten. Der Neue Pflug war ganz und gar nicht neu. Netzförmige Risse überzogen die getünchten Wände, durch die es obendrein zog.
Das Zimmer selbst war klein, und die Kisten und aufeinandergestapelten Bündel ließen nur für wenig anderes außer Betten und den Waschtisch Platz. Elayne wußte, daß sie in Caemlyn repräsentieren müßte, aber manchmal fühlte sie sich doch schuldig, wenn ihre Habe auf Packpferden transportiert wurde, während die meisten anderen Frauen mit dem auskommen mußten, was sie auf ihren Rücken tragen konnten. Nynaeve zeigte jedoch niemals Reue wegen ihrer Kisten. Sie waren bereits seit sechzehn Tagen unterwegs. Der Vollmond am nächtlichen Himmel schien auf eine hohe Schneedecke, die das Reisen morgen erschweren würde, selbst wenn der Himmel klar bliebe, und Elayne hielt es für eine optimistische Einschätzung, wenn man noch eine weitere Woche nach Caemlyn einplante.
»Ich bin klug genug, sie nicht daran zu erinnern«, belehrte sie Nynaeve. »Ich will nicht noch einmal zurechtgewiesen werden.«
Das war milde ausgedrückt. Sie hatten Tel'aran'rhiod nicht mehr betreten, seit sie Egwene in der Nacht nach dem Aufbruch vom Gutshof mitgeteilt hatten, daß die Schale der Winde benutzt worden war. Sie hatten ihr auch widerwillig von dem Vertrag mit dem Meervolk berichtet, zu dem sie gezwungen gewesen waren — und fanden sich jäh dem Amyrlin-Sitz mit der gestreiften Stola um die Schultern gegenüber. Elayne wußte, daß es nötig und Rechtens war — die engste Freundin unter den Untertanen einer Königin wußte sehr wohl, daß diese nicht nur eine Freundin, sondern auch die Königin war. Aber es hatte ihr nicht gefallen, daß ihre Freundin ihnen mit zorniger Stimme vorgeworfen hatte, sie hätten sich wie geistlose Tölpel verhalten, die ihnen allen womöglich den Untergang beschert hätten — besonders, da Elayne ihr insgeheim zustimmen mußte. Es hatte ihr auch nicht gefallen zu hören, daß Egwene ihnen beiden nur deswegen keine strenge Buße auferlegte, weil sie es sich nicht leisten konnte, sie ihre Zeit verschwenden zu lassen. Dennoch war es nötig und Rechtens gewesen. Wenn sie den Löwenthron innehätte, wäre sie noch immer eine Aes Sedai und deren Gesetzen, Regeln und Bräuchen unterworfen. Das galt nicht für Andor — sie würde ihr Land nicht der Weißen Burg übergeben —, aber für sie selbst. Daher akzeptierte sie Egwenes Vorhaltungen ruhig, so unerfreulich sie auch waren. Nynaeve hatte sich gewunden und verlegen gestottert, widersprochen und fast geschmollt, sich aber dann so ausgiebig entschuldigt, daß Elayne kaum glauben konnte, sie sei noch dieselbe Frau, die sie schon so lange kannte. Natürlich war Egwene die Amyrlin geblieben, in ihrer Ungehaltenheit kühl, selbst als sie ihr die Fehler verzieh. Heute nacht konnte es bestenfalls noch unerfreulicher oder ungemütlicher werden, wenn Egwene anwesend war.
Aber als sie sich ins Salidar Tel'aran'rhiods träumten, in jenen Raum der Kleinen Burg, der das Arbeitszimmer der Amyrlin genannt wurde, war Egwene nicht dort, und der einzige Hinweis darauf, daß sie den Raum seit ihrem letzten Treffen aufgesucht hatte, waren einige wie von einer trägen Hand, die sich nicht viel Mühe machen wollte, grob auf ein wurmzerfressenes Wandpaneel geritzte, kaum sichtbare Worte.
BLEIBT IN CAEMLYN
Und wenige Handbreit daneben:
VERHALTET EUCH RUHIG UND SEID VORSICHTIG
Das waren Egwenes letzte Anweisungen. Sie sollten nach Caemlyn ziehen und dort bleiben, bis sie herausfand, wie man den Saal daran hindern könnte, sie alle zu vernichten. Eine Mahnung, die sie nicht auslöschen konnten.
Elayne umarmte Saidar und lenkte die Macht, um ihre Nachricht zu hinterlassen: die Zahl Fünfzehn scheinbar auf den schweren Tisch eingeritzt, der Egwenes Schreibtisch gewesen war. Indem sie das Gewebe umkehrte und abband, würde nur jemand, der seine Finger über die Ziffern gleiten ließ, erkennen, daß sie nicht wirklich vorhanden waren. Vielleicht brauchten sie keine fünfzehn Tage bis Caemlyn, aber gewiß mehr als eine Woche.
Nynaeve schritt zum Fenster und spähte in beide Richtungen hinaus, wobei sie sorgfältig darauf achtete, den Kopf nicht zu weit vorzustrecken. Dort draußen war es ebenso Nacht wie in der wachen Welt, und der helle Schein des Vollmonds schimmerte auf dem Schnee, obwohl sich die Luft nicht kalt anfühlte. Außer ihnen sollte niemand dort sein, und wenn jemand dort war, sollte man ihn tunlichst meiden. »Hoffentlich sind ihre Pläne nicht durcheinandergeraten«, murmelte sie.
»Sie hat uns befohlen, diese Pläne nicht einmal untereinander zu erwähnen, Nynaeve. ›Ein ausgesprochenes Geheimnis bekommt Flügel.‹« Das war ein weiteres von Linis vielen Lieblingssprichworten gewesen.
Nynaeve sah sie über die Schulter mit verzerrter Miene an und betrachtete dann wieder die schmale Gasse. »Für dich ist es anders. Ich habe sie als Kind umsorgt, ihre Windeln gewechselt und ihr gelegentlich den Hintern versohlt. Und jetzt muß ich springen, wenn sie mit den Fingern schnippt. Das ist schwer.«
Elayne konnte nicht anders. Sie schnippte mit den Fingern.
Nynaeve fuhr so schnell herum, daß ihr Anblick verschwamm, die Augen vor Entsetzen geweitet. Ihr Gewand verwandelte sich von einem blauen Reitgewand zunächst in das mit Streifen versehene Weiß der Aufgenommenen und dann in das dunkle, robuste Tuch der Zwei Flüsse. Als sie erkannte, daß Egwene nicht da war, wurde sie vor Erleichterung fast ohnmächtig.
Als sie wieder in ihre Körper zurückkehrten und erwachten, um den anderen zu sagen, sie könnten zu Bett gehen, hielt Aviendha die Geschichte gewiß für einen guten Scherz, und Birgitte lachte ebenfalls. Nynaeve bekam jedoch ihre Rache. Am nächsten Morgen weckte sie Elayne mit einem Eiszapfen. Elaynes Schreie weckten auch alle übrigen im ganzen Dorf auf.
Drei Tage später erfolgte die erste Erschütterung.