Die Cemaros genannten großen Winterstürme tobten weiterhin vom Meer der Stürme heran und rauher, als selbst die Alten sich erinnerten. Einige meinten, die Cemaros wollten in diesem Jahr ihre monatelange Verspätung wettmachen. Blitze rissen den Himmel auf, so daß die Dunkelheit in Licht getaucht wurde. Wind peitschte das Land, und Regen prasselte darauf ein und verwandelte die ausgetrockneten Wege in Schlammströme. Manchmal gefror der Schlamm nach Einbruch der Nacht, aber der Sonnenaufgang brachte sogar unter einem grauen Himmel stets Tauwetter mit sich, und der Boden wurde wieder morastig. Rand war überrascht, wie sehr all dies seine Pläne behinderte.
Die Asha'man, nach denen er geschickt hatte, kamen bereits am Morgen des nächsten Tages; sie ritten aus einem Wegetor in strömenden Regen hinein, der die Sonne so stark verdunkelte, daß man meinen konnte, der Abend dämmere bereits. Durch die Öffnung in der Luft fiel aus Andor Schnee. Dicke weiße Flocken wirbelten dicht umher und verbargen, was dahinter lag. Die meisten Männer der kleinen Kolonne waren in schwere schwarze Umhänge gehüllt, aber der Regen mied sie und ihre Pferde anscheinend. Es war nicht offensichtlich, und doch sah jedermann, der es bemerkte, ein zweites, wenn nicht ein drittes Mal hin. Es war nur ein einfaches Gewebe nötig, um trocken zu bleiben, solange man nichts dagegen hatte, damit zu prahlen, was man war. Aber das übernahm ohnehin die schwarzweiße, auf einen karmesinroten Kreis vorn auf ihren Umhang eingearbeitete Scheibe. Selbst vom Regen halb verborgen, umgab die Männer ein dünkelhafter Stolz, wie sie in ihren Sätteln saßen. Sie waren stolz auf das, was sie waren.
Ihr Befehlshaber, Charl Gedwyn, war einige Jahre älter als Rand und mittelgroß; wie auch Torval trug er das Schwert und den Drachen am Kragen seiner Jacke aus bester schwarzer Seide. Seine Schwertscheide war üppig verziert, und sein aus Silber gefertigter Schwertgürtel war mit einer ebenfalls silbernen Schnalle in der Form einer geballten Faust geschlossen. Gedwyn nannte sich Tsorovan'm'hael, in der Alten Sprache Beherrscher des Sturms, was immer das bedeuten mochte. Es schien zumindest dem Wetter angemessen.
Dennoch stand Gedwyn unmittelbar hinter dem Eingang von Rands reichverziertem grünem Zelt und blickte stirnrunzelnd in den strömenden Regen hinaus. Eine Wache berittener Gefährten umgab das Zelt in nicht mehr als dreißig Schritt Entfernung, die jedoch kaum zu sehen waren. Sie hätten Statuen sein können, da sie dem strömenden Regen trotzten.
»Wie soll ich Eurer Ansicht nach bei diesem Wetter jemanden finden?« murrte Gedwyn und schaute über die Schulter zu Rand. Kurz darauf fügte er hinzu: »Mein Lord Drache.« Sein Blick war unnachgiebig und herausfordernd, aber das war er stets, gleichgültig, ob er auf einen Menschen oder einen Zaunpfahl gerichtet war. »Rochaid und ich haben acht Geweihte und vierzig Soldaten mitgebracht, genügend Männer, um ein Heer zu vernichten oder zehn Könige einzuschüchtern. Wir könnten vielleicht sogar eine Aes Sedai zum Blinzeln veranlassen«, sagte er angespannt. »Verdammt, wir beide allein könnten schon einiges bewirken. Oder Ihr könntet es. Warum braucht Ihr noch jemand anderen?«
»Ich erwarte von Euch, daß Ihr gehorcht, Gedwyn«, erwiderte Rand kalt. Beherrscher des Sturms? Manel Rochaid, Gedwyns Stellvertreter, nannte sich Baijan'm'hael, Beherrscher des Angriffs. Was führte Taim im Schilde, indem er neue Ränge schuf? Wichtig war, daß der Mann Waffen gestaltete. Hauptsache, daß die Waffen lange genug bei geistiger Gesundheit blieben, um noch eingesetzt werden zu können. »Hingegen erwarte ich nicht von Euch, daß Ihr Eure Zeit damit verschwendet, meine Anweisungen in Frage zu stellen.«
»Wie Ihr befehlt, mein Lord Drache«, murmelte Gedwyn. »Ich werde meine Männer sofort ausschicken.« Er salutierte kurz, die geballte Faust an der Brust, und schritt in den Regen hinaus. Die Flut wich vor ihm aus und rann den schmalen Schild herab, den er um sich gewoben hatte. Rand fragte sich, ob der Mann ahnte, wie nahe er dem Tod gekommen war, als er Saidin ohne Vorwarnung ergriffen hatte.
Du mußt ihn töten, bevor er dich tötet, kicherte Lews Therin. Sie werden es tun. Tote können niemanden verraten. Die Stimme in Rands Kopf nahm einen verwunderten Unterton an. Aber manchmal sterben sie nicht. Bin ich tot? Und du?
Rand verdrängte die Stimme, bis sie nur noch ein gerade eben vernehmbares Summen war. Lews Therin schwieg seit seinem Wiedererscheinen in Rands Kopf selten, wenn er nicht dazu gezwungen wurde. Der Mann schien jetzt wahnsinniger und zorniger denn je. Und manchmal auch stärker. Diese Stimme suchte auch Rands Träume heim, und wenn er sich selbst in einem Traum sah, war es nicht immer wirklich er selbst, den er erblickte. Es war auch nicht immer Lews Therin, die Fratze, die er inzwischen als Lews Therins Gesicht erkannte. Manchmal war es verschwommen und doch vage vertraut, und Lews Therin schien davor ebenfalls zu erschrecken. Das war ein Hinweis darauf, wie weit der Wahnsinn bei Lews Therin fortgeschritten war. Oder vielleicht bei ihm selbst.
Noch nicht, dachte Rand. Ich kann es mir noch nicht leisten, wahnsinnig zu werden.
Wann dann? flüsterte Lews Therin, bevor Rand ihn wieder zürn Schweigen bringen konnte.
Mit der Ankunft Gedwyns und der Asha'man begann die Ausführung seines Plans, die Seanchaner westwärts zu treiben, schritt jedoch sehr zögerlich voran. Rand wechselte unverzüglich sein Lager und bemühte sich nicht, sein Vorgehen zu verbergen. Es hatte wenig Sinn, Geheimhaltung anzustreben. Nachrichten wurden durch Tauben langsam und durch Kuriere noch weitaus langsamer verbreitet, und doch zweifelte Rand nicht daran, daß er beobachtet wurde —von der Weißen Burg, von den Verlorenen, von jedermann, der dort Gewinne oder Verluste vermutete, wohin der Wiedergeborene Drache zog, und es sich leisten konnte, einen Soldaten zu bestechen. Vielleicht sogar auch von den Seanchanern. Wenn er sie auskundschaften konnte — warum sollte es ihnen dann nicht in gleicher Weise gelingen? Aber nicht einmal die Asha'man wußten, warum er weiterzog.
Während Rand müßig zusah, wie Männer sein Zelt auf einen hochrädrigen Karren luden, erschien Weiramon auf einem seiner vielen Pferde, ein stolzer weißer Wallach edelster tairenischer Zucht. Der Regen hatte nachgelassen, obwohl noch immer graue Wolken die Mittagssonne verschleierten und die Luft feucht war. Das Drachenbanner und das Banner des Lichts hingen schlaff und naß an ihren hohen Masten.
Tairenische Verteidiger hatten die Gefährten inzwischen ersetzt, und als Weiramon durch den Kreis der Wächter ritt, betrachtete er mit finsterer Miene Rodrivar Tihera, einen hageren Burschen, der selbst für einen Tairener dunkelhäutig war und einen spitz gestutzten Bart trug. Als völlig unbedeutender Adliger, der sich durch seine Verdienste hocharbeiten mußte, nahm es Tihera besonders genau. Die breiten weißen Federn auf seinem Helm machten seine sorgfältige Verbeugung vor Weiramon überaus eindrucksvoll, woraufhin der Hochlord noch finsterer dreinblickte als zuvor.
Der Befehlshaber des Steins mußte die Verantwortung für Rands Leibwache nicht persönlich übernehmen, aber des öfteren tat er es dennoch, ebenso wie Marcolin häufig die Gefährten selbst befehligte. Eine oft verbitterte Rivalität war zwischen den Verteidigern und den Gefährten über die Frage entstanden, wer Rand beschützen sollte. Die Tairener beanspruchten dieses Vorrecht, weil er länger in Tear regiert hatte, und die Illianer beanspruchten es, weil er immerhin König von Illian war. Vielleicht hatte Weiramon von der Forderung der Verteidiger gehört, Tear müsse einen eigenen König bekommen — und wer wäre dafür besser geeignet als der Mann, der den Stein eingenommen hatte? Weiramon stimmte durchaus zu, daß Tear einen eigenen König haben sollte, aber er war nicht mit der Wahl desjenigen einverstanden, der die Krone tragen sollte, und er war nicht der einzige, der so dachte.
Der Mann glättete seine Züge, sobald er Rands Blick bemerkte, und schwang sich aus seinem goldverzierten Sattel, um eine Tiheras weit überlegene Verbeugung zu vollführen, obwohl er unmerklich das Gesicht verzog, als er seinen polierten Stiefel in den Schlamm setzen mußte. Er trug einen Regenumhang, der die Feuchtigkeit von seiner edlen Kleidung abhielt, aber selbst dieser war mit Goldfäden bestickt und wies einen Kragen aus Saphiren auf. Trotz Rands Umhang aus dunkelgrüner Seide, dessen Saum goldene Bienen zierten, wäre es jedermann zu verzeihen gewesen, wenn er vermutet hätte, Weiramon und nicht Rand müsse die Schwerterkrone tragen.
»Mein Lord Drache«, begann Weiramon. »Ich kann Euch gar nicht sagen, wie froh ich bin, Euch von Tairenern beschützt zu sehen. Die Welt würde gewiß trauern, wenn Euch etwas zustieße.« Er war zu gescheit, um sich so weit vorzuwagen, die Gefährten als nicht vertrauenswürdig zu bezeichnen. Fast zu gescheit.
»Früher oder später wird es geschehen«, sagte Rand trocken. »Und ich weiß, wie sehr Ihr trauern würdet, Weiramon.«
Der Bursche bildete sich tatsächlich etwas darauf ein und strich sich über seinen spitzen, von Grau durchzogenen Bart. Er hörte, was er hören wollte. »Seid meiner Treue versichert, mein Lord, denn sie ist auch der Grund dafür, warum mich die Befehle beunruhigen, die Euer Kurier mir heute morgen überbrachte.« Das war Adley gewesen. Viele der Adligen glaubten, daß ihnen von den Asha'man weniger Gefahr drohte, wenn sie sie lediglich als Rands Diener betrachteten. »Es war klug von Euch, die meisten Cairhiener und natürlich auch die Illianer fortzuschicken. Das versteht sich von selbst. Ich kann sogar verstehen, warum Ihr Gueyam und den übrigen mißtraut.« Weiramons Stiefel machten klatschende Geräusche im Schlamm, als er näher trat, und seine Stimme nahm einen vertrauensvollen Unterton an. »Ich glaube, daß einige von ihnen ... Nun, ich würde nicht sagen, daß sie gegen Euch intrigiert haben, aber ihre Treue war wohl nicht immer so untadelig wie die meine.« Sein Tonfall veränderte sich erneut, wurde fest und zuversichtlich, die Stimme eines Mannes, der sich nur um die Bedürfnisse desjenigen kümmert, dem er dient. Desjenigen, der gewiß ihn zum ersten König von Tear machen würde. »Gestattet mir, alle meine Waffenträger aufzubieten, mein Lord Drache. Mit ihnen und den Verteidigern kann ich mich für die Ehre des Herrn des Morgens und seine Sicherheit verbürgen.«
In jedem der über die Heide verstreuten Lager wurden Wagen und Karren beladen und Pferde gesattelt. Die meisten Zelte waren bereits abgebaut. Die Hochlady Rosana ritt gen Norden, und ihrem Banner folgten genügend Leute, um unter den Banditen Verwüstung anrichten und die Shaido zumindest eine Weile aufhalten zu können. Aber nicht genug, um sie leichtsinnig werden zu lassen, besonders dann nicht, wenn die Hälfte der Männer Gueyams und Maraconns Gefolgsleute waren, die von Verteidigern des Steins unterstützt wurden. Ähnliches galt für Spiron Narettin, der mit ebenso vielen Gefährten und anderen aus dem Konzil der Neun Verschworenen ostwärts über den hohen Bergrücken ritt. Seine Truppe wurde verstärkt durch hundert weitere Fußsoldaten, bei denen es sich um einige der Burschen handelte, die sich am Tag zuvor in den Wäldern jenseits dieses Bergrückens ergeben hatten und nun das Ende der Reihe bildeten. Überraschend viele der Männer hatten die Möglichkeit gewählt, dem Wiedergeborenen Drachen zu folgen, aber Rand traute ihnen nicht genug, um sie zusammenbleiben zu lassen. Tolmeran brach gerade mit derselben Zusammenstellung von Leuten gen Süden auf, und weitere würden abmarschieren, sobald ihre Karren und Wagen beladen waren. Alle in verschiedene Richtungen, und niemand konnte den Männern in seinem Rücken ausreichend trauen, um mehr zu tun, als Rands Befehlen zu folgen. Es war eine wichtige Aufgabe, Illian den Frieden zu bringen, und doch bedauerte es jeder einzelne Lord und jede einzelne Lady, vom Wiedergeborenen Drachen fortgeschickt zu werden, und fragte sich offensichtlich, ob dies bedeutete, daß sie sein Vertrauen verloren hatten. Obwohl einige wenige vielleicht auch überlegt hatten, warum er jene, die er unter seiner Aufsicht beließ, bei sich behielt. Rosana hatte jedenfalls nachdenklich dreingeschaut.
»Eure Sorge rührt mich«, sagte Rand zu Weiramon, »aber wie viele Leibwächter braucht ein Mann? Ich will keinen Krieg beginnen.« Es war vielleicht ein guter Einwand, aber dieser Krieg war bereits im Entstehen begriffen. Er hatte in Falme begonnen, wenn nicht schon vorher. »Macht Eure Leute marschbereit.«
Wie viele sind für meinen Stolz gestorben? stöhnte Lews Therin. Wie viele sind für meine Fehler gestorben?
»Darf ich zumindest fragen, wohin wir ziehen?« Weiramons fast verärgerte Frage erklang unmittelbar nach der Stimme in Rands Kopf.
»In die Stadt«, fauchte Rand. Er wußte nicht, wie viele Menschen durch seine Fehler ums Leben gekommen waren, aber er war sich sicher, daß niemand für seinen Stolz gestorben war.
Weiramon öffnete verwirrt den Mund, da er nicht wußte, ob Rand Tear oder Illian oder vielleicht sogar Cairhien meinte, aber dieser scheuchte ihn mit einer harschen, fast zustechenden Bewegung mit dem Drachenszepter davon, welche die grünweißen Quasten schwingen ließ. Er wünschte halbwegs, er hätte damit gleichzeitig Lews Therin erstechen können. »Ich beabsichtige nicht, den ganzen Tag hier herumzusitzen, Weiramon! Geht zu Euren Männern!«
Kaum eine Stunde später ergriff er die Wahre Quelle und machte sich bereit, ein Wegetor für das Reisen zu gestalten. Er mußte gegen die Benommenheit ankämpfen, die ihn in letzter Zeit umfing, wann immer er die Macht ergriff oder losließ, und schwankte fast in Tai'daishars Sattel. Die Quelle zu berühren kam für ihn fast Übelkeit gleich. Wenn er doppelt sah, und sei es auch nur für wenige Augenblicke, wurde das Gestalten von Gewebesträngen schwierig, wenn nicht unmöglich. Er hätte Dashiva oder Flinn oder jemand anderen bitten können, es für ihn zu tun, aber Gedwyn und Rochaid warteten mit ihren Pferden vor ungefähr einem Dutzend Soldaten in schwarzen Jacken, all jene, die nicht auf die Suche gegangen waren. Sie warteten einfach schweigend ab und beobachteten Rand. Rochaid, höchstens eine Handbreit kleiner als Rand und vielleicht zwei Jahre jünger, war ebenfalls ein vollständig ausgebildeter Asha'man, und auch seine Jacke bestand aus Seide. Ein kleines Lächeln umspielte seine Lippen, als wüßte er Dinge, von denen andere nichts wußten. Was wußte er? Gewiß etwas über die Seanchaner — wenn nicht sogar über Rands Pläne mit ihnen. Was noch? Vielleicht nichts, aber Rand würde vor diesen beiden keine Schwäche zeigen. Die Benommenheit schwand rasch, wenn auch die Doppelsichtigkeit wie stets während der letzten Wochen ein wenig langsamer, und dann vollendete er das Gewebe ohne innezuhalten, gab seinem Pferd die Sporen und ritt durch die sich vor ihm entstehende Öffnung.
Die Stadt, von der er gesprochen hatte, war Illian, wobei sich das Wegetor im Norden der Stadt eröffnete. Trotz Weiramons vermeintlicher Besorgnis ging er wohl kaum ungeschützt und allein. Fast dreitausend Mann ritten hinter ihm durch die hohe quadratische Öffnung in der Luft auf das wellige Weideland nicht weit von der breiten, schlammigen Straße, die zum Damm des Nordsterns führte. Obwohl jeder Lord nur eine Handvoll Waffenträger hatte mitnehmen dürfen — für Männer, die sonst tausend, wenn nicht Tausende Leute anführten, waren einhundert Mann nur eine Handvoll —, ergaben alle zusammen eine stattliche Anzahl: Tairener, Cairhiener und Illianer, Verteidiger des Steins unter Tihera und Gefährten unter Marcolin sowie Asha'man, die Gedwyn auf dem Fuße folgten. Die Asha'man, die mit ihm gekommen waren, ohnehin. Dashiva, Flinn und die übrigen hielten ihre Pferde dicht hinter Rand. Alle außer Narishma, der noch nicht zurückgekommen war. Der Mann wußte, wo er ihn finden konnte, aber es gefiel Rand trotzdem nicht.
Jede Gruppe blieb so weitgehend wie möglich für sich. Gueyam, Maraconn und Aracome, die mehr auf Rand als auf ihren Weg achteten, sowie Gregorin Panar mit drei weiteren des Konzils der Neun, die sich in ihren Sätteln seitwärts beugten, um beunruhigt miteinander zu tuscheln, ritten mit Weiramon. Semaradrid, in dessen Gefolge sich einige cairhienische Lords mit angespannten Mienen befanden, beobachtete Rand fast ebenso genau wie die Tairener. Rand hatte jene, die mit ihm ritten, ebenso sorgfältig ausgewählt wie jene, die er fortgeschickt hatte — nicht immer aus den Gründen, die andere vielleicht vermutet hätten.
Beobachter hätten es für eine Zurschaustellung der Kampfentschlossenheit gehalten, mit all den leuchtenden Bannern und Standarten und kleinen Cons bei einigen der Cairhiener. Strahlend und tapfer und sehr gefährlich. Einige hatten gegen Rand intrigiert, und zudem hatte er erfahren, daß zwischen Semaradrids Haus Maravin und dem Hause Riatin, das in Cairhien offen gegen ihn rebelliert hatte, alte Bündnisse bestanden. Semaradrid leugnete die Verbindung nicht, aber er hatte sie auch nicht erwähnt, bevor Rand davon hörte. Er kannte das Konzil der Neun einfach noch zu wenig, um es zu riskieren, sie zurückzulassen. Weiramon hingegen war ein Narr. Sich selbst überlassen, könnte er vielleicht sehr wohl versuchen, die Gunst des Lord Drachen zu erringen, indem er ein Heer gegen die Seanchaner oder gegen Murandy oder nur das Licht wußte gegen wen oder wohin sonst führte. Zu unbesonnen, um zurückgelassen, zu mächtig, um beiseite geschoben zu werden, ritt er also mit Rand und fühlte sich geehrt. Es war beinahe bedauerlich, daß er nicht so töricht war, etwas zu tun, woraufhin man ihn hätte vernichten können.
Hinter ihnen kamen die Diener und Karren — niemand verstand, warum Rand den anderen alle Wagen mitgegeben hatte, und er würde es auch nicht erklären — und dann die von Pferdeknechten geführten Ersatzpferde und die langen, unregelmäßigen Reihen von Männern in zerschlagenen Brustpanzern, die nicht richtig paßten, oder in Lederwamsen, auf die rostige Stahlscheiben aufgenäht waren, bewaffnet mit Bogen, Armbrusten oder Speeren und sogar einigen wenigen Langspießen, sowie weitere der Burschen, die ›Lord Brends‹ Ruf gefolgt waren und sich dagegen entschieden hatten, unbewaffnet nach Hause zurückzukehren. Ihr Anführer war der Mann, mit dem Rand am Waldrand gesprochen hatte, Eagan Padros genannt und weitaus klüger, als es den Anschein hatte. Es war meistenorts für einen Bürgerlichen schwer, sehr weit aufzusteigen, aber Rand hatte Padros ausersehen. Der Bursche versammelte seine Leute auf einer Seite, die aber keine Ordnung hielten und einander mit den Ellbogen beiseite drängten, um besser südwärts schauen zu können.
Der Damm des Nordsterns erstreckte sich pfeilgerade durch Meilen braunen Sumpflands um Illian, eine breite Straße festgetretener Erde, die nur von flachen Steinbrücken unterbrochen wurde. Der Südwind trug den Geruch von Meersalz und einem Hauch Gerberei heran. Illian war eine weitläufig angelegte Stadt und ebenso groß wie Caemlyn oder Cairhien. Bunte Dachziegel und Hunderte hoch aufragender Türme, die in der Sonne schimmerten, waren über das Meer aus Schilf und Gras, in dem langbeinige Kraniche umherstelzten und über dem Scharen weißer Vögel im Tiefflug schrille Schreie ausstießen, gerade eben zu sehen. Illian hatte niemals Mauern gebraucht, und gegen Rand hätten sie ohnehin nichts genützt.
Es herrschte allgemeine Enttäuschung, daß er Illian nicht betreten wollte, obwohl sich in seiner Hörweite niemand darüber beklagte. Dennoch gab es viele unzufriedene Gesichter und verärgertes Murren, während eilig Lager errichtet wurden. Wie die meisten großen Städte war auch Illian für fremdartige Zünfte, freigebige Schankmädchen und willige Frauen bekannt. Zumindest unter den Männern, die noch niemals dort gewesen waren, auch wenn es ihre eigene Hauptstadt war. Unwissen steigerte den Ruf einer Stadt für solche Verheißungen stets noch. Aber nur Morr galoppierte über den Damm davon. Die Männer, die gerade Zeltpfähle in die Erde rammten oder Pflockleinen für die Pferde befestigten, richteten sich auf und sahen ihm neiderfüllt nach. Adlige beobachteten ihn neugierig, obwohl sie vorzugeben versuchten, dies nicht zu tun.
Die Asha'man bei Gedwyn beachteten Morr nicht, während sie ihr eigenes Lager errichteten, das aus einem pechschwarzen Zelt für Gedwyn und Rochaid und einer Fläche bestand, auf der feuchtes braunes Gras und Schlamm selbstverständlich mit der Macht flach und trocken gepreßt wurden und wo die übrigen Männer in ihre Umhänge gehüllt schlafen würden. Sie machten sich nicht einmal die Mühe, Herdfeuer ohne die Macht aufzuschichten. Einige wenige aus den anderen Lagern beobachteten mit großen Augen, wie sich das Zelt wie von Geisterhand aufstellte und Haltegurte von Packsätteln flogen, aber die meisten schauten woandershin, wenn sie erkannten, was vor sich ging. Zwei oder drei der Soldaten in den schwarzen Jacken führten anscheinend Selbstgespräche.
Flinn und die übrigen schlössen sich Gedwyns Gruppe nicht an — sie hatten zwei Zelte in der Nähe von Rands Zelt errichtet —, aber Dashiva ging zu der Stelle, wo der ›Beherrscher des Sturms‹ und der Beherrscher des Angriffs‹ müßig herumstanden und barsch Befehle ausgaben. Ein kurzer Wortwechsel, und er ging kopfschüttelnd und ärgerlich vor sich hin murmelnd wieder zurück. Gedwyn und Rochaid waren keine freundlichen Menschen.
Rand zog sich in sein Zelt zurück, sobald es aufgeschlagen war, legte sich vollkommen angekleidet auf sein Feldbett und starrte an die schräge Decke. Hopwil brachte ihm einen dampfenden Zinnkrug mit Glühwein — Rand hatte seine Diener zurückgelassen —, aber der Wein wurde auf seinem Schreibtisch kalt. Sein Verstand arbeitete fieberhaft. Noch zwei oder drei Tage, und die Seanchaner würden einen herben Schlag erleiden. Dann ginge es zurück nach Cairhien, um nachzusehen, wie weit die Verhandlungen mit dem Meervolk gediehen waren. Außerdem wollte er erfahren, was Cadsuane vorhatte — zwar schuldete er ihr etwas, aber sie hatte ihre eigenen Pläne! Vielleicht gelang es ihm, den Aufstand in Cairhien endgültig zu beenden. Waren Caraline Damodred und Darlin Sisnera in der allgemeinen Verwirrung entkommen? Den Hochlord Darlin in seiner Gewalt zu haben könnte auch das Ende des Aufstands in Tear bedeuten. Bliebe noch Andor. Wenn Mat und Elayne in Murandy waren, wie es den Anschein hatte, würde es bestenfalls noch Wochen dauern, bis Elayne den Löwenthron beanspruchen konnte. Wenn das einträfe, würde er sich von Caemlyn fernhalten müssen. Aber er mußte mit Nynaeve sprechen. Konnte er Saidin vom Makel befreien? Es mochte vielleicht funktionieren. Es könnte aber auch die Welt zerstören. Lews Therin redete in starrem Entsetzen auf ihn ein. Licht, wo war Narishma?
Ein Cemaros brach herein, der so nahe am Meer weitaus stärker war. Regen prasselte wie Trommelwirbel auf Rands Zelt. Blitze erfüllten den Eingang mit blauweißem Licht, und Donner rollte wie einstürzende Berge.
Aus diesem Unwetter trat Narishma ins Zelt, tropfnaß und das dunkle Haar am Kopf klebend. Seine Befehle hatten gelautet, um jeden Preis Aufmerksamkeit zu vermeiden. Seine durchweichte braune Jacke war schlicht und sein dunkles Haar ungeflochten zurückgebunden. Auch ohne Schmuck zog fast hüftlanges Haar bei einem Mann Blicke auf sich. Er schaute finster drein. Unter einem Arm trug er ein zylindrisches, mit einer Kordel verschnürtes Bündel, das dicker war als das Bein eines Mannes.
Rand sprang von seinem Feldbett auf und riß Narishma das Bündel aus der Hand, bevor dieser es ihm reichen konnte. »Hat Euch jemand gesehen?« fragte er. »Was hielt Euch so lange auf? Ich hatte Euch schon gestern abend erwartet!«
»Es dauerte eine Weile, herauszufinden, was zu tun war«, erwiderte Narishma tonlos. »Ihr habt mir nicht alles gesagt. Ihr hättet mich beinahe getötet.«
Das war lächerlich. Rand hatte ihm alles gesagt, was er wissen mußte, dessen war er sich sicher. Es hatte keinen Sinn, dem Mann so weit zu vertrauen, wie er es getan hatte, nur damit er starb und alles verdarb. Er steckte das Bündel vorsichtig unter sein Feldbett. Seine Hände zitterten vor Verlangen, die Umhüllung abzureißen, sich zu versichern, daß sie enthielt, wonach er Narishma geschickt hatte. Aber der Mann hätte nicht zurückzukehren gewagt, wenn dem nicht so wäre. »Zieht Euch eine trockene Jacke an, bevor Ihr Euch zu den übrigen gesellt«, sagte Rand. »Und Narishma ...« Rand richtete sich auf und betrachtete den anderen Mann mit stetem Blick. »Wenn Ihr jemandem hiervon erzählt, werde ich Euch töten.«
Töte die ganze Welt, lachte Lews Therin. Ein höhnisches, verzweifeltes Stöhnen. Ich habe die Welt getötet, und du kannst es auch, wenn du dich bemühst.
Narishma schlug sich mit der Faust fest an die Brust. »Wie Ihr befehlt, mein Lord Drache«, sagte er mit einem Anflug von Ärger in der Stimme.
Im ersten Morgenlicht des folgenden Tages marschierten tausend Mann der Legion des Drachen aus Illian heraus über den Damm des Nordsterns zum stetigen Klang der Trommeln. Dichte graue Wolken zogen über den Himmel, und eine steife, stark salzige Meeresbrise peitschte Umhänge und Banner und kündigte den nächsten Sturm an. Die Soldaten erregten mit ihren blauen andoranischen Helmen und den langen blauen Umhängen mit dem rotgoldenen Drachen auf der Brust bei den bereits lagernden Waffenträgern einige Aufmerksamkeit. Jede der fünf Kompanien war mit einer blauen Standarte mit dem Drachen und einer Ziffer gekennzeichnet. Die Männer der Legion waren in vielerlei Hinsicht anders. Sie trugen ihren Brustharnisch beispielsweise unter der Jacke, damit der Drache nicht verdeckt wurde, und jeder Mann trug ein Kurzschwert an der Hüfte sowie eine eisenbeschlagene Armbrust über der Schulter. Die Offiziere gingen unmittelbar vor den Trommlern und Standarten zu Fuß, jeder mit einer hohen roten Feder am Helm. Die einzigen Pferde waren Morrs mausfarbener Wallach an der Spitze und Packtiere am Ende der Kolonne.
»Fußsoldaten«, murrte Weiramon und schlug mit den Zügeln gegen eine behandschuhte Hand. »Verdämmt, sie nützen uns nichts. Sie werden beim ersten Angriff auseinander laufen, wenn nicht schon vorher.« Die Kolonne schritt auf dem Damm kräftig aus. Sie hatte bei der Einnahme Illians geholfen, ohne auseinanderzulaufen.
Semaradrid schüttelte den Kopf. »Keine Langspieße«, murrte er. »Ich habe gut geführte Fußsoldaten mit Langspießen standhalten sehen, aber ohne...« Er stieß einen verächtlichen Laut aus.
Gregorin Panar, der dritte Mann, der in Rands Nähe im Sattel saß und die Neuankömmlinge beobachtete, schwieg. Vielleicht hegte er kein Vorurteil gegen Fußsoldaten — obwohl er dann einer von nur einer Handvoll Adligen wäre, denen Rand ohne solche Vorbehalte begegnet war —, aber er bemühte sich mit einigem Erfolg, nicht zu finster dreinzublicken. Jedermann wußte inzwischen, daß die Männer mit dem Drachen auf der Brust Waffen trugen, weil sie dem Wiedergeborenen Drachen zu folgen beschlossen hatten und aus keinem anderen Grund. Die Illianer muß-ten sich fragen, wohin sie zögen, weil Rand wollte, daß die Legion mitkam und dem Konzil das Ziel nicht anvertraut werden sollte. Daher beobachtete Semaradrid Rand von der Seite. Nur Weiramon war zu töricht, um darüber nachzudenken. Rand wandte Tai'daishar ab. Er hatte Narishmas Bündel teilweise ausgewickelt und unter dem Riemen seines linken Steigbügels befestigt. »Brecht das Lager ab. Wir ziehen weiter«, wies er die Adligen an.
Dieses Mal ließ er Dashiva das Wegetor weben, das sie alle fortbringen sollte. Der Bursche mit dem unscheinbaren Gesicht sah ihn stirnrunzelnd an und murmelte vor sich hin — er schien aus einem unbestimmten Grund tatsächlich beleidigt! —, und Gedwyn und Rochaid, ihre Pferde Schulter an Schulter, verfolgten mit spöttischem Lächeln, wie der silberne Lichtschlitz zu einer Öffnung im Nichts wurde. Die beiden beobachteten eher Rand als Dashiva. Nun, sollten sie ihn doch beobachten. Wie oft konnte er Saidin ergreifen und es riskieren, benommen aufs Gesicht zu fallen, bevor er tatsächlich fiel? Es durfte nicht dort geschehen, wo sie es sehen konnten.
Dieses Mal führte sie das Wegetor auf eine breite Straße, die die niedrigen, mit Gestrüpp bestandenen Ausläufer der Nemarellin-Berge im Westen durchschnitt. Nicht den Verschleierten Bergen vergleichbar und kein Flecken auf dem Rückgrat der Welt, aber sie erhoben sich dennoch dunkel und erhaben vor dem Himmel, scharfkantige Gipfel, welche die Westküste Illians umgaben. Dahinter lag der Kabalgraben und wiederum dahinter ...
Die Männer erkannten die Gipfel nur allzu bald. Gregorin Panar sah sich einmal um und brummte dann zufrieden. Die anderen drei Ratsmitglieder und Marcolin verhielten ihre Pferde dicht bei ihm, um sich miteinander zu beraten, während noch immer Reiter durch das Wegetor drangen. Semaradrid brauchte nur unwesentlich länger, um herauszufinden, wo sie sich befanden, und Tihera ebenfalls, und beide nickten dann verstehend.
Die Silberstraße führte von der Stadt nach Lugard und diente dem Inlandhandel nach Westen. Es gab auch eine Goldstraße, die nach Far Madding führte. Straßen und Namen stammten gleichermaßen aus der Zeit, bevor es Illian gegeben hatte. In Jahrhunderten hatten Wagenräder, Hufe und Stiefel die Straßen befestigt, und die Cemaros konnten sie nur mit Schlamm verschmutzen. Sie gehörten zu den wenigen zuverlässigen Landstraßen in Illian, auf denen sich auch im Winter große Menschenmengen bewegen konnten. Jedermann wußte inzwischen von den Seanchanern in Ebou Dar, obwohl viele der Gerüchte, die Rand unter den Waffenträgern gehört hatte, behaupteten, die Eindringlinge seien die noch heimtückischeren Vettern der Trollocs. Wenn die Seanchaner die Absicht hatten, Illian anzugreifen, war die Silberstraße ein guter Ort, sich zur Verteidigung zu sammeln.
Semaradrid und die übrigen glaubten zu wissen, was Rand im Sinne hatte: Er mußte erfahren haben, daß die Seanchaner kamen, und die Asha'man waren hier, um sie zu vernichten. Trotz der Geschichten über die Seanchaner schien niemand beunruhigt, daß er nicht zum Zuge käme. Natürlich mußte Tihera es Weiramon letztendlich erklären, der daraufhin beunruhigt war, obwohl er es durch eine großartige Rede über die Weisheit des Lord Drache und das militärische Genie des Herrn des Morgens sowie darüber, daß er persönlich den ersten Angriff gegen diese Seanchaner führen würde, zu verbergen suchte. Ein vollkommen törichter Narr. Mit etwas Glück wäre jedermann sonst, der von einer Armee auf der Silberstraße erführe, zumindest nicht wesentlich schlauer als Semaradrid oder Gregorin. Mit etwas Glück würde niemand Wichtiges die Wahrheit erfahren, bevor es zu spät war.
Rand richtete sich auf eine Wartezeit ein und dachte, es würde nur noch ungefähr einen Tag dauern, aber die Zeit dehnte sich und er begann sich zu fragen, ob er vielleicht ein beinahe ebenso großer Narr wie Weiramon war.
Die meisten Asha'man waren ausgezogen, um in ganz Illian und Tear und den Ebenen von Maredo jene anderen zu suchen, die Rand bei sich haben wollte. Sie suchten in den Cemaros. Wegetore und das Schnelle Reisen waren schön und gut, aber selbst Asha'man mußten sich Zeit für die Suche nehmen, wenn Regengüsse die Sicht behinderten und Morast Gerüchte fast zum Stocken brachte. Auf der Suche konnten die Asha'man ohne es zu merken in einer Meile Entfernung an ihrer Beute vorbeigelangen, und wenn sie schließlich zurückkehrten, waren die Gesuchten bereits weitergezogen. Einige mußten sich auf der Suche nach Menschen, die nicht gefunden werden wollten, weiter fortbegeben. Tage vergingen, bevor die ersten Asha'man Neuigkeiten brachten.
Der Hochlord Sunamon schloß sich Weiramon an; er war ein dicker Mann mit salbungsvoller Art — zumindest Rand gegenüber. In seiner edlen Seidenjacke vornehm gekleidet und stets lächelnd, beteuerte er eloquent seine Treue, aber er intrigierte schon so lange gegen Rand, daß er es wahrscheinlich auch bereits im Schlaf tat. Der Hochlord Torean nahte mit dem plumpen Gesicht eines Bauern und seinem gewaltigen Reichtum heran und stammelte etwas über die Ehre, erneut an der Seite des Lord Drache reiten zu dürfen. Gold interessierte Torean mehr als alles andere, außer vielleicht die Privilegien, die Rand den Adligen in Tear genommen hatte. Er schien besonders entsetzt, als er erfuhr, daß es keine Dienerinnen im Lager gab und nicht einmal ein Dorf in der Nähe war, in dem man vielleicht willfährige Bauerntöchter finden könnte. Torean hatte ebenso häufig wie Sunamon gegen Rand intrigiert, vielleicht sogar häufiger als Gueyam oder Maraconn oder Aracome.
Es gab noch andere. Da war Bertome Saighan, ein kleiner, auf rauhe Art ansehnlicher Mann, dessen Schädel vorn rasiert war. Er betrauerte den Tod seiner Cousine Colavaere vermutlich nicht allzu sehr, da ihn das zum neuen Hochsitz des Hauses Saighan machte. Gerüchte besagten, daß Rand sie ermordet hätte. Bertome verbeugte sich und lächelte, aber sein Lächern schloß seine dunklen Augen nicht mit ein. Einige behaupteten, er hätte seine Cousine sehr gemocht. Auch Ailil Riatin kam, eine schlanke, würdevolle Frau mit großen dunklen Augen, nicht mehr jung, aber noch recht hübsch, die beteuerte, sie hege nicht den Wunsch, am Feldzug persönlich teilzunehmen, vielmehr habe sie jemand anderen mit dieser Aufgabe betraut. Sie gelobte dem Lord Drache ihre Treue, obwohl ihr Bruder Toram den von Rand für Elayne vorgesehenen Thron beanspruchte und hinter vorgehaltener Hand Gerüchte kursierten, daß sie alles für Toram tun würde, absolut alles. Sie würde sich sogar mit seinen Feinden verbünden — natürlich um sie behindern oder ausspionieren oder beides tun zu können. Dalthanes Annallin kam und Amondrid Osiellin und Doressin Chuliandred ebenfalls, Lords, die Colavaeres Übernahme des Sonnenthrons unterstützt hatten, als sie glaubten, Rand würde niemals nach Cairhien zurückkehren.
Cairhiener und Tairener stießen nacheinander mit fünfzig oder höchstens hundert Gefolgsleuten hinzu. Männer und Frauen, denen er noch weniger vertraute als Gregorin oder Semaradrid. Die meisten waren Männer, jedoch nicht, weil er Frauen für weniger gefährlich hielt — er war kein solch großer Narr; eine Frau konnte einen doppelt so schnell töten wie ein Mann und üblicherweise aus einem nur halb so einleuchtenden Grund! —, sondern weil er sich nicht dazu bringen konnte, irgendeine Frau außer den kampferprobtesten dorthin mitzunehmen, wohin er ginge. Ailil konnte herzlich lächeln, während sie erwog, an welcher Stelle sie einem den Dolch in die Rippen stoßen wollte. Anaiyella, eine geschmeidige, einfältig lächelnde Hochdame, war aus Cairhien nach Tear zurückgekehrt und hatte offen von sich selbst als Anwärterin auf den noch nicht existierenden Thron von Tear gesprochen. Vielleicht war sie eine Törin, aber es war ihr gelungen, reichlich Unterstützung zu erlangen, sowohl unter den Adligen als auch auf den Straßen.
So versammelte er all jene, die seinen Blicken zu lange entschwunden waren. Er konnte sie nicht alle gleichzeitig im Auge behalten, aber er konnte es sich nicht leisten, sie vergessen zu lassen, daß er sie tatsächlich manchmal beobachtete. Er versammelte sie und wartete ab. Es wurden acht Tage.
Regen trommelte in einem schwächer werdenden Rhythmus auf das Zeltdach, als der letzte Mann, den er erwartete, schließlich eintraf.
Davram Bashere schüttelte Wassertropfen von seinem Regenumhang, blies angewidert gegen seinen dichten, von Grau durchzogenen Schnurrbart und warf den Umhang über einen Lehnstuhl mit hoher runder Lehne. Der kleine Mann mit einer großen Hakennase schien kompakter, als er war. Nicht weil er etwas vorgab, sondern weil er für sich beschlossen hatte, ebenso groß zu sein wie alle anderen anwesenden Männer und jene ihn als gleich groß wahrnahmen. Kluge Männer taten dies. Er hatte sich den wolfsköpfigen, elfenbeinernen Kommandostab des Marschallgenerals von Saldaea, den er nachlässig hinter seinen Schwertgürtel gesteckt hatte, auf vielen Schlachtfeldern und bei ebenso vielen Konzilien erworben. Er war einer der sehr wenigen Männer, denen Rand sein Leben anvertrauen würde.
»Ich weiß, daß Ihr nicht gern Erklärungen abgebt«, murmelte Bashere, »aber ich könnte ein wenig Aufklärung gebrauchen.« Er ließ sich in einem Sessel nieder und schwang ein Bein über dessen Lehne. Bashere schien stets ausgeglichen, aber er konnte auch sehr schnell in Fahrt geraten. »Dieser Asha'man wollte nicht mehr verraten, als daß Ihr mich schon gestern gebraucht hättet, aber er sagte auch, ich solle nicht mehr als tausend Mann mitbringen. Ich hatte nur halb so viele Männer bei mir, aber ich habe zumindest diese mitgebracht. Es kann sich wohl nicht um einen Feldzug handeln. Die Hälfte der Banner, die ich draußen sah, gehören Männern, die sich die Zunge abbeißen würden, wenn sie einen Burschen mit einem Dolch hinter Euch stehen sähen, und die übrigen gehören Männern, die in einem solchen Fall versuchen würden, Eure Aufmerksamkeit zu erregen. Wenn sie den Mörder nicht zuvor bezahlt hätten.«
Rand saß in Hemdsärmeln hinter seinem Schreibtisch und preßte die Handballen erschöpft auf seine Augen. Da Boreane Carivin nicht mitgekommen war, waren die Lampendochte nicht gestutzt, und schwacher Rauch hing in der Luft. Außerdem war Rand den größten Teil der Nacht wach geblieben, um die über den Tisch verstreuten Landkarten zu studieren — Landkarten von Süd-Altara, von denen nicht einmal zwei übereinstimmten.
»Wenn Ihr eine Schlacht schlagen wollt«, gab er Bashere zu bedenken, »wer könnte dann die Zeche besser bezahlen als die Männer, die Euch tot sehen wollen? Es werden ohnehin keine Soldaten diese Schlacht gewinnen. Sie sollen nur jedermann davon abhalten, sich an die Asha'man heranzuschleichen. Was haltet Ihr davon?«
Bashere schnaubte so laut, daß sich sein schwerer Schnurrbart regte. »Ich denke, es herrscht ein todbringendes Durcheinander. Jemand wird noch daran zugrunde gehen. Das Licht gebe, daß nicht wir es sind.« Und dann lachte er, als wäre das ein netter Scherz gewesen.
Lews Therin lachte auch.