12 Neue Bündnisse

Graendal wünschte, unter den Gegenständen, die sie nach Sammaels Tod aus Illian fortgeschafft hatte, befände sich ein einfacher Umwandler. Dieses Zeitalter war erschreckend gewöhnlich, barbarisch und unangenehm. Dennoch gefiel ihr auch einiges. In einem großen Bambuskäfig am entgegengesetzten Ende des Raums trällerten hundert buntgefiederte Vögel, in ihrem vielfarbigen Umherhuschen fast so schön wie ihre beiden Lieblinge in ihren durchscheinenden Gewändern, die zu beiden Seiten der Tür warteten, die Blicke auf sie gerichtet und bestrebt, ihrem Vergnügen zu dienen. Auch wenn Öllampen nicht dasselbe Licht wie Glühbirnen verströmten, sorgten sie doch mit Hilfe der großen Spiegel an den Wänden für einen gewissen ungezügelten Glanz an der vergoldeten, wie Fischschuppen gearbeiteten Decke. Es wäre schon erfreulich gewesen, die Worte nur aussprechen zu müssen, aber sie tatsächlich mit eigener Hand zu Papier zu bringen, verschaffte ihr ein ähnliches Vergnügen wie das Skizzieren. Die Schrift dieses Zeitalters war recht einfach, und es war auch nicht schwer gewesen, den Stil eines anderen Menschen kopieren.

Sie signierte das Schriftstück mit einem Schnörkel —natürlich nicht mit ihrem eigenen Namen —, streute Sand darüber, faltete es und versiegelte es mit einem der Siegelringe verschiedener Größen, die auf ihrem Schreibtisch eine hübsch anzusehende Reihe bildeten: Die Hand und das Schwert von Arad Doman auf einen unregelmäßigen Kreis blauen und grünen Wachs gepreßt.

»Bringt dies rasch zu Lord Ituralde«, befahl sie, »und sagt nur, was ich Euch auf getragen habe.«

»So schnell mich Pferde tragen können, meine Lady.« Nazran verbeugte sich, während er den Brief entgegennahm, und strich mit einem Finger über seinen dünnen schwarzen Schnurrbart über einem einnehmenden Lächeln. Stämmig und tiefbraun, in einer gut sitzenden blauen Jacke, sah er gut aus. Aber nicht gut genug. »Ich erhielt dies von Lady Tuva, die an ihren Verletzungen starb, nachdem sie mir gesagt hatte, sie sei ein Bote von Alsalam und sei von einem Grauen Mann angegriffen worden.«

»Versichert Euch, daß menschliches Blut daran ist«, mahnte sie. Graendal bezweifelte, daß in dieser Zeit jemand menschliches Blut von anderem Blut unterscheiden könnte, aber sie war zu häufig überrascht worden, um unnötige Risiken einzugehen. »Genug, daß es echt wirkt. Nicht genug, um verwischen zu können, was ich geschrieben habe.«

Seine schwarzen Augen verweilten zugetan auf ihr, als er sich erneut verbeugte, aber sobald er sich wieder aufgerichtet hatte, eilte er zur Tür, wobei seine Stiefel dumpf auf dem hellgelben Marmorboden aufschlugen. Er bemerkte die Diener mit ihren starr auf sie gerichteten Blicken nicht, oder gab vor, sie nicht zu bemerken, obwohl er einst ein Freund des jungen Mannes gewesen war. Nur eine Berührung mit Zwang war nötig gewesen, um Nazran fast ebenso begierig gehorchen zu lassen wie die anderen, ganz zu schweigen natürlich davon, daß er ihre weiblichen Reize dennoch wieder auskosten könnte. Sie lachte weich. Nun, er glaubte, er könnte sie auskosten. Sähe er ein wenig besser aus, hätte er es tatsächlich gekonnt. Natürlich wäre er dann zu nichts anderem mehr nütze gewesen. Er würde Pferde zu Tode reiten, um Ituralde zu erreichen, und wenn diese Nachricht, von Alsalams engem Cousin überbracht, vermutlich vom König selbst gesandt und um ein Haar von Grauen Männern aufgehalten, dem Gebot des Großen Herrn, das Chaos zu vergrößern, nicht entsprach, könnte nicht viel mehr als Baalsfeuer dies erreichen. Und es wäre ihren eigenen Zwecken ebenfalls sehr dienlich.

Graendal griff nach dem einzigen Ring auf dem Schreibtisch, der kein Siegelring war, ein einfacher goldener Reif, der nur auf ihren kleinen Finger paßte. Es war eine angenehme Überraschung gewesen, unter Sammaels Habseligkeiten ein auf Frauen abgestimmtes Angreal zu finden und manches Nützliche, während al'Thor und diese jungen Hunde, die sich Ashaman nannten, in Sammaels Räumen im Großen Saal des Konzils ständig ein- und ausgingen. Sie hatten entfernt, was sie nicht mitgenommen hatte. Gefährliche junge Hunde, sie alle, besonders al'Thor. Sie hatte nicht riskieren wollen, daß irgend jemand eine Verbindung zwischen ihr und Sammael herstellen konnte. Ja, sie mußte die Verwirklichung ihrer eigenen Pläne beschleunigen und sich von Sammaels Mißgeschick distanzieren.

Plötzlich erschien am entgegengesetzten Ende des Raums ein senkrechter Silberschlitz, der vor den zwischen den schweren vergoldeten Spiegeln hängenden Wandteppichen hell schimmerte, und eine kristallklare Melodie erklang. Sie wölbte überrascht die Augenbrauen. Anscheinend erinnerte sich jemand der Aufmerksamkeiten eines zivilisierteren Zeitalters. Sie stand auf, zwängte den goldenen Reif über den Rubinring an ihrem kleinen Finger und umarmte dadurch Saidar, bevor sie mit der Macht das Gewebe gestaltete, das eine Antwortmelodie für denjenigen anstimmen würde, der ein Wegetor eröffnen wollte. Das Angreal bot nicht viel, und doch wäre jedermann, der ihre Kraft zu kennen glaubte, erschrocken.

Das Wegetor eröffnete sich, und zwei Frauen in fast identischen rotschwarzen Seidengewändern traten behutsam hindurch. Zumindest Moghedien bewegte sich vorsichtig, die dunklen Augen auf der Suche nach Fallen, während sie ihre weiten Röcke glättete. Das Wegetor verblaßte kurz darauf, aber sie hielt Saidar weiterhin fest. Eine vernünftige Vorsichtsmaßnahme, wobei Moghedien schon immer Vorkehrungen getroffen hatte. Graendal ließ die Quelle ebenfalls nicht los. Moghediens Begleiterin, eine kleine junge Frau mit langem silbernen Haar und lebhaften blauen Augen, sah sich kalt um, schaute aber kaum einmal in Graendals Richtung. Ihrem Verhalten nach hätte sie eine Erste Beraterin sein können, die gezwungen war, die Gesellschaft gewöhnlicher Arbeitender zu ertragen, und sich bemühte, ihr Vorhandensein zu ignorieren. Töricht, die Spinne nachzuahmen. Rot und Schwarz standen ihr nicht, und sie hätte ihren eindrucksvollen Busen besser einsetzen sollen.

»Graendal, dies ist Cyndane«, sagte Moghedien. »Wir ... arbeiten zusammen.« Sie lächelte nicht, als sie den Namen der hochmütigen jungen Frau nannte, Graendal hingegen schon. Ein hübscher Name für ein überaus hübsches Mädchen, aber welche Wendung des Schicksals hatte eine Mutter dieser Zeit dazu veranlaßt, ihrer Tochter einen Namen zu geben, der ›Letzte Chance‹ bedeutete? Cyndanes Gesicht blieb kalt und ausdruckslos, aber ihre Augen flackerten. Eine wunderschöne, aus Eis gemeißelte Puppe mit verborgenem Feuer. Anscheinend kannte sie die Bedeutung ihres Namens, und sie gefiel ihr nicht.

»Was führt Euch und Eure Freundin hierher, Moghedien?« fragte Graendal. Von der Spinne hätte sie als letztes erwartet, aus den Schatten hervorzukommen. »Habt keine Angst, vor meinen Dienern zu sprechen.« Sie vollführte eine Geste, und das Paar an der Tür sank auf die Knie und preßte die Gesichter auf den Boden. Sie würden zwar nicht auf ihren Befehl hin tot umfallen, aber beinahe.

»Welches Interesse könnt Ihr an ihnen haben, wenn Ihr doch alles zerstört, was sie vielleicht bemerkenswert machen würde?« fragte Cyndane, während sie anmaßend über den Boden schritt. Sie hielt sich sehr gerade, kämpfte um jeden Millimeter Größe. »Wißt Ihr, daß Sammael tot ist?«

Graendal hielt ihre Miene ebenfalls ohne allzu große Mühe ausdruckslos. Sie hatte vermutet, dieses Mädchen sei eine Schattenfreundin, die Moghedien für Botengänge aufgelesen hatte, vielleicht eine Adlige, die glaubte, ihr Titel gelte etwas, aber jetzt, da sie Cyndane von nahem sah... Das Mädchen war in der Einen Macht stärker als sie selbst! Das war sogar in ihrem eigenen Zeitalter unter Männern ungewöhnlich und unter Frauen tatsächlich sehr selten gewesen. Sie änderte augenblicklich ihre Absicht, jegliche Verbindung zu Sammael zu leugnen.

»Ich habe es vermutet«, erwiderte sie und lächelte Moghedien über den Kopf der jungen Frau hinweg falsch zu. Wieviel wußte sie? Wo hatte die Spinne ein Mädchen gefunden, das soviel stärker war als sie, und warum reiste sie mit ihr? Moghedien war immer auf jedermann eifersüchtig gewesen, der stärker war. Oder, genauer gesagt, auf alles. »Er pflegte mich zu besuchen, um meine Hilfe bei dem einen oder anderen wahnsinnigen Plan zu erbitten. Ich habe ihn niemals direkt abgewiesen. Ihr wißt, Sammael ist — er war — ein zu gefährlicher Mann, um ihn abzuweisen. Er erschien unfehlbar alle paar Tage, und als seine Besuche aufhörten, nahm ich schon an, daß ihm etwas Schreckliches zugestoßen wäre. Wer ist dieses Mädchen, Moghedien? Eine bemerkenswerte Entdeckung.«

Die junge Frau trat näher und sah sie mit Augen wie blaues Feuer unverwandt an. »Sie hat Euch meinen Namen genannt. Mehr braucht Ihr nicht zu erfahren.« Das Mädchen wußte, daß sie mit einer der Auserwählten sprach, und doch blieb ihr Tonfall frostig. Selbst wenn man ihre Stärke bedachte, war dies keine einfache Schattenfreundin. Es sei denn, sie wäre geisteskrank. »Habt Ihr auf das Wetter geachtet, Graendal?«

Graendal erkannte jäh, daß Moghedien dem Mädchen das Reden überließ. Sie hielt sich zurück, bis eine Schwäche sichtbar würde. Und Graendal hatte es zugelassen! »Ihr seid vermutlich nicht gekommen, um mir von Sammaels Tod zu berichten, Moghedien«, sagte sie scharf. »Oder um über das Wetter zu sprechen. Ihr wißt, daß ich selten meine Räume verlasse.« Die Natur war widerspenstig, ließ Ordnung vermissen. Aber in diesem Raum gab es nicht einmal Fenster, ebensowenig wie in den meisten Räumen, die sie benutzte. »Was wollt Ihr?« Die dunkelhaarige Frau glitt seitwärts an der Wand entlang. Das Schimmern der Einen Macht umgab sie noch immer. Graendal trat beiläufig beiseite, so daß sie beide aber noch im Blick hatte.

»Ihr macht einen Fehler, Graendal.« Cyndanes volle Lippen bewegten sich bei ihrem frostigen Lächeln kaum. Sie genoß es. »Ich habe gegenwärtig unter uns die Führung inne. Moghedien steht wegen ihrer kürzlichen Fehler bei Moridin in schlechtem Ruf.«

Moghedien schlang die Arme um sich und warf der silberhaarigen Frau einen finsteren Blick zu, was so gut wie jede mündliche Bestätigung war. Plötzlich öffneten sich Cyndanes große Augen noch weiter, und sie keuchte unter Schaudern.

Moghediens Blick wurde hämisch. »Ihr habt gegenwärtig die Führung inne«, höhnte sie. »Ihr steht in seinen Augen nicht viel höher als ich.« Und dann erschauderte sie und zitterte und biß sich auf die Lippen.

Graendal fragte sich, ob man mit ihr spielte. Der unverhüllte gegenseitige Haß auf den Gesichtern der beiden Frauen schien nicht vorgetäuscht. Wie dem auch sei — sie würde erleben, wie es ihnen gefiele, wenn man mit ihnen spielte. Sie rieb sich unbewußt die Hände, strich über das Angreal an ihrem Finger und trat zu einem Stuhl, ohne das Paar aus den Augen zu lassen. Es tröstete sie, die Süße Saidars in sich strömen zu spüren. Nicht daß sie Trost gebraucht hätte, aber hier stimmte etwas nicht. Die hohe, gerade Rückenlehne, reich geschnitzt und vergoldet, ließ den Stuhl an einen Thron erinnern, obwohl er sich nicht von den anderen Stühlen im Raum unterschied. Solche Dinge beeinflußten auch die Erfahrensten auf Ebenen, deren sie sich niemals bewußt wurden.

Sie lehnte sich mit übereinandergeschlagenen Beinen zurück, ein Fuß wippte müßig — das Bild einer sich wohl fühlenden Frau —, und sie gab ihrer Stimme einen gelangweilten Unterton. »Da Ihr die Führung innehabt, Kind, sagt mir doch, wer ist dieser Mann, der sich der Tod nennt, wenn er in menschlicher Gestalt erscheint. Was ist er?«

»Moridin ist Nae'blis.« Die Stimme des Mädchens klang ruhig und kalt und überheblich. »Der Große Herr hat beschlossen, daß es an der Zeit ist, daß auch Ihr dem Nae'blis dient.«

Graendal richtete sich ruckartig auf. »Das ist lächerlich.« Sie konnte ihre Verärgerung nicht verbergen. »Ein Mann, von dem ich noch niemals auch nur gehört habe, wurde zum Regenten des Großen Herrn auf Erden ernannt?« Es kümmerte sie nicht, wenn andere sie zu manipulieren versuchten — sie fand stets eine Möglichkeit, solche Pläne gegen sie selbst zu kehren —, aber Moghedien mußte sie für eine Närrin halten! Sie hegte keinen Zweifel, daß dieses abscheuliche Mädchen an Moghediens Fäden hing, was auch immer sie behaupteten, welche Blicke auch immer sie sich zuwarfen. »Ich diene dem Großen Herrn und mir selbst, niemandem sonst! Ich denke, Ihr beide solltet jetzt gehen und Euer kleines Spiel woanders spielen. Demandred läßt sich möglicherweise davon zerstreuen. Oder vielleicht Semirhage? Seid beim Lenken der Macht vorsichtig, wenn Ihr geht. Ich habe einige schwebende Gewebe errichtet, und Ihr wollt doch keines auslösen.«

Das war eine Lüge, aber eine sehr glaubwürdige, so daß sie erschrak, als Moghedien plötzlich die Macht lenkte. Alle Lampen im Raum erloschen, und sie wurden in Dunkelheit getaucht. Graendal ließ sich sofort aus dem Stuhl fallen, damit sie nicht mehr dort wäre, wo die Frauen sie zuletzt gesehen hatten, und sie lenkte dabei ebenfalls die Macht, wob ein Gewebe aus Licht, das auf einer Seite des Raumes schwebte, eine Kugel aus reinem Weiß, die gespenstische Schatten in den Raum warf. Das Paar war jetzt deutlich zu sehen. Sie lenkte die Macht ohne Zögern, zog alle Kraft aus dem kleinen Ring. Sie brauchte nicht alle Kraft, oder nicht vollständig, aber sie wollte jeden Vorteil nutzen, der ihr zur Verfügung stand. Sie würden sie angreifen! Ein Netz aus Zwang schloß sich um die beiden Frauen, bevor sie sich regen konnten.

Sie hatte die Netze vor Zorn stark gewoben, fast ausreichend stark, daß sie schaden konnten, und die Frauen standen da und sahen sie bewundernd an, die Augen geweitet und den Mund zu einer Schmeichelei geöffnet, von Verehrung berauscht. Jetzt konnte sie ihnen Befehle erteilen. Wenn sie ihnen befahl, sich die eigenen Kehlen durchzuschneiden, würden sie es tun. Plötzlich erkannte Graendal, daß Moghedien die Quelle nicht mehr umarmte. Soviel Zwang hatte sie vielleicht genügend erschreckt, sie loszulassen. Die Diener an der Tür hatten sich natürlich nicht geregt.

»Nun«, sagte sie ein wenig atemlos, »werdet Ihr jetzt meine Fragen beantworten?« Sie hatte viele Fragen, einschließlich derjenigen, wer dieser Moridin war, wenn es einen solchen Mann gab, und wo Cyndane herkam, aber eine Frage reizte sie mehr als alle anderen. »Was habt Ihr hierdurch zu erreichen gehofft, Moghedien? Ich könnte mich entschließen, diese Gewebe um Euch zu verknoten. Ihr könntet für Euer Spiel bezahlen, indem Ihr mir dient.«

»Nein, bitte«, stöhnte Moghedien und rang die Hände. Sie begann tatsächlich zu weinen! »Ihr werdet uns alle töten! Bitte, Ihr müßt dem Nae'blis dienen! Wir sind nur gekommen, um Euch in Moridins Dienst zu überführen!« Das Gesicht der silberhaarigen kleinen Frau war in dem fahlen Licht eine umschattete Maske des Entsetzens, und ihr Busen hob und senkte sich schwer, während sie nach Atem rang.

Graendal, die sich jäh unbehaglich fühlte, öffnete den Mund. Diese Geschichte machte immer weniger Sinn. Sie öffnete den Mund, und die Wahre Quelle schwand. Die Eine Macht zog sich von ihr zurück, und der Raum wurde wieder dunkel. Die Vögel in den Käfigen brachen jäh in aufgeregtes Zwitschern aus und schlugen mit den Flügeln wild gegen die Bambusstäbe.

Hinter Graendal knirschte eine Stimme wie zu Staub zerriebener Fels. »Der Große Herr dachte, Ihr würdet vielleicht an ihren Worten zweifeln, Graendal. Die Zeit, in der Ihr Euren eigenen Weg gehen konntet, ist vorüber.« Eine Kugel von... Etwas ... erschien in der Luft, eine tiefschwarze Kugel, aber silbernes Licht durchströmte den Raum. Die Spiegel schimmerten nicht. Sie schienen in diesem Licht stumpf. Die Vögel wurden wieder still. Irgendwie wußte Graendal, daß sie vor Schreck wie versteinert waren.

Sie starrte den Myrddraal an, hell und augenlos und in noch tieferes Schwarz gekleidet, als die Kugel schwarz war, aber größer als alle anderen, die sie jemals gesehen hatte. Er mußte der Grund dafür sein, daß sie die Quelle nicht mehr spüren konnte, aber das war unmöglich! Außer... Wo war diese seltsame Kugel schwarzen Lichts hergekommen, wenn nicht von ihm? Sie hatte beim Anblick eines Myrddraals niemals dieselbe Angst verspürt wie andere, nicht in gleichem Maße, und doch hoben sich jetzt ihre Hände mechanisch, und sie mußte sie gewaltsam senken, um nicht ihr Gesicht zu bedecken. Sie schaute zu Moghedien und Cyndane und zuckte zusammen. Sie hatten die gleiche Pose wie ihre Diener eingenommen, kauerten auf den Knien, die Köpfe in Richtung des Myrddraal am Boden.

Sie spürte, wie ihr Mund trocken wurde. »Ihr seid ein Bote des Großen Herrn?« Ihre Stimme war fest, aber schwach. Sie hatte noch niemals davon gehört, daß der Große Herr eine Botschaft durch einen Myrddraal gesandt hätte, und doch... Moghedien hatte die Haltung eines Feiglings eingenommen, aber sie war dennoch eine der Auserwählten — und erniedrigte sich ebenso eifrig wie das Mädchen. Und da war das Licht. Graendal wünschte, ihr Gewand wäre nicht so tief ausgeschnitten. Das war natürlich lächerlich. Die Begierde der Myrddraals nach Frauen war wohlbekannt, aber sie war eine der... Ihr Blick schweifte erneut zu Moghedien.

Der Myrddraal schlängelte sich an ihr vorbei, ohne sie zu beachten. Sein langer schwarzer Umhang hing von seinen Bewegungen unberührt herab. Aginor hatte geglaubt, die Wesen wären nicht ganz auf dieselbe Art auf der Welt wie alles andere. »Leicht im Ungleichgewicht mit Zeit und Realität«, hatte er es genannt, was auch immer das bedeuten mochte.

»Ich bin Shaidar Haran.« Der Myrddraal blieb bei ihren Dienern stehen und packte sie mit jeweils einer Hand am Nacken. »Wenn ich spreche, könnt Ihr es so betrachten, als hörtet Ihr die Stimme des Großen Herrn der Dunkelheit.« Die Hände schlossen sich, bis das überraschend laute Knacken von Knochen zu hören war. Der junge Mann verkrampfte sich im Tod und trat um sich. Die junge Frau wurde einfach schlaff. Sie waren zwei ihrer hübschesten Diener gewesen. Der Myrddraal richtete sich von den leblosen Körpern auf. »Ich bin sein Helfer in dieser Welt, Graendal. Wenn Ihr vor mir steht, steht Ihr vor ihm.«

Graendal dachte sorgfältig, wenn auch rasch nach. Sie hatte Angst, eine Empfindung, die sie weitaus häufiger bei anderen hervorrief, aber sie wußte, wie sie ihre Angst beherrschen konnte. Obwohl sie niemals Heere befehligt hatte, waren ihr Gefahren durchaus nicht fremd, noch war sie ein Feigling, aber dies war mehr als nur eine einfache Gefahr. Moghedien und Cyndane knieten noch immer mit auf den Marmorboden gesenkten Köpfen, wobei Moghedien tatsächlich sichtbar zitterte. Graendal glaubte diesem Myrddraal. Oder was auch immer er in Wahrheit war. Der Große Herr griff tatsächlich unmittelbarer in die Ereignisse ein, als sie befürchtet hatte. Und wenn er von ihrem Plan mit Sammael erfahren hatte... Das hieß, wenn er zu handeln beschlösse. Es wäre zu diesem Zeitpunkt töricht anzunehmen, daß er es nicht wüßte.

Sie kniete sich anmutig vor den Myrddraal. »Was soll ich tun?« Ihre Stimme hatte ihre Kraft zurückgewonnen. Notwendige Fügsamkeit war keine Feigheit. Jene, die sich nicht vor dem Großen Herrn beugten, wurden gebeugt. Oder zerbrochen. »Soll ich Euch Großer Herr nennen, oder zieht Ihr einen anderen Titel vor? Ich würde mich auch bei der Hand des Großen Herrn nicht wohl fühlen, ihn so anzusprechen wie den Großen Herrn selbst.«

Der Myrddraal lachte erschreckenderweise. Es klang wie bröckelndes Eis. Myrddraals lachten niemals. »Ihr seid tapferer als die meisten, und klüger. Shaidar Haran wird für Euch genügen. Solange Ihr Euch daran erinnert, wer ich bin. Solange Ihr Eure Tapferkeit die Angst in Euch nicht allzusehr überwiegen laßt.«

Während er seine Befehle gab — ein Besuch bei Moridin war anscheinend der erste Befehl —, beschloß sie, den Brief, den sie Rodel Ituralde gesandt hatte, zu verschweigen. Sie würde Moghedien gegenüber wachsam sein müssen, und vielleicht auch Cyndane gegenüber, die Rache für ihre kurze Benutzung des Zwangs üben könnten, denn sie bezweifelte, daß das Mädchen versöhnlicher war als die Spinne. Nichts, was man ihr antrug, deutete an, daß ihr Handeln dem Großen Herrn mißfiel, und sie mußte erst noch über ihre Lage nachdenken. Moridin, wer auch immer er sein mochte, war vielleicht heute Nae'blis, aber es gab stets auch ein Morgen.

Cadsuane stützte sich in Arilyns schwankender Kutsche ab und zog einen der ledernen Fenstervorhänge so weit auf, daß sie hinaussehen konnte. Leichter Regen fiel aus einem grauen Himmel voller dahinstürmender Wolken und rauher, umherwirbelnder Winde auf Cairhien. Und nicht nur der Himmel war winderfüllt. Heulende Windstöße erschütterten auch die Kutsche. Winzige Tropfen trafen kalt wie Eis auf ihre Hand. Wenn die Luft noch weiter abkühlte, würde es schneien. Sie zog ihren wollenen Umhang fester um sich. Sie war froh gewesen, ihn zuunterst in ihren Satteltaschen zu finden. Die Luft würde abkühlen. Die steilen Schieferdächer der Stadt und die gepflasterten Straßen glänzten naß, und obwohl es nicht stark regnete, waren nur wenige Menschen bereit, dem heftigen Wind zu trotzen. Eine Frau, die mit leichten Schlägen ihres Stachelstocks einen Ochsenkarren lenkte, ging zwar ebenso geduldig voran wie ihr Ochse, aber die meisten Fußgänger hielten ihre Umhänge fest geschlossen, die Kapuzen hochgezogen, und traten schnell beiseite, wenn die Träger einer Sänfte, deren steifer Con flatterte, vorübereilten. Noch andere außer der Frau und ihrem Ochsen sahen jedoch keinen Grund zur Eile. Mitten auf der Straße stand ein großer Aiel und starrte mit offenem Mund ungläubig gen Himmel, während ihn der Regen durchnäßte; er war so davon gefangen, daß ein forscher Taschendieb seine Gürteltasche mit einem Schnitt abtrennte und von seinem Opfer unbemerkt davonrannte. Eine Frau, deren sorgfältig gelocktes und aufgestecktes Haar sie als Adlige auswies, ging langsam voran, während ihr Umhang und dessen Kapuze wild flatterten. Dies war vielleicht das erste Mal, daß sie tatsächlich zu Fuß auf einer Straße ging, aber sie lachte, als der Regen ihre Wangen benetzte. Die Besitzerin einer Parfümerie blickte freudlos aus dem Eingang ihres Ladens hervor. Sie würde heute wenig Umsatz machen. Die meisten Straßenhändler waren aus demselben Grund verschwunden, aber eine Handvoll rief von Karren unter Behelfsmarkisen aus noch immer hoffnungsvoll heißen Tee und Fleischpasteten aus.

Zwei halb verhungerte Hunde liefen aus einer Gasse heran, steifbeinig und mit erhobenen Schwänzen, und knurrten und bellten die Kutsche an. Cadsuane ließ den Vorhang fallen. Hunde schienen Frauen, welche die Macht lenken konnten, ebenso leicht zu erkennen, wie Katzen es vermochten, aber Hunde glaubten anscheinend, die Frauen wären Katzen, wenn auch unnatürlich große. Die beiden Frauen, die ihr gegenübersaßen, waren noch immer in ihre Unterhaltung vertieft.

»Verzeiht«, sagte Daigian gerade, »aber die Logik ist unentrinnbar.« Sie beugte entschuldigend den Kopf, wodurch der Mondstein, der an einer dünnen Silberkette von ihrem langen schwarzen Haar herabhing, über der Stirn hin und her schwang. Ihre Finger zupften an den weißen Schlitzen in ihren dunklen Röcken, und sie sprach hastig, als fürchte sie, unterbrochen zu werden. »Wenn man annimmt, daß die lang anhaltende Hitze das Werk des Dunklen Königs war, muß der Wandel durch eine andere Wirkung eingetreten sein. Er hätte nicht nachgegeben. Ihr könntet behaupten, daß er beschlossen habe, die Welt erfrieren oder ertrinken zu lassen, anstatt sie auszudörren, aber warum? Hätte die Hitze noch den Frühling über angehalten, hätten die Toten die Lebenden zahlenmäßig durchaus überwiegen können, nicht anders, als wenn bis in den Sommer hinein Schnee fällt. Daher ist unzweifelhaft eine andere Hand am Werk.« Die Schüchternheit der rundlichen Frau war manchmal anstrengend, aber Cadsuane fand ihre Logik wie immer einwandfrei. Sie wünschte nur, sie wüßte, wessen Hand im Spiel war.

»Friede!« murrte Kumira. »Mir wäre eine Unze knallharter Beweise lieber als ein Zentner Eurer Weißen Ajah-Logik.« Sie selbst war eine Braune, eine hübsche Frau mit kurzgeschnittenem Haar, die eine scharfe Beobachterin und niemals so tief in Gedanken versunken war, daß sie die Welt um sich herum vergaß. Kaum hatte Kumira gesprochen, als sie auch schon Daigians Knie geziemend tätschelte und lächelte, wodurch ihre blauen Augen herzlicher wirkten. Die Shienarer waren im großen und ganzen ein höfliches Volk, und Kumira achtete darauf, niemanden zu beleidigen, unabsichtlich zumindest.

»Denkt darüber nach, was wir mit den Schwestern tun können, die von den Aiel festgehalten werden. Ich weiß, daß. Ihr etwas ersinnen könnt, wenn überhaupt jemand es kann.«

Cadsuane schnaubte. »Sie verdienen, was immer mit ihnen geschieht« Sie selbst war nicht in die Nähe der Aielzelte gelassen worden noch jemand aus ihrer Begleitung, aber einige der Narren, die al'Thor die Treue geschworen hatten, hatten sich hinaus zu dem verstreuten Lager gewagt und waren mit bleichen Gesichtern und zwischen Zorn und Übelkeit schwankend zurückgekehrt. Normalerweise wäre sie über die Verletzung der Aes Sedai-Würde ebenfalls zornig gewesen, wie auch immer die Umstände waren. Aber jetzt nicht. Um ihr Ziel zu erreichen, hätte sie jede Aes Sedai der Weißen Burg nackt durch die Straßen gejagt. Wie konnte sie sich mit dem Unbehagen von Frauen belasten, die vielleicht alles verdorben hatten?

Kumira öffnete den Mund zum Protest, obwohl sie von ihren Gefühlen wußte, doch Cadsuane fuhr ruhig, aber schonungslos fort. »Vielleicht werden sie genügend Tränen vergießen, um für das von ihnen bewirkte Durcheinander zu büßen, aber ich bezweifle es. Wir haben sie nicht mehr unter Kontrolle, und wenn ich sie kontrollieren könnte, würde ich sie den Aiel vielleicht einfach übergeben. Vergeßt sie, Daigian, und verfolgt mit Eurem klugen Verstand die Spur, die ich Euch aufzeige.«

Die blassen Wangen der Cairhienerin erröteten bei dem Kompliment stark. Dank dem Licht war sie nur in Gegenwart anderer Schwestern so. Kumira saß schweigend da, mit ausdruckslosem Gesicht, die Hände im Schoß verschränkt. Sie war jetzt vielleicht bezwungen, aber nur weniges konnte Kumira auf lange Sicht bezwingen. Genau diese beiden wollte Cadsuane heute bei sich haben.

Die Kutsche neigte sich, als das Gespann die lange, zum Sonnenpalast hinaufführende Rampe erklomm. »Denkt an das, was ich Euch gesagt habe«, belehrte sie die beiden nachdrücklich. »Und seid vorsichtig!«

Sie murmelten, daß sie es beachten würden, so gut sie konnten, und Cadsuane nickte. Wenn nötig, würde sie beide als Mulch benutzen, und andere ebenfalls, aber sie beabsichtigte niemanden zu verlieren, nur weil er unvorsichtig war.

Die Kutsche durfte die Palasttore unverzüglich passieren. Die Wächter erkannten Arilyns Siegel an den Türen, und sie wußten, wer sich darin befand. Die Kutsche war in der vergangenen Woche nur allzu häufig im Palast gewesen. Sobald die Pferde stehenblieben, öffnete ein besorgt dreinblickender Bediensteter in ungeschmücktem Schwarz den Schlag, der einen breiten, flachen Schirm aus dunklem Öltuch hielt. Regen tropfte vom Rand auf seinen kahlen Kopf, aber der Schirm war auch nicht zu seinem Schutz gedacht.

Cadsuane überprüfte rasch den von ihrem Haarknoten herabhängenden Schmuck, um sich zu vergewissern, daß noch alles da war — sie hatte noch keines dieser Ornamente verloren, weil sie darauf aufpaßte —, dann ergriff sie ihren eckigen Weidennähkorb unter dem Sitz und stieg aus. Ein halbes Dutzend Bedienstete standen wartend mit Schirmen in Händen da. Ein halbes Dutzend Passagiere hätte die Kutsche unbequem werden lassen, aber die Bediensteten wollten nichts versäumen, und die Überzähligen eilten erst davon, als offenkundig war, daß sich nur drei Passagiere in der Kutsche befanden.

Die Ankunft der Kutsche war anscheinend beobachtet worden. Dunkel gekleidete Diener und Dienerinnen bildeten auf den tiefblauen und goldenen Fliesen der Eingangshalle mit ihrer eckig gewölbten hohen Decke eine korrekte Reihe. Sie sprangen vor, nahmen Umhänge ab, hielten kleine warme Leinentücher bereit, falls jemand sich Gesicht oder Hände abtrocknen wollte, und boten Becher aus MeervolkPorzellan mit scharf gewürztem, heißem Wein dar. Es war ein Wintergetränk, aber der plötzliche Temperaturabfall ließ es dennoch passend erscheinen. Und immerhin war es letztendlich Winter.

Drei Aes Sedai standen wartend zwischen wuchtigen Pfeilern aus dunklem Marmor vor hohen, hellen, für Cairhien zweifellos wichtige Schlachten zeigenden Friesen auf einer Seite der Halle, aber Cadsuane ignorierte die Frauen im Moment noch. Einer der jungen Diener trug eine rotgoldene Gestalt auf die linke Seite seiner Jacke gestickt, die gemeinhin ein Drache genannt wurde. Corgaide, die grauhaarige Frau mit dem ernsten Gesicht, welche die Diener im Sonnenpalast befehligte, stach lediglich durch einen großen, schweren Schlüsselring an der Taille hervor. Auch die Kleidung aller anderen war vollkommen schmucklos, und trotz des offensichtlichen Enthusiasmus des jungen Mannes war es Corgaide, die Hüterin der Schlüssel, welche den Ton unter den Dienern angab. Dennoch hatte sie dem jungen Mann die Stickerei gestattet. Was man in Erinnerung behalten sollte. Cadsuane sprach ruhig mit ihr und fragte nach einem Raum, wo sie ungestört an ihrem Stickrahmen arbeiten könnte. Die Frau nahm ihre Frage vollkommen gelassen auf. Andererseits hatte sie, da sie in diesem Palast diente, gewiß schon seltsamere Anliegen vorgetragen bekommen.

Als sich die Diener unter Verbeugungen und Hofknicksen mit den Umhängen und Tabletts zurückzogen, wandte sich Cadsuane schließlich den drei Schwestern zwischen den Säulen zu. Sie alle sahen sie an und mißachteten Kumira und Daigian. Corgaide blieb, aber sie hielt sich im Hintergrund und ließ die Aes Sedai ungestört. »Ich habe gewiß nicht erwartet.

Euch gemütlich umherspazieren zu sehen«, sagte Cadsuane. »Ich dachte, die Aiel ließen ihre Lehrlinge hart arbeiten.«

Faeldrin reagierte kaum, sie bewegte nur leicht den Kopf, so daß die farbigen Perlen in ihren dünnen Zöpfen klapperten, aber Merana errötete vor Verlegenheit und krampfte die Hände in ihre Röcke. Gewisse Ereignisse hatten Merana so stark erschüttert, daß sich Cadsuane nicht sicher war, ob sie sich jemals wieder davon erholen würde. Bera blieb natürlich nahezu unerschütterlich.

»Die meisten von uns haben wegen des Regens einen freien Tag zugestanden bekommen«, erwiderte Bera ruhig. Sie war eine kräftige Frau in einfachem Tuch — fein gewoben und gut geschnitten, aber entschieden einfach —, so daß sie eher auf einen Bauernhof als in einen Palast gepaßt hätte. Doch nur ein Narr hätte sich dadurch täuschen lassen. Bera besaß einen scharfen Verstand und einen starken Willen, und Cadsuane glaubte nicht, daß sie jemals den gleichen Fehler zweimal machte. Wie die meisten Schwestern hatte auch sie die Begegnung mit der leibhaftigen Cadsuane Melaidhrin noch nicht vollkommen überwunden, aber sie ließ sich nicht von Ehrfurcht leiten. Nach kaum wahrnehmbarem tiefem Einatmen fuhr sie fort. »Ich kann nicht verstehen, warum Ihr immer wieder zurückkommt, Cadsuane. Ihr wollt eindeutig etwas von uns, aber wenn Ihr uns nicht sagt, worum es sich handelt, können wir Euch nicht helfen. Wir wissen, was Ihr für den Lord Drachen getan habt...« — sie zögerte bei dem Titel ein wenig, denn sie waren sich noch immer nicht ganz sicher, wie sie den Jungen nennen sollten —, »aber es ist offensichtlich, daß Ihr seinetwegen nach Cairhien gekommen seid. Wenn Ihr uns jedoch nicht sagt, was Ihr vorhabt und aus welchen Gründen, müßt Ihr verstehen, daß Ihr von uns keine Hilfe erwarten könnt.« Faeldrin, eine weitere Grüne, zuckte bei Beras kühnem Tonfall zusammen, nickte aber zustimmend, noch bevor Bera geendet hatte.

»Ihr müßt auch Folgendes verstehen«, fügte Merana hinzu, die ihre Gelassenheit zurückgewonnen hatte. »Wenn wir beschließen, uns Euch entgegenstellen zu müssen, werden wir es tun.« Beras Miene änderte sich nicht, aber Faeldrin preßte kurz die Lippen zusammen. Vielleicht war sie anderer Meinung, und vielleicht wollte sie nicht zuviel preisgeben.

Cadsuane schenkte ihnen ein schwaches Lächeln. Ihnen sagen, was sie vorhatte und weshalb? Wenn sie beschlossen? Bisher hatten sie es nur geschafft, sich mit gefesselten Händen und Füßen in die Satteltaschen des jungen al'Thor stopfen zu lassen, selbst Bera. Das war kaum eine Empfehlung, sie über mehr entscheiden zu lassen als darüber, was sie morgens anziehen sollten! »Ich bin nicht gekommen, um Euch zu besuchen«, sagte sie. »Obwohl Kumira und Daigian einen Besuch vermutlich genießen würden, da Ihr einen freien Tag habt. Wenn Ihr mich jetzt entschuldigen wollt.«

Sie bedeutete Corgaide vorauszugehen und folgte dann der Frau durch die Eingangshalle. Sie schaute nur einmal zurück. Bera und die übrigen hatten Kumira und Daigian bereits in ihre Mitte genommen und drängten sie fort, aber kaum wie willkommene Gäste. Eher wie eine Gänseherde. Cadsuane lächelte. Die meisten Schwestern beurteilten Daigian kaum besser als eine Wilde und behandelten sie kaum freundlicher als eine Dienerin. Und Kumira stand in dieser Gesellschaft nicht höher. Selbst die Mißtrauischsten konnten sich nicht vorstellen, daß sie hier waren, um jemanden von etwas zu überzeugen. Daher würde Daigian Tee eingießen und still dasitzen, außer wenn sie angesprochen würde — und mit ihrem scharfen Verstand alles analysieren, was sie hörte. Kumira würde alle außer Daigian vor ihr sprechen lassen — und jedes Wort, jede Geste und jeden Gesichtsausdruck deuten und im Gedächtnis behalten. Bera und die übrigen würden ihre dem Jungen gegenüber geleisteten Eide natürlich halten — selbstverständlich —, aber wie eifrig sie es täten, war eine andere Frage. Selbst Merana wäre vielleicht abgeneigt, weit über bloßen Gehorsam hinauszugehen. Das war schlimm genug, ließ ihnen aber erheblichen Raum zu manipulieren. Oder manipuliert zu werden.

Dunkel livrierte Diener, die in Erledigung ihrer Aufgaben durch die mit Wandteppichen behangenen Gänge eilten, sprangen für Cadsuane und Corgaide beiseite, und die beiden schritten unter vielen Verbeugungen und Hofknicksen über Körben und Tabletts und Armen voller Handtücher voran. Aus der Art, wie Corgaide beobachtet wurde, schloß Cadsuane, daß die Hüterin der Schlüssel ebenso geachtet war wie die Aes Sedai. Es waren auch einige Aiel da, große Männer wie Löwen mit kalten Augen und Frauen wie Leoparden mit noch kälteren Augen. Einige sandten ihr ausreichend eisige Blicke nach, um den draußen vom Regen angedrohten Schnee herbeizubringen, aber andere Aiel nickten ihr ernst zu, und hier und da ging eine der Frauen mit den wilden Augen sogar soweit, ihr zuzulächeln. Sie hatte niemals behauptet, dafür verantwortlich zu sein, ihren Car'a'carn gerettet zu haben, aber Erzählungen wurden beim Wiedererzählen ausgeschmückt, und der Glaube gewährte ihr mehr Respekt als jeder anderen Schwester und gewiß mehr Bewegungsfreiheit im Bereich des Palasts. Sie fragte sich, wie sie sich fühlen würden, wenn sie wüßten, daß es ihr, wenn sie den Jungen gerade jetzt vor sich gehabt hätte, sehr schwergefallen wäre, ihn nicht zu verprügeln! Es war kaum mehr als eine Woche her, daß er fast getötet worden wäre, und er hatte es nicht nur geschafft, ihr vollkommen aus dem Weg zu gehen, sondern er hatte ihr ihre Aufgabe sogar noch erschwert, wenn auch nur die Hälfte von dem der Wahrheit entsprach, was sie hörte. Es war bedauerlich, daß er nicht in Far Madding aufgewachsen war. Aber das hätte vielleicht wiederum zu einer anderen Katastrophe geführt.

Der Raum, den Corgaide ihr zuwies, war behaglich warm, mit zu beiden Seiten des Raums in Marmorkaminen brennenden Feuern, entzündeten Lampen und in Glastürmen gespiegelten Flammen, welche die Düsternis des Tages vertrieben. Corgaide hatte offensichtlich befohlen, Vorbereitungen zu treffen, während sie in der Eingangshalle gewartet hatte. Eine Dienerin erschien fast gleichzeitig mit ihnen und brachte auf einem Tablett heißen Tee und gewürzten Wein sowie kleine honigglasierte Kuchen.

»Benötigt Ihr sonst noch etwas, Aes Sedai?« fragte Corgaide, während Cadsuane ihren Nähkorb neben das Tablett auf einen üppig vergoldeten Tisch stellte, der ebenso großartige Schnitzereien aufwies wie der ebenfalls mit Gold überzogene breite Sims. Cadsuane fühlte sich stets wie im Inneren einer goldenen Fischreuse, wenn sie Cairhien besuchte. Trotz des Lichts und der Wärme im Raum tropfte der Regen vor den hohen, schmalen Fenstern, und der graue Himmel verstärkte die unangenehme Empfindung noch.

»Der Tee genügt vollkommen«, sagte sie. »Ihr könnt Alanna Mosvani ausrichten, daß ich sie unverzüglich sehen möchte.«

Corgaides Schlüssel klangen, als sie einen Hofknicks vollführte und respektvoll murmelte, sie würde ›Alanna Aes Sedai‹ persönlich suchen. Ihre ernste Miene veränderte sich nicht, während sie sich zurückzog. Aber sie würde die Bitte höchstwahrscheinlich auf Spitzfindigkeiten überprüfen. Cadsuane zog es vor, wenn möglich direkt zu sein. Sie hatte bereits unzählige kluge Leute zu Fall gebracht, die nicht geglaubt hatten, daß sie genau das meinte, was sie sagte.

Sie Öffnete den Deckel ihres Nähkorbs und nahm ihren Stickrahmen mit einer darum gewickelten, nicht einmal zur Hälfte fertiggestellten Arbeit hervor. In den Korb waren Taschen für Gegenstände eingearbeitet, die nichts mit dem Sticken zu tun hatten: für ihren elfenbeinernen Handspiegel sowie Haarbürste und Kamm, ein Federkästchen und eine fest verschlossene Tintenflasche, eine Anzahl Dinge, bei denen es sich im Laufe der Jahre als nützlich erwiesen hatte, sie zur Hand zu haben, einschließlich einiger, über die jedermann überrascht gewesen wäre, der den Mut besessen hätte, den Korb zu durchsuchen. Nicht daß sie ihn oft aus den Augen ließ. Sie stellte die polierte silberne Garndose vorsichtig auf den Tisch, entnahm die benötigten Fäden und ließ sich mit dem Rücken zur Tür nieder. Das Hauptmotiv auf ihrer Stickarbeit war bereits vollendet, die Hand eines Mannes, die das uralte Symbol der Aes Sedai umschloß. Risse verliefen über die schwarzweiße Scheibe, und man konnte nicht sagen, ob die Hand sie zusammenzuhalten versuchte oder sie zerdrückte. Sie wußte, was sie beabsichtigte. Die Zeit würde die Wahrheit zutage fördern.

Sie fädelte einen Faden ein und setzte die Arbeit an einem der umgebenden Motive fort, einer hellroten Rose. Rosen, Sternenglanz und Sonnenräder, abwechselnd mit Gänseblümchen und Kolibris, alle von Borten starrer Nesseln und Sträuchern mit langen Dornen getrennt. Es würde ein verwirrendes Bild, wenn es fertiggestellt wäre.

Bevor sie auch nur ein halbes Blütenblatt der Rose gestickt hatte, erregte das auf dem flachen Deckel der Garndose widergespiegelte Aufblitzen einer Bewegung ihre Aufmerksamkeit. Sie hatte ihn sorgfältig so hingelegt, daß er den Eingang widerspiegeln mußte. Sie hob den Kopf nicht von ihrer Arbeit. Alanna stand da und starrte auf ihren Rücken. Cadsuane stickte gemächlich weiter, aber sie beobachtete das Spiegelbild aus den Augenwinkeln. Zweimal wandte sich Alanna halbwegs zum Gehen um, riß sich dann schließlich zusammen und stählte sich sichtbar.

»Kommt herein, Alanna.« Cadsuane hob noch immer nicht den Kopf, sondern deutete auf einen Punkt vor sich. »Stellt Euch dorthin.« Sie lächelte verhalten, als Alanna zusammenzuckte. Es hatte Vorteile, wenn man eine Legende war. Die Leute bemerkten selten das Offensichtliche, wenn sie es mit einer solchen zu tun hatten.

Alanna betrat mit rauschenden Seidenröcken stolz den Raum und nahm den von Cadsuane angewiesenen Platz ein, aber um ihren Mund lag ein mürrischer Zug. »Warum beharrt Ihr darauf, mich unaufhörlich zu behelligen?« fragte sie. »Ich kann Euch nicht mehr sagen, als ich Euch bereits mitgeteilt habe. Und wenn ich es könnte, würde ich es wohl dennoch nicht tun! Er gehört...!« Sie brach jäh ab und biß sich auf die Unterlippe, aber sie hätte den Satz ebensogut beenden können. Al'Thor gehörte ihr, war ihr Behüter. Sie besaß die Unverfrorenheit das zu glauben!

»Ich habe Euer Verbrechen für mich behalten«, sagte Cadsuane ruhig, »aber nur weil ich keinen Grund sah, die Dinge noch mehr zu verwirren.« Sie hob den Blick zu der anderen Frau und sprach weiterhin freundlich. »Wenn Ihr glaubt, das bedeutete, ich würde nicht alles von Euch erfahren, dann überdenkt das noch einmal.«

Alanna erstarrte. Plötzlich flammte das Licht Saidars um sie auf.

»Wenn Ihr Euch wirklich töricht verhalten wollt.« Cadsuane lächelte — ein kaltes Lächeln. Sie machte keinerlei Anstalten, selbst die Quelle zu umarmen. Ein Teil ihres Haarschmucks — verschlungene, goldene Halbmonde — lag kühl an ihrer Schläfe. »Im Moment seid Ihr noch unversehrt, aber meine Geduld währt nicht endlos. Tatsächlich hängt sie an einem seidenen Faden.«

Alanna kämpfte mit sich und strich unbewußt über ihr blaues Seidenkleid. Das Schimmern der Macht verblaßte jäh, und sie wandte den Kopf so rasch von Cadsuane ab, daß ihr langes schwarzes Haar schwang. »Ich weiß nicht mehr zu erzählen.« Die eigensinnig geäußerten Worte drangen gehaucht hervor »Er war verletzt, und auch wieder nicht, aber ich glaube nicht, daß eine Schwester ihn geheilt hat. Die Wunden, die niemand heilen konnte, sind noch immer vorhanden. Er eilt umher, reist unentwegt, aber er befindet sich noch immer im Süden. Ich glaube, er befindet sich irgendwo in Illian, aber auf diese Entfernung könnte ich ihn auch in Tear vermuten. Er ist voller Zorn und Schmerz und Mißtrauen. Mehr weiß ich nicht, Cadsuane. Mehr nicht!«

Cadsuane goß sich einen Becher Tee ein, wobei sie die Hitze des Silberkrugs beachtete und dann auch die von dem Becher aus dünnem grünem Porzellan abströmende Wärme überprüfte. Wie man es bei Silber vielleicht hätte erwarten können, war der Tee rasch abgekühlt. Sie lenkte kurz die Macht und erhitzte ihn wieder. Der dunkle Tee schmeckte zu sehr nach Minze. Cairhiener verwendeten die Minze ihrer Meinung nach entschieden zu großzügig. Sie bot Alanna keinen Becher an. Reisen. Wie konnte der Junge wiederentdeckt haben, was der Weißen Burg seit der Zerstörung verlorengegangen war? »Ihr werdet mir jedoch weiterhin umfassend Bericht erstatten, nicht wahr, Alanna.« Es war keine Frage. »Seht mich an, Frau! Ich will jede Einzelheit wissen, auch wenn Ihr nur von ihm träumt!«

Unvergessene Tränen schimmerten in Alannas Augen. »Ihr hättet an meiner Stelle dasselbe getan!«

Cadsuane sah sie über ihren Becher hinweg stirnrunzelnd an. Vielleicht entsprach das der Wahrheit. Es gab keinen Unterschied zwischen dem, was Alanna getan hatte, und dem Vorgang, wenn sich ein Mann einer Frau gewaltsam aufdrängte, aber — das Licht helfe ihr! — sie hätte es vielleicht auch getan, wenn sie geglaubt hätte, es würde ihr zu ihrem Ziel verhelfen. Jetzt erwog sie nicht einmal mehr, Alanna dazu zu bringen, den Bund an sie weiterzugeben. Alanna hatte bewiesen, wie nutzlos diese Kontrolle über ihn war.

»Laßt mich nicht warten, Alanna«, sagte sie mit frostiger Stimme. Sie empfand kein Mitgefühl für die Frau. Alanna war eine weitere in einer Reihe von Schwestern, von Moiraine bis Elaida, die verpfuscht und verschlimmert hatten, was sie hätten in Ordnung bringen sollen, während sie selbst Logain Ablar und dann Mazrim Taim nachgejagt war. Was ihre Stimmung keineswegs milderte.

»Ich werde Euch weiterhin umfassend unterrichten«, seufzte Alanna und schmollte wie ein kleines Mädchen. Cadsuane juckte es in den Fingern, sie zu schlagen. Alanna trug die Stola bereits seit fast vierzig Jahren. Sie hätte erwachsener sein sollen. Natürlich war sie eine Arafellin. In Far Madding trotzten und schmollten nur wenige Mädchen von zwanzig so sehr, wie es einer greisen Arafellin noch auf dem Totenbett gelang.

Alannas Augen weiteten sich jäh vor Schrecken, und Cadsuane sah ein weiteres Gesicht im Deckel ihrer Garndose widergespiegelt. Sie stellte ihren Becher auf das Tablett zurück, legte den Stickrahmen auf den Tisch, stand auf und wandte sich zur Tür. Sie beeilte sich nicht, aber sie trödelte auch nicht und spielte keine Spiele, wie sie es mit Alanna getan hatte.

»Seid Ihr fertig mit ihr, Aes Sedai?« fragte Sorilea, während sie den Raum betrat. Die zähe, weißhaarige Weise Frau sprach zu Cadsuane, aber ihr Blick haftete auf Alanna. Elfenbein und Gold klapperten leise an ihren Handgelenken, als sie die Hände in die Hüften stemmte, und ihre dunkle Stola glitt zu ihren Ellbogen herab.

Als Cadsuane erwiderte, sie sei in der Tat fertig mit Alanna, gab Sorilea ihr kurz ein Zeichen, und Alanna schritt aus dem Raum. Stürzte aus dem Raum, hätte es vielleicht besser getroffen — mit plötzlich verärgerter Miene. Sorilea blickte ihr stirnrunzelnd nach. Cadsuane war der Frau schon zuvor begegnet, und es waren bemerkenswerte, wenn auch kurze Begegnungen gewesen. Sie hatte nicht viele Menschen getroffen, die sie als eindrucksvoll bezeichnet hätte, aber Sorilea gehörte dazu. Sie konnte vielleicht sogar ihr selbst auf einigen Gebieten das Wasser reichen. Sie vermutete auch, daß die Frau ebenso alt war wie sie, vielleicht älter, was zu finden sie niemals erwartet hatte.

Kaum war Alanna verschwunden, als Kiruna im Eingang erschien. In ihrer Eile verfing sie sich in ihren grauen Seidenröcken, und sie spähte den Gang in die Richtung hinab, in die Alanna gegangen war. Sie trug ein kunstvoll verziertes, goldenes Tablett mit einem noch kunstvoller gearbeiteten, goldenen Krug mit hohem Ausguß und, unpassenderweise, zwei kleinen, weiß glasierten Tonbechern. »Warum läuft Alanna davon?« fragte sie. »Ich wäre eher hier gewesen, Sorilea, aber...« Dann sah sie Cadsuane und errötete zuriefst. Verlegenheit wirkte an der statuenhaften Frau recht seltsam.

»Stellt das Tablett auf den Tisch, Mädchen«, sagte Sorilea, »und dann geht zu Chaelin. Sie wird bereits darauf warten, Euch Euren Unterricht erteilen zu können.«

Kiruna stellte ihre Last steif ab, wobei sie Cadsuanes Blick mied. Als sie sich zum Gehen wandte, ergriff Sorilea mit sehnigen Fingern ihr Kinn. »Ihr fangt an, Euch wirklich Mühe zu geben, Kind«, sagte die Weise Frau fest. »Wenn Ihr so weitermacht, werdet Ihr gut werden. Sehr gut sogar. Jetzt geht. Chaelin ist nicht so geduldig wie ich.«

Sorilea deutete zur Tür, aber Kiruna stand da und sah sie einen langen Moment mit seltsamem Ausdruck auf dem Gesicht an. Wenn Cadsuane gefragt worden wäre, hätte sie behauptet, daß Kiruna über das Lob erfreut und überrascht war, gelobt zu werden. Die weißhaarige Frau öffnete den Mund, doch Kiruna schüttelte sich kurz und eilte aus dem Raum. Eine bemerkenswerte Vorstellung.

»Glaubt Ihr wirklich, daß sie Eure Art, Saidar zu weben, erlernen wird?« fragte Cadsuane, ihre Zweifel verbergend. Kiruna und die anderen hatten ihr aus den Unterrichtsstunden berichtet, aber viele der Gewebe der Weisen Frauen unterschieden sich sehr von den in der Weißen Burg gelehrten. Für gewöhnlich prägte sich die erste Art, wie man das Gewebe für etwas Bestimmtes erlernte, jedermann fest ein. Eine zweite Art zu erlernen war fast unmöglich, und selbst wenn man es konnte, gelang das auf die zweite Art erlernte Gewebe fast niemals so gut wie das der ersten Art. Das war einer der Gründe, warum einige Schwestern Wilde in keinem Alter in der Burg willkommen hießen. Zu vieles konnte schon gelernt worden sein und nicht wieder verlernt werden.

Sorilea zuckte die Achseln. »Vielleicht. Eine zweite Art zu erlernen ist ohne all die Gestik von Euch Aes Sedai schwer genug. Das Wichtigste, was Kiruna Nachiman lernen muß, ist, daß sie Stolz besitzt und nicht, daß er sie besitzt. Sie wird eine sehr starke Frau sein, wenn sie das erst begreift.« Sie nahm sich einen Stuhl gegenüber demjenigen, auf dem Cadsuane gesessen hatte, betrachtete ihn nachdenklich und setzte sich dann hin. Sie wirkte fast so steif und unbehaglich, wie sich Kiruna gefühlt haben mußte, aber dann bedeutete sie Cadsuane gebieterisch, sich ebenfalls hinzusetzen. Sorilea war eine Frau von großer Willenskraft, die es gewohnt war zu befehlen.

Cadsuane unterdrückte ein klägliches Kichern, während sie der Aufforderung nachkam. Es war gut, daran erinnert zu werden, daß die Weisen Frauen, ob Wilde oder nicht, durchaus keine einfältigen Barbaren waren. Sie würden die Unterschiede natürlich kennen. Und was die Gestik betraf... Sie hatte nur wenige die Macht lenken sehen, aber sie hatte bemerkt, daß sie einige Gewebe ohne die Gesten schufen, welche die Schwestern gebrauchten. Die Handbewegungen waren nicht wirklich Teil des Gewebes, aber in gewisser Weise doch, weil sie Teil des Erlernens des Gewebes gewesen waren. Vielleicht hatte es einst Aes Sedai gegeben, die beispielsweise eine Feuerkugel schleudern konnten, ohne eine wie auch immer geartete Wurfbewegung auszuführen, aber wenn dem so war, waren sie schon lange tot — und ihr Wissen mit ihnen. Heutzutage konnten einige Dinge einfach nicht ohne die entsprechenden Gesten getan werden. Es gab Schwestern, die behaupteten, anhand der für bestimmte Gewebe verwendeten Bewegungen erkennen zu können, wer eine andere Schwester unterrichtet hatte.

»Es ist schwierig, jedem unserer Neulinge etwas beizubringen«, fuhr Sorilea fort. »Ich will niemanden beleidigen, aber Ihr Aes Sedai sprecht anscheinend einen Eid und versucht dann augenblicklich, eine Möglichkeit zu finden, ihn zu umgehen. Alanna Mosvani ist besonders schwierig.« Plötzlich richteten sich ihre klaren grünen Augen scharf auf Cadsuanes Gesicht. »Wie können wir sie für ihr bewußtes Versagen bestrafen, wenn das bedeutete, dem Car'acarn zu schaden?«

Cadsuane faltete die Hände im Schoß. Es fiel ihr nicht leicht, ihre Überraschung zu verbergen. Nur soviel zur Geheimhaltung von Alannas Verbrechen. Aber warum hatte die Frau ihr mitgeteilt daß sie davon wußte? Vielleicht eine Enthüllung, die eine weitere verlangte. »Der Bund wirkt nicht so«, sagte sie. »Wenn Ihr sie tötet, wird er bald darauf ebenfalls sterben. Bei allem anderen wird er sich dessen bewußt sein, was mit ihr geschieht, aber er wird es nicht wirklich spüren. Auf die jetzige Entfernung wird er sich dessen nur vage bewußt sein.«

Sorilea nickte nachdenklich. Ihre Finger berührten das goldene Tablett auf dem Tisch und lösten sich dann wieder davon. Ihre Miene war ebenso unbewegt wie bei einer Statue, aber Cadsuane vermutete, daß Alanna unangenehm überrascht sein würde, wenn sie das nächste Mal aufbrauste oder auf eine ihrer Arafeller Launen verfiel. Das war jedoch unwichtig. Nur der Junge zählte.

»Die meisten Menschen nehmen, was ihnen geboten wird, wenn es reizvoll und erfreulich erscheint«, sagte Sorilea. »Einst haben wir auch über Rand al'Thor so gedacht. Leider ist es zu spät, den einmal von uns eingeschlagenen Pfad zu verlassen. Jetzt mißtraut er allem, was offen angeboten wird. Nun, wenn ich wollte, daß er etwas annimmt, würde ich vorgeben, ich wollte nicht, daß er es bekommt. Wenn ich in seiner Nähe bleiben wollte, würde ich Gleichgültigkeit vorgeben, wann ich ihn jemals wiedersähe.« Ihr durchdringender Blick richtete sich erneut auf Cadsuane. Nicht in dem Versuch, ihre Gedanken zu ergründen. Die Frau wußte zumindest einiges. Sie wußte genug — oder zuviel.

Dennoch empfand Cadsuane zunehmend erwartungsvolle Spannung. Wenn sie je Zweifel daran gehegt hatte, daß Sorilea sie ergründen wollte, waren sie jetzt beseitigt. Man versuchte jemanden nur dann auf diese Weise zu ergründen, wenn man auf eine gewisse Übereinstimmung hoffte. »Denkt Ihr, daß ein Mann hart sein muß?« fragte sie herausfordernd. »Oder stark?« Sie ließ durch ihren Tonfall keinen Zweifel, daß sie einen Unterschied darin sah.

Sorilea berührte erneut das Tablett. Ein kaum wahrnehmbares Lächeln schien einen Moment ihre Lippen zu umspielen. Oder auch nicht. »Die meisten Menschen sehen beides als ein und dasselbe an, Cadsuane Melaidhrin. Aber Stärke überdauert, wohingegen Härte zerbricht.«

Cadsuane atmete tief ein. Ein Risiko, das sie bei jedem anderen, der es eingegangen wäre, getadelt hätte. Aber sie war nicht jeder andere, und manchmal mußte man Risiken eingehen. »Der Junge verwechselt sie«, sagte sie. »Er muß stark sein, doch er verhärtet sich bereits zu sehr, und er wird nicht aufhören, bis er aufgehalten wird. Er hat vergessen, wie man lacht —außer vor Bitterkeit. Er hat keine Tränen mehr. Wenn er nicht wieder zu lachen und zu weinen lernt, steht der Welt eine Katastrophe bevor. Er muß lernen, daß sogar der Wiedergeborene Drache ein Mensch aus Fleisch und Blut ist. Wenn er so, wie er jetzt ist, in die Letzte Schlacht zieht, könnte sein Sieg ebenso düster werden wie seine Niederlage.«

Sorilea hörte angespannt zu, schwieg aber, nachdem Cadsuane geendet hatte. Ihre grünen Augen betrachteten sie forschend. »Euer Wiedergeborener Drache und Eure Letzte Schlacht werden in unseren Prophezeiungen nicht erwähnt«, sagte Sorilea schließlich. »Wir haben versucht, Rand al'Thor seine Abstammung aufzuzeigen, aber ich fürchte, er sieht uns nur als einen weiteren Speer an. Und wenn ein Speer in Eurer Hand zerbricht haltet Ihr nicht inne, um dies zu beklagen, sondern Ihr ergreift einen neuen Speer.

Vielleicht verfolgen wir beide gar nicht so verschiedene Ziele.«

»Vielleicht«, erwiderte Cadsuane vorsichtig. Auch nur eine Handbreit unterschiedliche Ziele mochten sich überhaupt nicht ähneln.

Das Schimmern Saidars umfloß jäh die Frau mit dem zähen Gesicht. Sie war so schwach im Gebrauch der Macht, daß Daigian vergleichsweise zumindest mäßig stark erschien. Aber andererseits lag Sorileas Stärke auch nicht in der Macht. »Eines könntet Ihr vielleicht als nützlich erachten«, sagte sie. »Ich kann es nicht zur Wirkung bringen, aber ich kann die Stränge weben, um es Euch zu zeigen.« Sie tat genau das, wob schwache Stränge, die zusammenfielen und verschmolzen, zu schwach, um ihre Aufgabe zu erfüllen. »Man nennt es Reisen«, fügte Sorilea hinzu.

Jetzt sank Cadsuanes Kinn herab. Alanna, Kiruna und die übrigen leugneten, die Weisen Frauen zu lehren, wie man sich mit der Macht verband oder auch einige andere Fähigkeiten, die sie plötzlich anscheinend beherrschten, und Cadsuane hatte angenommen, die Aiel hätten es geschafft, sie aus den in den Zelten festgehaltenen Schwestern herauszupressen.

Unmöglich, hätte sie behauptet, und doch glaubte sie nicht, daß Sorilea log. Sie konnte es kaum erwarten, das Gewebe selbst zu versuchen. Nicht daß es augenblicklich etwas genutzt hätte. Selbst wenn sie genau wüßte, wo sich der verflixte Junge aufhielt, mußte sie ihn dazu bringen, zu ihr zu kommen. Darin hatte Sorilea recht. »Ein überaus großzügiges Geschenk«, sagte sie gemächlich. »Ich kann Euch nichts Vergleichbares geben.«

Dieses Mal war das flüchtige Lächeln um Sorileas Lippen unverkennbar. Sie wußte sehr wohl, daß Cadsuane in ihrer Schuld stand. Sie nahm den schweren goldenen Krug mit beiden Händen hoch und füllte vorsichtig die kleinen weißen Becher mit klarem Wasser. Sie vergoß keinen Tropfen.

»Ich biete Euch den Wassereid an«, sagte sie feierlich und nahm einen der Becher auf. »Hiermit sind wir vereint um Rand al'Thor das Lachen und Weinen wieder zu lehren.« Sie trank einen Schluck, und Cadsuane tat es ihr gleich.

»Wir sind vereint.« Und wenn sich herausstellte, daß ihre Ziele überhaupt nicht übereinstimmten? Sie unterschätzte Sorilea nicht als Verbündete oder Gegnerin, aber Cadsuane wußte, welches Ziel um jeden Preis erreicht werden mußte.

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