Egwene erwachte in der düsteren, kalten Dunkelheit der Nacht, erschöpft von ruhelosem Schlaf und beunruhigenden Träumen, die um so besorgniserregender waren, weil sie sich nicht an sie erinnern konnte. Ihre Träume waren ihr stets zugänglich, so klar wie gedruckte Worte auf einem Blatt Papier, und doch waren jene düster und furchterregend gewesen. Sie hatte in letzter Zeit zu viele solcher Träume gehabt. Sie erweckten in ihr den Wunsch davonzulaufen, zu entkommen, wobei sie sich niemals erinnern konnte, wovor, sich aber stets unwohl und unsicher fühlte und sogar zitterte. Wenigstens hatte sie keine Kopfschmerzen. Zumindest konnte sie sich an die Träume erinnern, die sie für bedeutsam hielt, obwohl sie nicht wußte, wie sie sie deuten sollte. Rand, der verschiedene Masken trug, bis plötzlich eines dieser falschen Gesichter keine Maske mehr war, sondern er selbst. Perrin und ein Kesselflicker, die sich mit Streitaxt und Schwert panisch einen Weg durch Brombeersträucher schlugen, sich nicht der Klippe bewußt, die unmittelbar vor ihnen lag. Und die Brombeersträucher schrien mit menschlichen Stimmen, die sie nicht vernahmen. Mat, der auf riesigen Waagschalen zwei Aes Sedai wog, und von seiner Entscheidung hing... Sie konnte nicht sagen, was davon abhing. Etwas Gewaltiges. Die Welt vielleicht. Es hatte andere Träume gegeben, die meisten von Leiden durchdrungen. In letzter Zeit waren alle ihre Träume, in denen Mat auftauchte, erschreckend und qualvoll, wie von Alpträumen geworfene Schatten, fast als wäre Mat selbst nicht ganz real. Das hatte zur Folge, daß sie um Mat bangte, der in Ebou Dar geblieben war, und daß sie schmerzlich bedauerte, ihn dorthin geschickt zu haben, ganz zu schweigen von dem armen alten Thom Merrilin. Aber sie war sich sicher, daß die vergessenen Träume noch schlimmer waren.
Der Klang leise streitender Stimmen hatte sie geweckt. Der Vollmond stand noch hoch am Himmel und warf genug Licht, daß sie zwei einander am Zelteingang gegenüberstehende Frauen ausmachen konnte.
»Die Kopfschmerzen quälen die arme Frau den ganzen Tag, und sie kommt auch nachts kaum zur Ruhe«, flüsterte Halima heftig, die Fäuste in die Hüften gestemmt. »Dies kann bis morgen warten,«
»Ich möchte nicht mit Euch streiten.« Siuans Stimme klang überaus frostig, und sie warf ihren Umhang zurück, als wolle sie sich auf einen Kampf vorbereiten. Sie war dem Wetter angemessen in grobes Tuch gekleidet, das sie zweifellos über so vielen Schichten Kleidung trug, wie darunter paßten. »Tretet beiseite, und zwar rasch, sonst werde ich Eure Eingeweide als Köder benutzen! Und zieht Euch schicklich an!«
Halima richtete sich leise lachend auf und stellte sich Siuan nur noch entschlossener in den Weg. Ihr weißes Nachtgewand lag eng an, war aber für seinen Zweck durchaus schicklich — obwohl es verwunderlich schien, daß sie in der dünnen Seide nicht fror. Die Glut in den dreibeinigen Kohlenpfannen war schon lange erloschen, und weder die häufig geflickte Zeltleinwand noch die Lagen Teppiche auf dem Boden vermochten die Wärme noch zu halten. Der Atem beider Frauen war weißer Nebel.
Egwene warf die Decken zurück und setzte sich auf ihrem schmalen Feldbett erschöpft auf. Halima war eine Frau vom Lande mit einem Hauch von Blasiertheit und schien häufig die den Aes Sedai gebührende Achtung nicht anzuerkennen oder tatsächlich zu glauben, sie müsse niemandem Achtung erweisen. Sie sprach mit Sitzenden wie vielleicht mit Frauen in ihrem eigenen Dorf, mit einem Lachen und offenem Blick sowie freimütiger Erdverbundenheit, die manchmal erschreckte. Siuan verbrachte ihre Tage damit, Frauen Platz zu machen, die noch vor einem Jahr auf ein Wort von ihr sprangen, lächelte fast jede Schwester im Lager an und vollführte Hofknickse vor ihnen. Manche legten noch immer viele der Probleme der Weißen Burg ihr zur Last und glaubten, sie hätte kaum genug erlitten, um gesühnt zu haben. Es reichte aus, jedermanns Stolz anzuspornen. Zusammen waren die beiden wie eine auf der Ladefläche des Wagens eines Feuerwerkers aufgestellte Laterne, aber Egwene hoffte, eine Explosion verhindern zu können. Außerdem wäre Siuan nicht mitten in der Nacht hierher gekommen, wenn es nicht wichtig wäre.
»Geht wieder zu Bett, Halima.« Egwene unterdrückte ein Gähnen, während sie sich herabbeugte, um ihre Schuhe und Strümpfe unter dem Feldbett hervorzukramen. Sie benutzte nicht die Macht, um eine Lampe zu entzünden. Es war besser, wenn niemand bemerkte, daß die Amyrlin wach war, »Geht schon. Ihr braucht Eure Nachtruhe.«
Halima widersprach, vielleicht heftiger, als sie es dem Amyrlin-Sitz gegenüber hätte tun sollen, aber dann lag sie schon bald wieder auf ihrem schmalen Feldbett, das für sie ins Zelt gequetscht worden war. Es blieb bei einem Waschtisch, einem Standspiegel und einem richtigen Lehnstuhl sowie vier großen, aufeinandergestapelten Kisten sehr wenig Raum, sich darin zu bewegen. Die Kisten enthielten die beständige Flut von Geschenken von den Sitzenden, die noch nicht erkannt hatten, daß Egwene, wie jung sie auch sein mochte, nicht jung genug war, um sich von Seide und Spitzen verwirren oder ablenken zu lassen. Halima lag zusammengerollt da und schaute in die Dunkelheit, während Egwene sich mit einem Elfenbeinkamm hastig durch das Haar fuhr, grobe Fäustlinge anzog und eine Jacke mit Fuchskragen über ihr Nachtgewand legte. Es war ein dickes, wollenes Nachtgewand, und sie hätte bei diesem Wetter auch nichts dagegen gehabt, wenn es noch dicker gewesen wäre. Halimas Augen schienen das schwache Mondlicht aufzunehmen und schimmerten dunkel und unbewegt.
Egwene glaubte nicht, daß die Frau um ihren Platz in der Nähe des Amyrlin-Sitzes besorgt war, so unbestimmt er auch war, und das Licht wußte, daß sie kein Geschwätz verbreitete, aber Halima war auf unschuldige Art auf alles neugierig, ob es sie etwas anging oder nicht. Grund genug, Siuan andernorts anzuhören. Inzwischen wußte jedermann, daß Siuan gewissermaßen ihr Los mit Egwene teilte, wie sie glaubten, wenn auch mürrisch und widerwillig. Siuan Sanche war Gegenstand einiger Belustigung und gelegentlichen Mitleids, darauf beschränkt, sich der Frau anzuschließen, die den einst ihr gehörenden Titel innehatte, wobei diese Frau nur eine Marionette wäre, wenn der Saal seinen Streit darüber beendet hätte, wer ihre Fäden in der Hand halten sollte. Siuan empfand menschlich genug, um unterschwellig Unmut zu empfinden, aber bisher hatten sie geheimhalten können, daß sie Egwene gar nicht ungern beriet. Also erduldete sie Mitleid und Hohn, so gut sie konnte, und jedermann glaubte, sie sei durch ihre Erfahrungen nicht nur äußerlich verändert. Dieser Glaube mußte aufrechterhalten werden, sonst würden Romanda und Lelaine und höchstwahrscheinlich auch der übrige Saal Möglichkeiten finden, sie — und ihren Rat — von Egwene fernzuhalten.
Die Kälte außerhalb des Zeltes traf Egwenes Gesicht und drang unter ihren Umhang. Ihr Nachtgewand schützte nicht besser als Halimas. Trotz festen Leders und guten Tuchs fühlten sich ihre Fuße an, als ginge sie barfuß. Ranken frostiger Luft ringelten sich um ihre Ohren, spotteten dem ihre Kapuze säumenden dichten Fell. Sie sehnte sich nach ihrem Bett, und sie mußte alle vorhandene Konzentration aufbringen, die Kälte zu ignorieren. Wolken trieben über den Himmel, und ihre Schatten schwebten über dem schimmerndem Schnee, der den Boden bedeckte, eine weiße Decke, durchbrochen von den dunklen Erhebungen der Zelte und den größeren Umrissen mit Segeltuch bespannter Wagen, die jetzt lange hölzerne Kufen anstatt Räder aufwiesen. Viele der Wagen waren nicht mehr abseits der Zelte abgestellt, sondern dort belassen worden, wo sie entladen worden waren. Niemand brachte es fertig, den Wagenlenkern am Ende des Tages diese besondere Mühe zuzumuten. Nichts außer diesen fahlen, gleitenden Schatten regte sich. Die breiten Rinnen, die als Wege durch das Lager niedergetreten worden waren, lagen verwaist. Es herrschte entschiedene und so tiefe Stille, daß sie fast bedauerte, sie zu brechen.
»Was ist geschehen?« fragte sie leise und warf einen wachsamen Blick zu dem kleinen Zelt neben ihrem, das sich ihre Dienerinnen Chesa, Meri und Selane teilten. Es war ebenso ruhig und dunkel wie alle anderen. Die Erschöpfung lag so dicht über dem Lager wie der Schnee. »Keine weitere Eröffnung wie die Schwesternschaft, hoffe ich.« Sie schnalzte verärgert mit der Zunge. Sie war durch lange kalte Tage im Sattel und zu wenig tiefen Schlaf ebenfalls erschöpft, sonst hätte sie das nicht gesagt. »Es tut mir leid, Siuan.«
»Ihr müßt Euch nicht entschuldigen, Mutter.« Siuan sprach ebenfalls leise und sah sich nach Lauschern in den Schatten um. Sie wollten beide nicht dabei beobachtet werden, wie sie über die Schwesternschaft sprachen. »Ich weiß, ich hätte es Euch schon früher sagen sollen, aber es schien nicht wichtig. Ich hätte niemals erwartet, daß diese Mädchen auch nur mit einer von ihnen sprechen. Es gibt zu vieles, was ich Euch berichten möchte. Ich muß versuchen, mich auf das Wichtige zu beschränken.«
Egwene unterdrückte mühsam ein Seufzen. Das war fast wörtlich die Rechtfertigung, die Siuan schon mehrere Male zuvor gebraucht hatte. Sie wollte damit versuchen, Egwene in wenigen Monaten gewaltsam ihre zwanzig Jahre Erfahrung als Aes Sedai und mehr als zehn davon als Amyrlin einzutrichtern. Egwene fühlte sich manchmal wie eine für den Markt gemästete Gans. »Nun, was ist heute nacht wichtig?«
»Gareth Bryne wartet in Eurem Arbeitszelt.« Siuan sprach nicht lauter, aber mit einer gewissen Schärfe, wie immer, wenn sie von Lord Bryne sprach. Sie zog sich die Kapuze ihres Umhangs tiefer ins Gesicht und gab einen katzenähnlich fauchenden Laut von sich. »Der Mann kam mit schneetropfender Kleidung herein, scheuchte mich aus dem Bett und ließ mir kaum Zeit, mich anzukleiden, bevor er mich hinter sich auf den Sattel hob. Er sagte kein Wort, er ließ mich nur am Rande des Lagers herunter und trug mir dann auf, Euch zu holen, als wäre ich eine Dienerin!«
Egwene unterdrückte energisch eine aufsteigende Hoffnung. Es hatte zu viele Enttäuschungen gegeben, und was auch immer Bryne mitten in der Nacht hierher geführt hatte, weitaus wahrscheinlicher war es eine mögliche Katastrophe als das, was sie sich wünschte. Wie weit war es noch bis zur Grenze nach Andor? »Wir sollten uns anhören, was er will.«
Sie ging auf das Zelt zu, das allgemein als das Arbeitszelt der Amyrlin bezeichnet wurde, ihren Umhang fest um sich geschlossen. Sie zitterte nicht, aber sich nur zu weigern, Hitze und Kalte an sich heranzulassen, vertrieb sie nicht. Man konnte sie bis zu dem Moment ignorieren, bis der Sonnenstich das Gehirn siedete oder Erfrierungen Hände und Füße verfaulen ließen. Sie überlegte, was Siuan gesagt hatte.
»Ihr habt nicht hier in Eurem eigenen Zelt geschlafen?« fragte sie vorsichtig. Die Beziehung der anderen Frau zu Lord Bryne war auf eigentümliche Art tatsächlich die einer Dienerin, aber Egwene hoffte, daß sich Siuan von ihrem dickköpfigen Stolz nicht dazu verleiten lassen würde, ihn Vorteil daraus ziehen zu lassen. Sie konnte es sich weder von ihm noch von ihr vorstellen, aber vor noch nicht allzu langer Zeit hätte sie sich auch nicht vorstellen können, daß Siuan diese Situation auch nur ansatzweise akzeptierte. Sie konnte noch immer nicht verstehen, warum.
Siuan schnaubte laut, schritt energisch aus und fiel fast hin, als sie ausrutschte. Der von zahllosen Füßen niedergetretene Schnee war zu einer glatten Eisschicht geworden. Egwene schritt vorsichtig aus. Jeden Tag brach sich jemand Knochen und mußte von den von der Reise erschöpften Schwestern geheilt werden. Sie ließ ihren Umhang los und bot Siuan zur gegenseitigen Unterstützung einen Arm. Siuan ergriff ihn murrend.
»Als ich damit fertig war, das zweite Paar Stiefel und den zweiten Sattel des Mannes zu putzen, war es zu spät, noch hierher zurückzukehren. Nicht daß er mir mehr als Decken in einer Ecke angeboten hätte. Nicht Gareth Bryne! Er hat sie mich selbst aus der Kiste ausgraben lassen, während er das Licht weiß wohin ging! Männer sind eine Prüfung, und er ist die härteste!« Sie hielt inne, um Luft zu holen, und wechselte dann das Thema. »Ihr solltet diese Halima nicht in Eurem Zelt schlafen lassen. Sie bedeutet noch zwei Ohren, in deren Gegenwart Ihr vorsichtig sein müßt, und sie ist neugierig. Außerdem müßt Ihr damit rechnen, sie mit irgendeinem Soldaten vorzufinden.«
»Ich bin sehr froh, daß Delana sie nachts entbehren kann«, sagte Egwene fest. »Ich brauche Halima. Es sei denn, Nisaos Heilkünste könnten meine Kopfschmerzen beim zweiten Mal besser vertreiben.« Halimas Finger schienen den Schmerz durch ihre Kopfhaut herauszuziehen. Ohne sie könnte sie überhaupt nicht schlafen. Nisaos Bemühungen hatten bisher keinerlei Erfolg gehabt, und sie war die einzige Gelbe, der Egwene sich mit ihren Schmerzen zu nähern wagte. Was das übrige betraf... Sie verlieh ihrer Stimme noch mehr Festigkeit. »Es überrascht mich, daß Ihr noch immer auf dieses Geschwätz hört, Tochter. Die Tatsache, daß Männer Frauen gern anschauen, bedeutet nicht, daß sie dies herausfordert, wie Ihr wohl wissen solltet. Ich habe bemerkt, daß einige auch Euch ansehen und lächeln.« Sie konnte jetzt leichter in diesem Tonfall sprechen als früher.
Siuan warf ihr einen bestürzten Seitenblick zu und äußerte kurz darauf murrend eine Entschuldigung. Vielleicht war sie ehrlich gemeint. Egwene nahm sie jedenfalls an. Lord Bryne bekam Siuans Stimmung nicht gut, und da Halima mit hineingezogen wurde, war Egwene froh, daß sie nicht zu einer strikteren Haltung gezwungen wurde. Siuan hatte selbst gesagt, sie solle keinen Unsinn dulden, und sie konnte es sich gewiß nicht leisten, ihn gerade von Siuan zu dulden.
Sie mühten sich Arm in Arm schweigend weiter, während die Kälte ihren Atem gefrieren ließ und durch ihre Haut drang. Der Schnee war ein Fluch und eine Lektion. Sie konnte Siuan noch immer darüber dozieren hören, was sie das Gesetz der Unbeabsichtigten Konsequenzen nannte, das stärker als jegliches geschriebenes Gesetz sei. Ob das, was man tut, die gewünschte Wirkung erzielt oder nicht, so hat es doch mindestens drei vollkommen unerwünschte Wirkungen, von denen eine gewöhnlich unerfreulich ist.
Die ersten schwachen Regenfälle hatten hur Erstaunen gesorgt auch wenn Egwene dem Saal bereits mitgeteilt hatte, daß die Schale der Winde gefunden und benutzt worden war. Mehr hätte sie nicht riskieren dürfen, als ihnen zu berichten, was Elayne ihr in Tel'aran'rhiod gesagt hatte. Zu vieles, was in Ebou Dar geschehen war, schien geeignet, ihr den Boden unter den Füßen zu entziehen, und ihre Position war ohnedies schon gefährdet genug. Heftige Freude war bei den ersten Tropfen in ihr aufgewallt. Sie hatten ihren Marsch mittags unterbrochen, und es hatte im Regen Freudenfeuer und ein Festessen, Dankesgebete der Schwestern und Tänze der Diener und Soldaten gegeben. Sogar einige Aes Sedai hatten getanzt.
Wenige Tage später wurde der sanfte Regen zu langanhaltendem, heftigem Platzregen und dann zu tobendem Sturmregen. Die Temperatur sank sturzartig, und der Sturmregen wurde zu Schneestürmen. Jetzt brauchten sie für die einst an einem Tag zurückgelegte Entfernung fünf Tage, wenn der Himmel wolkenverhangen war, wobei Egwene zähneknirschende Betrachtungen darüber anstellte, wie langsam sie vorankamen, und wenn es schneite, zogen sie überhaupt nicht weiter. Da konnte man nur allzu leicht an drei oder mehr unbeabsichtigte Konsequenzen denken, und der Schnee mochte noch die am wenigsten unerfreuliche davon sein.
Als sie sich dem kleinen geflickten Zelt näherten, das als Arbeitszelt der Amyrlin bezeichnet wurde, bewegte sich neben einem der hohen Wagen ein Schatten, und Egwene hielt den Atem an. Der Schatten wurde zu einer Gestalt, die ihre Kapuze für einen Augenblick so weit zurückzog, daß Leanes Gesicht erkennbar wurde.
»Sie wird Wache halten und es uns wissen lassen, wenn jemand kommt«, sagte Siuan leise.
»Das ist gut«, murmelte Egwene. Die Frau hätte ihr das wirklich vorher sagen können. Sie hatte halbwegs befürchtet es wäre Romanda oder Lelaine!
Das Arbeitszelt der Amyrlin lag im Dunkeln, aber im Innern wartete Lord Bryne geduldig in seinen Umhang gehüllt, ein Schatten zwischen Schatten. Egwene umarmte die Quelle und lenkte die Macht, nicht um die Laterne, die von einer Zeltstange herabhing, oder eine der Kerzen zu entzünden, sondern um eine kleine Kugel fahlen Lichts zu gestalten, die sie über dem Falttisch schweben ließ, den sie als Schreibtisch benutzte. Es war eine sehr kleine und sehr fahle Kugel, die von außen wahrscheinlich nicht bemerkt würde und schnell wie ein Gedanke gelöscht werden konnte. Sie durfte keine Entdeckung riskieren.
Es hatte Amyrlins gegeben, die mit Stärke regiert hatten, Amyrlins, denen es gelungen war, Ausgewogenheit mit dem Saal zu erreichen, und Amyrlins, die so wenig Macht wie sie oder selten sogar noch weniger besessen hatten, was in den geheimen Aufzeichnungen der Weißen Burg wohlverborgen wurde. Mehrere Amyrlins hatten Macht und Einfluß vergeudet, waren von Stärke zu Schwäche verfallen, aber seit über dreitausend Jahren war es außerordentlich wenigen gelungen, sich in die andere Richtung zu bewegen. Egwene wünschte sich sehr, sie wüßte, wie Myriam Copan und den übrigen dieser kaum einer Handvoll solches gelungen war. Wenn jemand jemals daran gedacht hatte, es niederzuschreiben, waren diese Aufzeichnungen schon lange verloren.
Bryne verbeugte sich respektvoll und zeigte sich über ihre Vorsicht nicht überrascht. Er wußte, was sie riskierte, indem sie ihn heimlich traf. Sie vertraute diesem kräftigen, stark ergrauenden Mann mit dem offenen, wettergegerbten Gesicht weitgehend, und das nicht nur, weil sie ihm vertrauen mußte. Sein Umhang war aus dickem rotem Tuch, mit Marderpelz verbrämt und der Flamme von Tar Valon besetzt, einem Geschenk des Saals, und doch hatte er ein Dutzend Mal in den vergangenen Wochen deutlich gemacht, daß, was auch immer der Saal glaubte — und er war nicht blind genug, das nicht erkannt zu haben! —, sie die Amyrlin sei, und er folgte der Amyrlin. Oh, er hatte das niemals direkt ausgesprochen, aber mit vorsichtig formulierten Hinweisen vermittelt, die keinen Zweifel ließen. Mehr zu erwarten hätte bedeutet, zuviel zu erwarten. Es gab fast ebenso viele Unterströmungen im Lager, wie Aes Sedai dort waren, und einige davon waren ausreichend stark, ihn hinabziehen zu können. Mehrere waren stark genug, sie noch tiefer in Schwierigkeiten zu ziehen, als es jetzt der Fall war, wenn der Saal von diesem Treffen erführe. Sie vertraute ihm weiter als jedem anderen außer Siuan und Leane oder Elayne und Nynaeve, vielleicht sogar noch weiter als jeder der Schwestern, die ihr heimlich Treue geschworen hatten, und sie wünschte, sie hätte den Mut, ihm noch weiter zu vertrauen. Die Kugel weißen Lichts warf schwache, unregelmäßige Schatten.
»Ihr habt Neuigkeiten, Lord Bryne?« fragte sie und unterdrückte ihre Hoffnung. Sie konnte sich ein Dutzend mögliche Nachrichten vorstellen, die ihn in der Nacht hierher führen konnten, deren jede ihre eigenen Fallen barg. Hatte Rand beschlossen, der Krone Illians noch weitere hinzuzufügen, oder hatten die Seanchaner eine weitere Stadt eingenommen, oder verfolgte die Bande der Roten Hand plötzlich eigene Pläne, anstatt den Aes Sedai zu folgen, oder...
»Ein Heer liegt nördlich von uns, Mutter«, erwiderte er ruhig. Seine in Lederhandschuhen steckenden Hände ruhten leicht auf seinem langen Schwertheft.
Ein Heer im Norden, ein wenig mehr Schnee — alles dasselbe. »Hauptsächlich Andoraner, aber auch eine Anzahl Murandianer. Meine Kundschafter brachten die Nachricht vor weniger als einer Stunde. Pelivar führt sie an, und Arathelle ist bei ihm, die Hochsitze der beiden stärksten Häuser in Andor, und sie haben mindestens zwanzig weitere mitgebracht. Sie dringen anscheinend rasch nach Süden vor. Wenn Ihr Eure Richtung beibehaltet, wovon ich Euch abrate, sollten wir in zwei, höchstens drei Tagen unmittelbar auf sie stoßen.«
Egwene behielt eine ausdruckslose Miene bei und unterdrückte ihre Erleichterung. Dies war die Nachricht, auf die sie gehofft und inständig gewartet hatte. Sie hatte bereits befürchtet, daß es niemals eintreffen würde. Überraschenderweise war Siuan diejenige, die keuchte und zu spät eine Hand über den Mund legte.
Bryne sah sie mit gewölbten Augenbrauen an, aber sie erholte sich rasch und nahm so gekonnt die vollkommene Aes Sedai-Gelassenheit an, daß man ihr jugendliches Gesicht fast vergessen konnte.
»Habt Ihr Skrupel, Eure andoranischen Kameraden zu bekämpfen?« fragte sie. »Sprecht, Mann.« Nun, ein kleiner Riß in der Gelassenheit war erkennbar.
»Wie Ihr befehlt, Siuan Sedai.« Brynes Tonfall barg keinen Spott, und doch preßte Siuan die Lippen zusammen, während ihre äußere Kühle rasch schwand. Er verbeugte sich leicht vor ihr, ungelenk, aber annehmbar. »Ich werde natürlich bekämpfen, wen immer ich dem Wunsch der Mutter gemäß bekämpfen soll.« Er war selbst hier nicht entgegenkommender. Männer lernten, in Gegenwart von Aes Sedai vorsichtig zu sein. Wie auch Frauen. Egwene hatte das Gefühl, als sei ihr die Vorsicht zur zweiten Natur geworden.
»Und wenn wir nicht weiterziehen?« fragte sie. So viele Pläne waren geschmiedet worden, nur von ihr und Siuan und manchmal Leane, und jetzt mußte sie noch immer jeden Schritt so vorsichtig beginnen wie auf den vereisten Wegen draußen. »Wenn wir hier bleiben?«
Er zögerte nicht. »Wenn Ihr eine Möglichkeit hättet, mit Euren Leuten diese Gefahr zu umgehen, ohne kämpfen zu müssen, wäre das gut und schön, aber irgendwann am morgigen Tag erreicht das Heer eine ausgezeichnete Verteidigungsposition, eine Flanke vom Fluß Armahn und die andere von einem großen Torfsumpf geschützt und vor sich kleine Flüsse, die Angriffe aufhalten. Pelivar wird dort lagern, um abzuwarten. Er weiß, wie man das macht. Arathelle wird ihren Anteil daran haben, wenn es Verhandlungen gibt, aber sie wird die Langspieße und Schwerter ihm überlassen. Wir können diesen Platz nicht vor ihm erreichen, und das Gebiet dort wäre für uns ohnehin nicht von Nutzen, wenn er sich nördlich befindet. Wenn Ihr kämpfen wollt, rate ich dazu, abermals den Hügelkamm aufzusuchen, den wir vor zwei Tagen überquert haben. Ihn können wir leicht vor ihnen erreichen, wenn wir in der Dämmerung aufbrechen, und Pelivar würde es sich auch dann zweimal überlegen, uns dort anzugreifen, wenn er die dreifache Anzahl Leute hätte, über die er in Wirklichkeit verfügt.«
Egwene stampfte in ihren Strümpfen mit den fast erfrorenen Zehen auf und seufzte verärgert. Es war ein Unterschied, ob man sich von der Kälte nicht berühren ließ oder sie nicht spürte. Sie ging vorsichtig vor, ließ sich von der Kälte nicht ablenken und fragte: »Werden sie mit uns sprechen, wenn wir es ihnen anbieten?«
»Wahrscheinlich, Mutter. Die Murandianer zählen kaum. Sie sind nur dort, um jeden möglichen Vorteil aus der Situation zu ziehen, ebenso wie ihre mir unterstehenden Landsleute. Perival und Arathelle sind wichtig. Wenn ich wetten sollte, würde ich sagen, daß sie Euch nur von Andor fernhalten wollen.« Er schüttelte grimmig den Kopf. »Aber sie werden kämpfen, wenn es sein muß, vielleicht selbst wenn das bedeutet, Aes Sedai anstatt Soldaten gegenübertreten zu müssen. Wahrscheinlich haben sie dieselben Geschichten wie wir über jene Schlacht irgendwo im Osten gehört.«
»Unsinn!« grollte Siuan. Soweit zur Gelassenheit. »Wilde Gerüchte und bloßes Geschwätz sind kein Beweis dafür, daß es überhaupt eine Schlacht gegeben hat, Ihr Schafskopf, und wenn es eine Schlacht gegeben hätte, dann hätten sich Schwestern nicht hineinziehen lassen!« Der Mann bedeutete für sie wirklich ein Anlaß zur Sünde.
Bryne lächelte seltsamerweise. Das tat er häufig, wenn Siuan ihre Gereiztheit zeigte. Bei jedermann sonst hätte Egwene dieses Lächeln als zärtlich bezeichnet. »Es ist besser für uns, wenn sie es glauben«, belehrte er Siuan freundlich. Ihr Gesicht verfinsterte sich derart, daß man hätte denken können, er hätte sie verhöhnt.
Warum ließ sich eine ansonsten vernünftige Frau von einem Mann so in Rage versetzen? Was auch immer der Grund dafür war, Egwene hatte dafür heute nacht keine Zeit. »Siuan, ich sehe gerade, daß jemand vergessen hat, den gewürzten Wein fortzunehmen. Er kann bei dieser Kälte noch nicht versäuert sein. Wärmt ihn bitte für uns auf.« Sie wollte die Frau nicht vor Bryne maßregeln, aber sie mußte im Zaum gehalten werden, und dies schien die freundlichste Art, dies zu tun. Sie hätten den Silberkrug wirklich nicht auf dem Tisch stehenlassen sollen.
Siuan zuckte zwar nicht zusammen, aber ihrem verletzten Gesichtsausdruck nach zu urteilen, den sie schnell wieder verbannte, hätte man niemals glauben mögen, daß sie die Kniehosen des Mannes wusch. Sie lenkte ohne ein Wort leicht die Macht, um den Wein erneut zu erhitzen, füllte dann rasch zwei saubere Becher und reichte Egwene den ersten. Den zweiten behielt sie selbst; sie sah Lord Bryne nur an, während sie daraus trank, und überließ es ihm, sich selbst einen Becher einzugießen.
Egwene wärmte sich ihre in Fäustlingen steckenden Hände an ihrem Becher. Sie war verärgert. Vielleicht war dies Teil von Siuans lange aufgeschobener Auseinandersetzung mit dem Tod ihres Behüters. Sie wurde immer noch hin und wieder aus unersichtlichem Grund rührselig, obwohl sie es zu verbergen versuchte. Egwene verdrängte diese Angelegenheit aus ihren Gedanken. Heute nacht erschien sie wie ein Ameisenhaufen neben Bergen.
»Ich möchte eine Schlacht nach Möglichkeit vermeiden, Lord Bryne. Das Heer ist für Tar Valon gedacht, nicht dafür, hier einen Krieg zu bestreiten. Verabredet so bald wie möglich ein Treffen zwischen dem Amyrlin-Sitz, Lord Pelivar, Lady Arathelle und jedem anderen, von dem Ihr denkt, daß er dabeisein sollte. Aber nicht hier. Unser rasch errichtetes Lager wird sie nicht sonderlich beeindrucken. Denkt daran —so bald wie möglich. Ich hätte nichts gegen morgen, wenn das machbar ist.«
»So schnell kann ich es nicht schaffen, Mutter«, sagte er sanft. »Wenn ich Reiter ausschicke, sobald ich ins Lager zurückkehre, werden sie wohl nicht vor morgen abend mit einer Antwort zurück sein.«
»Dann solltet Ihr unverzüglich aufbrechen.« Licht, ihre Hände und Füße fühlten sich kalt an. Und ihre Magengrube ebenfalls. Aber ihre Stimme blieb ruhig. »Und ich möchte, daß Ihr dieses Treffen und die Existenz des Heeres so lange wie möglich vor dem Saal geheimhaltet.«
Damit bat sie ihn, ein ebenso großes Risiko auf sich zu nehmen, wie sie es tat. Gareth Bryne war einer der besten lebenden Befehlshaber, aber der Saal war erzürnt darüber, daß er das Heer nicht in ihrem Sinne führte. Die Sitzenden waren zu Beginn dankbar für seinen Namen gewesen, weil er half, Soldaten für ihren Zweck heranzuziehen. Inzwischen bestand das Heer aus über dreißigtausend bewaffneten Männern, und trotz der Schneefälle kamen noch weitere hinzu, folglich dachten sie, sie brauchten Lord Gareth Bryne vielleicht nicht mehr. Und dann gab es natürlich noch jene, die glaubten, sie hätten ihn niemals gebraucht. Sie würden ihn nicht einfach fortschicken. Wenn der Saal sich zu handeln entschlösse, könnte er sehr wohl wegen Verrat gehängt werden.
Er zuckte mit keiner Wimper, und er stellte keine Fragen. Vielleicht wußte er, daß sie keine Antworten geben würde. Oder vielleicht dachte er, er kenne sie. »Es herrscht nicht viel Verkehr zwischen Eurem und meinem Lager, aber zu viele Menschen wissen bereits von dem Geheimnis. Ich werde jedoch tun, was ich kann.«
So einfach war das. Der erste Schritt auf dem Weg, der sie zum Amyrlin-Sitz in Tar Valon führen oder sie fest in den Griff des Saals bringen würde, wobei für sie nichts anderes übrigbliebe als zu entscheiden, ob Romanda oder Lelaine ihr sagen würden, was sie zu tun habe. Solch ein lebenswichtiger Moment sollte von Fanfaren und Trompeten oder zumindest von Donner am Himmel begleitet sein. So war es in Geschichten stets.
Egwene ließ die Lichtkugel verlöschen, aber als Bryne sich zum Gehen wandte, ergriff sie seinen Arm. Es war, als ergreife man durch seine Jacke hindurch einen dicken Ast. »Eine Frage noch, Lord Bryne. Ihr wollt doch nicht vom Marsch erschöpfte Männer zu einer Belagerung Tar Valons führen? Wieviel Ruhe wolltet Ihr ihnen gönnen, bevor Ihr aufbrecht?«
Er hielt zum ersten Mal inne, und sie wünschte, das Licht würde noch brennen, damit sie sein Gesicht sehen könnte. Sie glaubte, daß er die Stirn in Falten legte. »Selbst wenn man die Leute außer acht läßt, die im Sold der Burg stehen«, begann er schließlich zögernd, »verbreitet sich die Nachricht von einem Heer rasend schnell. Elaida wird es bis zum Tag unserer Ankunft erfahren haben, und sie wird uns keine Stunde Zeit geben. Ihr wißt doch, daß sie die Burgwachen verstärkt hat? Angeblich auf fünfzigtausend Mann. Aber ich würde die Männer nach Möglichkeit gern dennoch einen Monat rasten und sich erholen lassen. Zehn Tage wären zwar auch genug, aber ein Monat wäre besser.« Sie ruckte und ließ ihn los. Diese beiläufige Frage über die Burgwache schmerzte sie. Er war sich durchaus bewußt, daß der Saal und die Ajahs ihr nur sagten, was sie wissen sollte. »Ihr habt vermutlich recht«, sagte sie tonlos. »Es wird keine Zeit zum Ausruhen verbleiben, wenn wir Tar Valon erst erreichen. Schickt Eure schnellsten Reiter. Es wird doch keine Schwierigkeiten geben? Pelivar und Arathelle werden sie doch in Ruhe anhören?« Die Besorgnis in ihrer Stimme war nicht vorgetäuscht. Vielleicht wurde mehr als nur ihre Pläne vernichtet, wenn sie jetzt kämpfen mußten.
Brynes Tonfall änderte sich anscheinend nicht, aber er klang jetzt in gewisser Weise tröstlich. »Solange es genug Licht gibt, damit sie die weißen Federn sehen können, werden sie einen Unterhändler erkennen und ihm zuhören. Ich sollte jetzt besser gehen, Mutter. Es ist ein langer und anstrengender Ritt, selbst für Männer, die Ersatzpferde zur Verfügung haben.«
Egwene atmete tief aus, sobald der Zelteingang hinter ihm zufiel. Ihre Schultern waren angespannt, und sie hatte das Gefühl, als bekäme sie jeden Moment Kopfschmerzen. Normalerweise entspannte sie sich in Brynes Gegenwart und übernahm seine Sicherheit. Heute nacht hatte sie ihn manipulieren müssen, und sie glaubte, daß er es wußte. Er war ein achtsamer Mann. Aber es stand zu viel auf dem Spiel, um ihm noch weiter zu vertrauen, bis er sich offen erklärte — vielleicht in Form eines Eides wie derjenige, den Myrelle und die übrigen geleistet hatten. Bryne folgte der Amyrlin, und das Heer folgte Bryne. Wenn er glaubte, sie würde die Männer sinnlos vergeuden, genügten wenige Worte von ihm, um sie hilflos dem Saal auszuliefern. Sie trank einen tiefen Schluck und spürte die Wärme des gewürzten Weins durch sich hindurch strömen.
»Es wäre besser für uns, wenn sie es glaubten«, murmelte sie. »Ich wünschte, es gäbe etwas, was sie glauben könnten. Wenn ich vielleicht auch nichts sonst erreiche, Siuan, hoffe ich zumindest, daß ich uns von den Drei Eiden befreien kann.«
»Nein!« erwiderte Siuan barsch. Sie klang regelrecht empört. »Es auch nur zu versuchen könnte verheerende Folgen haben, und wenn Ihr Erfolg hättet... Das Licht helfe uns... Wenn Ihr Erfolg hättet, würdet Ihr die Weiße Burg vernichten.«
»Wovon sprecht Ihr? Ich versuche, die Eide zu befolgen, Siuan, da wir gegenwärtig an sie gebunden sind, aber die Eide werden uns gegen die Seanchaner nicht helfen. Wenn Schwestern in Lebensgefahr geraten müssen, bevor sie sich wehren dürfen, ist es nur eine Frage der Zeit, bis wir alle tot oder angeleint sind.« Sie konnte das A'dam um ihre Kehle wieder einen Moment spüren, das sie in einen Hund an einer Leine verwandelt hatte. In einen gut dressierten und gehorsamen Hund. Jetzt war sie froh über die Dunkelheit, die ihr Zittern verbarg. Schatten verfinsterten Siuans Gesicht bis auf ihren geräuschlos mahlenden Unterkiefer.
»Seht mich nicht so an, Siuan.« Es war leichter, verärgert als verängstigt zu sein und Angst hinter Zorn zu verbergen. Sie würde sich niemals wieder anleinen lassen! »Ihr habt jeden Vorteil genutzt, seit Ihr von den Eiden befreit wurdet. Wenn Ihr nicht gelogen hättet, befänden wir uns alle ohne Heer in Salidar, würden Däumchen drehen und auf ein Wunder warten. Nun, Ihr würdet das jedenfalls tun. Sie hätten mich niemals zur Amyrlin ernannt, wenn Ihr nicht bezüglich Logain und der Roten gelogen hättet. Elaida würde uneingeschränkt regieren, und in einem Jahr würde sich niemand mehr daran erinnern, wie sie sich den Amyrlin-Sitz angeeignet hat. Sie würde die Burg gewiß vernichten. Ihr wißt, daß sie hinsichtlich Rand vieles falsch macht. Es würde mich nicht überraschen, wenn sie inzwischen sogar versucht hätte, ihn zu entführen, nur daß sie gerade mit uns beschäftigt ist. Nun, vielleicht würde sie ihn nicht entführen, aber sie würde gewiß irgend etwas tun. Und die Aes Sedai würden heute wahrscheinlich die Asha'man bekämpfen, ungeachtet dessen, daß Tarmon Gai'don hinter der nächsten Ecke wartet.«
»Ich habe gelogen, als es nötig schien«, flüsterte Siuan. »Als es ratsam schien.« Ihre Schultern waren eingesunken, und sie klang, als gestehe sie Verbrechen, die sie nicht einmal sich selbst gegenüber zugeben wollte. »Manchmal denke ich, daß es für mich zu leicht geworden ist, zu entscheiden, ob etwas nötig und ratsam ist. Ich habe fast jedermann belogen — bis auf Euch. Aber auch das ist mir wohl in den Sinn gekommen, um Euch zu einer Entscheidung hinzuführen oder von einer Entscheidung abzubringen. Nicht die Tatsache, daß ich Euer Vertrauen behalten wollte, hat mich abgehalten.« Siuan streckte in der Dunkelheit bittend eine Hand aus. »Das Licht weiß, was Euer Vertrauen und Eure Freundschaft mir bedeuten, aber das war es nicht. Es war auch nicht das Wissen, daß Ihr mir die Haut in Fetzen abziehen oder mich fortschicken würdet, wenn Ihr es herausfändet, vielmehr erkannte ich, daß ich bei jemandem an den Eiden festhalten müßte, um mich nicht vollkommen zu verlieren. Also belüge ich Euch und Gareth Bryne nicht, zu welchem Preis auch immer. Und ich werde so bald wie möglich erneut die Drei Eide auf die Eidesrute schwören, Mutter.«
»Warum?« fragte Egwene ruhig. Siuan hatte erwogen, sie zu belügen? Sie hätte ihr dafür die Haut abgezogen. Aber ihr Zorn war bereits verraucht. »Ich verzeihe Lügen nicht, Siuan — normalerweise nicht. Aber manchmal ist es wirklich notwendig.« Ihre Zeit bei den Aiel kam ihr in den Sinn. »Jedenfalls solange man bereit ist, dafür zu bezahlen. Ich habe Schwestern Strafen für geringere Vergehen auf sich nehmen sehen. Ihr seid eine der ersten einer neuen Art Aes Sedai, Siuan, frei und ungebunden. Ich glaube Euch, wenn Ihr mir sagt, daß Ihr mich nicht belügen werdet.« Oder Lord Bryne? Das war seltsam. »Warum wollt Ihr Eure Freiheit also aufgeben?«
»Aufgeben?« Siuan lachte. »Ich werde nichts aufgeben.« Sie richtete sich auf, und ihre Stimme wurde zunächst fester und dann leidenschaftlich. »Die Eide sind es, die uns zu mehr als nur einer einfachen Gruppe Frauen machen, die sich ins Weltgeschehen einmischen. Die Eide halten uns zusammen, feste Glaubensvorstellungen binden uns, ein einziger Lebensfaden verläuft durch alle Schwestern, lebendig oder tot, bis zu den Ersten zurück, die ihre Hände auf die Eidesrute legten. Sie sind es, die uns zu Aes Sedai machen, nicht Saidar. Jede Wilde kann die Macht lenken. Männer mögen das, was wir sagen, von allen Seiten betrachten, aber wenn eine Schwester sagt: ›So ist es‹, dann wissen sie, daß es stimmt, und sie vertrauen ihr aufgrund der Eide. Dank der Eide fürchtet auch keine Königin, daß Schwestern ihre Städte verwüsten werden. Der schlimmste Schurke weiß, daß er bei einer Schwester in Sicherheit ist, wenn er ihr keinen Schaden zuzufügen versucht. Oh, die Weißmäntel nennen sie Lügen, und einige Menschen haben seltsame Vorstellungen über das, was die Eide beinhalten, aber es gibt nur wenige Orte, wo eine Aes Sedai nicht hingehen kann und wo man ihr nicht zuhören wird — aufgrund der Eide. Die Drei Eide beinhalten, was es bedeutet, eine Aes Sedai zu sein, das Herz des Aes Sedai-Seins. Werft das fort, und wir sind wie Sand, der von den Gezeiten fortgespült wird. Anstatt etwas aufzugeben, werde ich etwas gewinnen.«
Egwene runzelte die Stirn. »Und die Seanchaner?« Was es bedeutet, eine Aes Sedai zu sein. Sie hatte fast von dem Tage an, als sie in Tar Valon eintraf, auf das Ziel hingearbeitet, eine Aes Sedai zu werden, aber sie hatte niemals wirklich darüber nachgedacht, was eine Frau gewiß zur Aes Sedai machte.
Siuan lachte erneut, obwohl es dieses Mal ein wenig verzerrt und abgespannt klang. Sie schüttelte den Kopf und wirkte trotz der Dunkelheit müde. »Ich weiß es nicht, Mutter. Das Licht helfe mir, aber ich weiß es nicht. Immerhin haben wir die Trolloc-Kriege überlebt und auch die Weißmäntel und Artur Falkenflügel und alles dazwischen Liegende. Wir können einen Weg finden, mit diesen Seanchanern umzugehen, ohne uns zu vernichten.«
Egwene war sich dessen nicht so sicher. Viele der Schwestern im Lager hielten die Seanchaner für eine solche Gefahr, daß die Belagerung Elaidas ihrer Meinung nach warten sollte. Als würde abwarten Elaida nicht auf dem Amyrlin-Sitz festigen. Viele andere glaubten anscheinend, daß nur die Wiedervereinigung der Weißen Burg, zu welchem Preis auch immer, die Seanchaner vertreiben könnte. Das Überleben verlor einen Teil seiner Anziehungskraft, wenn es ein Überleben an einer Koppel war, und Elaidas Koppel würde nicht weniger Einschränkungen bedeuten als die der Seanchaner. Was es bedeutet, eine Aes Sedai zu sein.
»Es ist nicht nötig, Gareth Bryne auf Armeslänge fernzuhalten«, sagte Siuan plötzlich. »Es stimmt, der Mann ist die wandelnde Trübsal. Wenn er nicht als Buße für meine Lügen zählt, würde es auch nicht genügen, mir die Haut abzuziehen. Eines Tages werde ich ihn jeden Morgen ohrfeigen und abends zweimal, nur aus Prinzip, aber Ihr könnt ihm alles sagen. Es wäre hilfreich, wenn er verstünde. Er vertraut Euch, und es bedrückt ihn, wenn er sich fragen muß, ob Ihr wißt, was Ihr tut. Er zeigt es nicht, aber ich merke es.«
Plötzlich fügten sich für Egwene Bruchstücke zusammen wie bei einem Puzzle. Erschreckende Bruchstücke. Siuan liebte diesen Mann! Nichts anderes ergab einen Sinn. Alles, was sie über die beiden wußte, änderte sich, und das nicht unbedingt zum Besseren. Eine verliebte Frau schaltete ihren Verstand häufig aus, wenn sie in der Nähe des betreffenden Mannes war, und dessen war sie sich selbst auch nur zu bewußt. Wo war Gawyn? Ging es ihm gut? Genug davon. Zu viel, im Lichte dessen, was sie sagen mußte. Sie nahm ihren strengsten Amyrlin-Tonfall an. »Ihr könnt Lord Bryne ohrfeigen oder mit ihm schlafen, Siuan, aber Ihr werdet Euch in seiner Gegenwart in acht nehmen. Ihr werdet keine Dinge verlauten lassen, die er noch nicht wissen muß. Habt Ihr mich verstanden?«
Siuan richtete sich starr auf. »Ich pflege nicht sinnlos zu plaudern, Mutter«, entgegnete sie zornig.
»Ich bin sehr froh, das zu hören, Siuan.« Obwohl sie beide fast gleichaltrig aussahen, hätte Siuan ihre Mutter sein können, und doch fühlte sich Egwene in diesem Moment, als sei sie die ältere. Dies war vielleicht das erste Mal, daß Siuan mit einem Mann nicht wie eine Aes Sedai, sondern wie eine Frau umgehen mußte. Nur wenige Jahre des Glaubens, ich liebte Rand, dachte Egwene bedauernd, wenige Monate der Schwärmerei für Gavyn, und ich weiß alles, was es zu wissen gibt.
»Ich glaube, wir sind hier fertig«, fuhr sie fort und nahm Siuans Arm. »Fast. Kommt mit.«
Die Zeltwände hatten sie kaum geschützt, aber hinauszutreten ließ sie die Härte des Winters neuerlich spüren. Das vom Schnee widergespiegelte Mondlicht reichte fast zum Lesen aus, aber der Schimmer erschien kalt. Bryne war so vollständig verschwunden, als hätte es ihn nie gegeben. Leane, deren Schlankheit unter mehreren Schichten Kleidung verborgen war, tauchte kurz auf, um zu berichten, daß sie niemanden gesehen hatte, und verschwand dann eilig wieder in der Nacht. Niemand wußte von einer Verbindung zwischen Leane und Egwene, und jedermann glaubte, Leane und Siuan befänden sich praktisch im Krieg.
Egwene nahm ihren Umhang so fest zusammen, wie es ihr mit einer Hand möglich war, und konzentrierte sich darauf, die Kälte zu ignorieren, während sie und Siuan in die entgegengesetzte Richtung davongingen. Sie konnte die Kälte tatsächlich ignorieren und achtete aufmerksam auf jedermann, der sich draußen aufhalten mochte, was kein Zufall wäre.
»Lord Bryne hatte recht damit«, sagte sie zu Siuan, »daß es besser wäre, wenn Pelivar und Arathelle diese Geschichten glaubten. Oder wenn sie diesbezüglich zumindest im Zweifel wären. Zu unsicher, um zu kämpfen oder etwas anderes zu tun als zu reden. Denkt Ihr, daß sie einen Besuch von Aes Sedai gutheißen würden? Siuan, hört Ihr mir zu?«
Siuan zuckte zusammen und hörte auf, in die Ferne zu starren. Sie war bisher nicht ausgerutscht, aber jetzt geschah es, und sie gewann nur mühsam ihr Gleichgewicht wieder, bevor sie Egwene mit hinabgezogen hätte. »Ja, Mutter. Natürlich höre ich Euch zu. Sie würden es vielleicht nicht wirklich gutheißen, aber ich bezweifle, daß sie Schwestern abweisen würden.«
»Dann möchte ich, daß Ihr Beonin, Anaiya und Myrelle weckt. Sie sollen noch in dieser Stunde nach Norden reiten. Wenn Lord Bryne bis morgen abend eine Antwort erwartet, bleibt nicht viel Zeit.« Schade, daß sie nicht herausgefunden hatte, wo genau dieses andere Heer lag, aber Bryne zu fragen hätte Mißtrauen erwecken können. Es sollte für Behüter nicht zu schwer sein, das Lager zu finden, und jene drei Schwestern besaßen fünf Behüter.
Siuan hörte ihren Anweisungen schweigend zu. Nicht nur jene drei sollten aus dem Schlaf gerissen werden. Bis zur Dämmerung würden Sheriam und Carlinya, Morvrin und Nisao ebenfalls wissen, worüber sie beim Frühstück sprechen sollten. Eine Saat mußte gesät werden, eine Saat, die nicht früher hatte ausgestreut werden können, damit sie nicht zu bald sproß, obwohl sie nur allzu wenig Zeit hatte zu wachsen.
»Es wird mir ein Vergnügen sein, sie aus ihren Betten zu werfen«, bemerkte Siuan, als Egwene geendet hatte. »Wenn ich in diesen Sachen herumlaufen muß...« Sie ließ Egwenes Arm los und wollte sich schon abwenden, hielt aber dann mit ernster, sogar grimmiger Miene noch einmal inne. »Ich weiß, daß Ihr eine zweite Gerra Kishar — oder vielleicht Sereille Bagand — sein wollt. Ihr habt das Zeug dazu. Aber achtet darauf, daß Ihr Euch nicht als weitere Shein Chunla erweist Gute Nacht, Mutter. Schlaft gut.«
Egwene stand da und sah ihr nach, eine in ihren Umhang gehüllte Gestalt, die manchmal auf dem Weg ausglitt und zornig so laut Worte zischte, daß man sie fast verstehen konnte. Gerra und Sereille waren als zwei der größten Amyrlins in Erinnerung geblieben. Beide hatten den Einfluß und das Ansehen der Weißen Burg in einem Maße verstärkt, wie es seit der Zeit vor Artur Falkenflügel selten erreicht wurde. Beide kontrollierten die Burg auch selbst, Gerra durch geschicktes Ausspielen einer Partei des Saals gegen die andere und Sereille durch reine Willenskraft. Shein Chunla war eine andere Geschichte, da sie die Macht des Amyrlin-Sitzes verschwendet hatte, indem sie der Burg die meisten Schwestern entfremdete. Die Welt glaubte, Shein sei vor fast vierhundert Jahren im Amt gestorben, aber die tief verborgene Wahrheit war, daß sie abgesetzt und in ein lebenslanges Exil geschickt worden war. Selbst die geheimen Aufzeichnungen behandeln gewisse Bereiche nur oberflächlich, und doch war es recht offensichtlich, daß die Schwestern, die Shein bewachten, nach der Aufdeckung ihres vierten Plans, sie wieder auf den Amyrlin-Sitz zu bringen, sie im Schlaf mit einem Kissen erstickten. Egwene erschauderte und sagte sich, es läge an der Kälte.
Sie wandte sich um und begab sich langsam zu ihrem Zelt zurück. Gut schlafen? Der Vollmond hing tief am Himmel, und der Sonnenaufgang war noch Stunden entfernt, aber sie war sich nicht sicher, daß sie überhaupt noch würde schlafen können.