17 Draußen auf dem Eis

Am nächsten Morgen zog eine Kolonne Reiter schon lange vor der Dämmerung aus dem Aes Sedai-Lager gen Norden, vom Knarren der Sättel und dem Knirschen durch die harsche Schneedecke brechender Pferdehufe einmal abgesehen nahezu lautlos. Gelegentlich schnaubte ein Pferd oder klirrte Metall und wurde rasch gedämpft. Der Mond war bereits untergegangen, der Himmel sternenklar, aber die helle, über allem liegende Schneedecke erleuchtete die Dunkelheit. Als im Osten die erste Morgenröte erschien, waren sie bereits gut über eine Stunde geritten. Was nicht bedeutete, daß sie weit gekommen wären. Egwene konnte Daishar über einige offene Flächen in leichtem Galopp gehen lassen, wodurch Schnee aufstäubte wie verspritzendes Wasser, aber überwiegend mußten die Pferde in langsamem Schritttempo durch spärliche Wälder geführt werden, wo der Schnee tiefe Gräben bedeckte und auf den Zweigen über ihnen hing. Eichen und Kiefern, Tupelo- und Lederblattbäume sowie Bäume, die sie nicht kannte, wirkten jetzt alle noch erbärmlicher als in der sengenden Hitze. Heute war das Abramsfest, aber es würde keine in Honigkuchen eingebackenen Preise geben. Das Licht gebe, daß einige Menschen dennoch an diesem Tag Überraschungen erlebten.

Die Sonne stieg auf, ein fahler goldener Ball, der keine Wärme spendete. Jeder Atemzug stach noch immer in der Kehle und wurde zu Nebel. Ein scharfer Wind wehte, nicht stark, aber schneidend, und im Westen rollten dunkle Wolken auf ihrem Weg nach Andor nordwärts. Sie verspürte Mitleid mit jedermann, der die Last dieser Wolken zu spüren bekommen würde. Und Erleichterung darüber, daß sie sich von ihnen entfernten. Es wäre unerträglich gewesen, noch einen Tag zu warten. Sie hatte überhaupt nicht schlafen können — aus nervöser Ungeduld, nicht wegen ihrer Kopfschmerzen. Aus Ungeduld — und aus wie kalte Luft unter den Zeltwänden hindurchkriechender Angst. Sie war jedoch nicht müde. Sie fühlte sich wie eine zusammengedrückte Feder, eine fest aufgezogene Uhr, voller Energie, die verzweifelt verbraucht werden wollte, Licht, es konnte noch immer alles schrecklich fehlschlagen.

Eine beeindruckende Kolonne folgte der Standarte der Weißen Burg, der weißen Flamme von Tar Valon inmitten einer aus den sieben Farben der Ajahs gebildeten Spirale. Heimlich in Salidar genäht, hatte sie seitdem zusammen mit den Schlüsseln in der Obhut des Saals am Boden einer Kiste gelegen. Sie glaubte nicht, daß sie die Standarte gezeigt hätten, wäre heute morgen nicht Prunk vonnöten gewesen. Tausend Mann schwerer Kavallerie in Kettenpanzern bildeten eine umfangreiche Eskorte, einen vollkommenen Rahmen aus Speeren, Schwertern, Streitkolben und Streitäxten, die südlich der Grenzlande selten zu sehen waren. Ihr Befehlshaber war ein einäugiger Shienarer mit einer bunten Augenklappe, ein Mann, dem sie vor scheinbar einem Zeitalter begegnet war. Uno Nomesta beobachtete durch das Visier seines Helms den Wald, als erwarte er überall Hinterhalte, und seine Männer, die sehr aufrecht im Sattel saßen, schienen beinahe ebenso wachsam.

Vor ihnen und durch die Bäume fast verdeckt ritt eine Gruppe von Männern, die Helme und Brust- und Rückenpanzer trugen, aber keinen weiteren Schutz. Ihre Umhänge flatterten ungehindert in der Luft, da sie eine behandschuhte Hand für die Zügel und eine Hand für den Kurzbogen, den sie alle trugen, brauchten. Vor dieser Gruppe befanden sich noch weitere Männer und außer Sicht auch links und rechts und hinter ihnen, insgesamt weitere tausend Mann, die kundschafteten und sie abschirmten. Gareth Bryne erwartete von den Andoranern keinen Betrug, aber er hatte sich, wie er sagte, schon früher geirrt, und die Murandianer waren noch eine andere Sache. Außerdem mußte mit von Elaida bezahlten Meuchelmördern oder sogar Schattenfreunden gerechnet werden. Nur das Licht allein wußte, wann oder warum sich ein Schattenfreund zum Meuchelmord entschloß. Auch bei den Shaido, die vermutlich weit entfernt waren, wußte anscheinend niemand, daß sie da waren, bis das Töten begann. Selbst Straßenräuber hätten ihr Glück bei einer zu kleinen Gruppe versuchen können. Lord Bryne ging keine unnötigen Risiken ein, worüber Egwene sehr froh war. Sie wollte heute so viele Zeugen wie möglich haben.

Sie selbst ritt mit Sheriam, Siuan und Bryne vor dem Banner. Die anderen schienen in ihre eigenen Gedanken versunken. Lord Bryne saß locker im Sattel, und der Nebel seines Atems bildete einen leichten Eisfilm auf seinem Visier, aber Egwene konnte erkennen, daß er sich den Geländeverlauf sorgfältig einprägte, falls er hier kämpfen mußte, Siuan ritt so starr, daß sie lange bevor sie ihr Ziel erreichten wundgeritten wäre, aber sie blickte gen Norden, als könne sie den See bereits sehen, und manchmal nickte sie vor sich hin oder schüttelte den Kopf. Sie hätte dies nicht getan, wenn sie sich wohl gefühlt hätte. Sheriam wußte nicht besser, was auf sie zukäme, als die Sitzenden, und doch schien sie sogar noch nervöser als Siuan, regte sich ständig im Sattel und verzog das Gesicht. Auch Zorn schimmerte aus einem unbestimmten Grund in ihren Augen.

Dicht hinter dem Banner folgte in Doppelreihen der gesamte Saal der Burg, in bestickter Seide, üppigem Samt, Pelzen und Umhängen mit der deutlich auf dem Rücken planierten Flamme. Frauen, die selten mehr Schmuck als den Großen Schlangenring trugen, waren heute mit den feinsten Edelsteinen geschmückt, welche die Schmuckkästen des Lagers bargen. Und ihre Behüter sahen durch ihre die Farbe verändernden Umhänge noch großartiger aus. Die Männer schienen beinahe zu verschwinden, wenn die beunruhigenden Umhänge im starken Wind wehten. Diener folgten, zwei oder drei für jede Schwester, auf den besten Pferden, die für sie gefunden werden konnten. Sie wären vielleicht selbst als niedriger gestellte Adlige angesehen worden, wenn nicht einige von ihnen Packpferde geführt hätten. Jede Kiste im Lager war durchstöbert worden, um sie in strahlende Farben zu kleiden.

Delana hatte Halima auf einer feurigen weißen Schimmelstute mitgebracht, vielleicht weil sie eine der Sitzenden ohne Behüter war. Die beiden ritten fast Knie an Knie. Delana beugte sich manchmal zu Halima herüber, um Vertrauliches zu besprechen, obwohl Halima zu aufgeregt schien, um zuhören zu können. Halima war vermutlich Delanas Schreiberin, und jedermann vermutete Mildtätigkeit oder möglicherweise Freundschaft dahinter, wie unwahrscheinlich das auch zwischen der würdevollen, hellhaarigen Schwester und der heißblütigen, schwarzhaarigen Frau vom Lande schien. Egwene hatte Halimas unbeholfene Handschrift gesehen, so unförmig wie die eines gerade das Schreiben lernenden Kindes. Heute trug sie ebenso edle Kleidung wie die Schwestern, mit Juwelen, die Delanas ohne weiteres gleichkamen und von der sie gewiß auch stammten. Wann immer ein Windstoß an Halimas Samtumhang zerrte, wurde ein erschreckend großer Teil ihres Busens sichtbar, und sie lachte stets, wenn sie den Umhang wieder fester um ihre Schultern zog, wobei sie nicht zugab, daß sie die Kälte stärker empfand als die Schwestern.

Egwene war zum ersten Mal dankbar für all die Kleidung, die man ihr geschenkt hatte und die es ihr erlaubte, die Sitzenden zu übertreffen. Ihr grünblaues Reisekleid war mit weißen Schlitzen versehen und mit Zuchtperlen bestickt. Perlen schmückten auch die Oberseite ihrer Handschuhe. Im letzten Moment hatten Romanda einen hermelinverbrämten Umhang und Lelaine eine Halskette und Ohrringe aus Smaragden und weißen Opalen beigesteuert. Die Mondsteine in ihrem Haar stammten von Janya. Die Amyrlin mußte heute alle überstrahlen. Selbst Siuan schien in ihrem blauem Samtgewand mit cremefarbener Spitze, einem breiten Perlenband um den Hals und weiteren Perlen im Haar für einen Ball bereit.

Romanda und Lelaine führten die Sitzenden an und ritten so dicht hinter dem Bannerträger her, daß er manchmal nervös über die Schulter blickte und sein Pferd näher an die Reiter vor ihm herantrieb. Egwene gelang es, nur ein- oder zweimal zurückzuschauen, und doch konnte sie deren Blicke zwischen den Schulterblättern spüren. Beide glaubten, sie fest im Griff zu haben, und beide würden sich wundern müssen, wer sie tatsächlich im Griff hatte. Oh, Licht, dies durfte nicht mißlingen. Nicht jetzt!

Außer der Kolonne regte sich in der schneebedeckten Landschaft wenig. Ein Falke mit breiten Schwingen über ihnen zog vor dem kalten blauen Himmel eine Zeitlang seine Kreise, bevor er nach Osten abschwenkte. Egwene sah Füchse mit schwarzem Schwanz in der Ferne dahintrotten, noch immer mit ihrem Sommerfell, und einmal tauchte wie eine Geistergestalt ein großer Hirsch mit hohem, gegabeltem Geweih auf und verschwand dann im Wald. Ein von Belas Hufen aufgescheuchter Hase sprang davon, woraufhin die struppige Stute den Kopf aufwarf. Siuan schrie und packte die Zügel, als erwarte sie, daß Bela durchgehen würde. Bela schnaubte natürlich nur vorwurfsvoll und trottete schwerfällig weiter. Egwenes großer Rotgrauer scheute stärker, dabei war der Hase nicht einmal in seine Nähe gekommen.

Siuan begann leise zu schimpfen, nachdem der Hase davongehoppelt war, und es dauerte einige Zeit, bevor sie Belas Zügel wieder lockerte. Es machte sie stets reizbar, auf einem Pferd zu sitzen — sie reiste in einem der Wagen, wann immer es möglich war —, aber sie war selten so schlecht gelaunt. Lord Brynes Miene oder ihre auf ihn gerichteten zornigen Blicke verrieten jedem aufmerksamen Beobachter den wahren Grund.

Falls er Siuans Blicke bemerkte, zeigte er es nicht. Er sah als einziger aus wie immer, schlicht und etwas mitgenommen. Ein Fels, der Stürmen getrotzt hatte und auch noch weitere überstehen würde. Egwene war aus einem unbestimmten Grund froh, daß er dem Ansinnen, ihn in edlere Kleidung zu stecken, widerstanden hatte. Sie mußten wirklich Eindruck schinden, aber er tat dies bereits so, wie er war.

»Es ist ein schöner Morgen zum Reiten«, sagte Sheriam nach einiger Zeit. »Es gibt doch nichts Besseres als einen ausgiebigen Ritt im Schnee, um die Gedanken zu klären.« Sie sprach laut und deutlich und fixierte lächelnd die noch immer murrende Siuan.

Siuan schwieg dazu — sie konnte vor so vielen Augen kaum etwas anderes tun —, aber sie sah Sheriam mit einem Blick an, der für später harte Worte ankündigte. Die feuerhaarige Frau zuckte fast zusammen und wandte sich jäh ab. Schwinge, ihre graugescheckte Stute, tänzelte einige Schritte, und Sheriam beruhigte sie mit fester Hand. Sie hatte der Frau gegenüber, die sie zur Herrin der Novizinnen ernannt hatte, wenig Dankbarkeit gezeigt, und fand wie die meisten in dieser Lage Gründe, Siuan dafür verantwortlich zu machen. Das war der einzige Fehler, den Egwene seit dem Schwur an ihr entdeckt hatte. Nun, sie war dagegen gewesen, als Behüterin der Chroniken auf die gleiche Art Befehle von Siuan entgegennehmen zu müssen wie die anderen, aber Egwene hatte sofort erkannt, wohin das führen würde. Dies war nicht das erstemal, daß Sheriam versucht hatte, spitze Bemerkungen anzubringen. Siuan beharrte darauf, sich selbst um Sheriam zu kümmern, und ihr Stolz war zu verletzbar, als daß Egwene das Ersuchen verweigert hätte, es sei denn, die Angelegenheit drohte auszuufern.

Egwene wünschte, es gäbe eine Möglichkeit, schneller voranzukommen. Siuan grollte erneut, und Sheriam dachte offensichtlich darüber nach, was sie noch sagen könnte, was nicht gerade einen Verweis heraufbeschwor. All dieses Murren und die bösen Blicke gingen Egwene allmählich unter die Haut. Nach einer Weile zermürbte sie sogar Brynes nüchterne Haltung. Sie ertappte sich bei dem Gedanken, was sie sagen könnte, um seine Selbstsicherheit zu erschüttern. Leider — oder vielleicht dem Licht sei Dank — glaubte sie nicht, daß dies möglich sei. Aber wenn sie noch viel länger warten müßte, fürchtete sie, aus reiner Ungeduld zu platzen.

Die Sonne näherte sich dem Zenit, doch sie kamen nur qualvoll langsam voran. Schließlich wandte sich einer der Reiter vor ihnen um und hob eine Hand. Bryne entschuldigte sich hastig bei Egwene und galoppierte nach vorn. Sein kräftiger kastanienbrauner Wallach kam durch den Schnee eher langsam voran, aber Bryne holte die Vorreiter ein, wechselte einige Worte, schickte sie dann weiter durch den Wald voraus und wartete auf Egwene und die übrigen.

Als er erneut neben sie ritt, schlossen sich Romanda und Lelaine ihnen an. Die beiden Sitzenden nahmen Egwenes Anwesenheit kaum zur Kenntnis, sondern richteten ihre Aufmerksamkeit mit der kühlen Gelassenheit, die schon so manchen Mann, der Aes Sedai gegenübergestanden hatte, auf Bryne. Nur daß sie einander hin und wieder nachdenklich von der Seite ansahen. Sie schienen kaum zu erkennen, was sie taten. Egwene hoffte, daß sie wenigstens halb so nervös waren wie sie. Damit wäre sie schon zufrieden.

Kühle, gelassene Blicke schweiften über Bryne hinweg wie Regen über den besagten Fels. Er verbeugte sich leicht vor den Sitzenden, sprach aber an Egwene gewandt. »Sie sind bereits eingetroffen, Mutter.« Das war zu erwarten gewesen. »Sie haben fast ebenso viele Männer mitgebracht wie wir, diese befinden sich jedoch alle auf der Nordseite des Sees. Ich habe Kundschafter ausgeschickt, um sicherzustellen, daß uns niemand umzingelt, was ich aber nicht erwarte.«

»Hoffentlich habt Ihr recht«, erwiderte Romanda scharf, und Lelaine fügte in noch weitaus kälterem Tonfall hinzu: »Eure Einschätzungen waren in letzter Zeit nicht immer zutreffend, Lord Bryne.« Ein frostiger, schneidender Tonfall.

»Wie Ihr meint, Aes Sedai.« Er verbeugte sich erneut leicht, ohne sich wirklich von Egwene abzuwenden. Wie Siuan war auch er jetzt offen an sie gebunden, zumindest soweit es den Saal betraf. Wenn sie nur nicht ahnten, wie fest! Wenn sie nur sicher sein könnte, wie fest. »Noch etwas, Mutter«, fuhr er fort. »Talmanes befindet sich ebenfalls am See. Ungefähr hundert Mann der Bande stehen auf der Ostseite. Nicht genug, um Schwierigkeiten zu machen, selbst wenn er es wollte, und ich glaube kaum, daß er es will,«

Egwene nickte nur. Nicht genug, um Schwierigkeiten zu machen? Talmanes allein könnte schon genügen! Sie spürte einen bitteren Geschmack im Mund. Es ... durfte ... jetzt ... nicht ... schiefgehen!

»Talmanes!« rief Lelaine aus, als ihre Gelassenheit schwand. Sie mußte ebenso nervös sein wie Egwene. »Wie hat er es herausgefunden? Wenn Ihr Drachenverschworene in Euren Plan mit einbezogen habt, Lord Bryne, werdet Ihr wahrhaftig erfahren, was es heißt, zu weit zu gehen!«

Romanda grollte unmittelbar darauf: »Das ist schändlich! Ihr sagt, Ihr habt erst jetzt von seiner Anwesenheit erfahren? Wenn dem so ist, habt Ihr Euren Ruf zu Unrecht!« Die Gelassenheit einiger Aes Sedai war heute anscheinend leicht zu erschüttern.

Sie fuhren in diesem Sinne fort, aber Bryne ritt weiter und murmelte nur gelegentlich »Wie Ihr meint, Aes Sedai«, wenn er überhaupt etwas erwiderte. Er hatte heute morgen in Egwenes Gegenwart schon schlimmere Vorwürfe gehört und reagierte nicht mehr darauf. Schließlich war es Siuan, die schnaubte und dann zutiefst errötete, als die Sitzenden sie überrascht ansahen. Egwene hätte fast den Kopf geschüttelt. Siuan war ganz entschieden verliebt. Und man mußte sehr entschieden mit ihr reden! Bryne lächelte aus einem unbestimmten Grund, aber vielleicht nur, weil er nicht mehr der Gegenstand der Aufmerksamkeit der Sitzenden war.

Sie gelangten aus dem Wald auf eine weitere, sehr große freie Fläche. Jetzt war keine Zeit mehr für nichtige Gedanken.

Bis auf einen breiten Kranz durch den Schnee ragenden, hohen braunen Schilfs und Rohrkolben wies hier nichts auf einen See hin. Die freie Fläche hätte eine große Wiese sein können, eben und annähernd oval in der Form. In einiger Entfernung vom Waldrand war auf dem zugefrorenen See auf hohen Pfählen ein großer blauer Pavillon errichtet worden, und dahinter warteten eine kleine Menschenmenge und Dutzende von Dienern bei den Pferden. Der Wind zerrte an einem bunten Dickicht von Standarten und Bannern und trug gedämpfte Rufe herüber, die nur Befehle sein konnten. Weitere Diener liefen eilig umher. Anscheinend waren sie noch nicht lange genug hier, um ihre Vorbereitungen beendet zu haben.

Der Waldrand auf der anderen Seite des Ufers war ungefähr eine Meile entfernt, und dort spiegelte sich das schwache Sonnenlicht im Metall wider — ziemlich viel Metall, das sich über das ganze jenseitige Ufer zog. Die östlich stehende Bande, fast ebenso nahe wie der Pavillon, versuchte nicht, im Verborgenen zu bleiben, sondern hielt sich nahe der Rohrkolben neben ihren Pferden auf. Einige wenige von ihnen deuteten auf die Neuankömmlinge, als die Fahne von Tar Valon erschien. Die Menschen am Pavillon hielten inne, um ebenfalls hinzuschauen.

Egwene zögerte nicht, auf das schneebedeckte Eis hinaus zu reiten. Sie stellte sich dabei jedoch eine sich zur Sonne öffnende Rosenknospe vor, die alte Novizinnenübung. Sie umarmte Saidar zwar nicht tatsächlich, aber die sie durchströmende Ruhe war sehr willkommen.

Siuan und Sheriam folgten ihr, desgleichen die Sitzenden mit ihren Behütern und den Dienern. Lord Bryne und der Bannerträger gingen als einzige Soldaten mit. Hinter ihr erklingende Rufe verrieten ihr, daß Uno seine bewaffneten Reiter am Ufer Aufstellung nehmen ließ. Die leichter bewaffneten Männer waren zu beiden Seiten ausgeschwärmt, diejenigen, die nicht dazu abgestellt waren, sie gegen Verrat zu schützen. Ein Grund dafür, daß der See als Treffpunkt ausgewählt worden war, bestand darin, daß das Eis dick genug war, um eine stattliche Anzahl Pferde zu tragen, aber nicht Hunderte, geschweige denn Tausende. Das verminderte die Gefahr, in einen Hinterhalt zu geraten. Natürlich war ein Pavillon, der mit Bogen nicht erreichbar war, für die Eine Macht sehr wohl erreichbar, zumindest wenn er sichtbar war. Nur daß sich der ärgste Mann der Welt davor sicher wußte, solange er keine Schwester bedrohte. Egwene atmete heftig aus und bemühte sich erneut um Ruhe.

Es wäre eine angemessene Begrüßung für den Amyrlin-Sitz gewesen, wenn Diener mit heißen Getränken und um heiße Steine gewickelten Tüchern herbeigeeilt wären und die Lords und Ladys selbst die Zügel übernommen und zum Zeichen des Abramsfests einen Kuß dargeboten hätten. Jeder Besucher irgendeines Ranges hätte die Diener erwarten können, aber niemand am Pavillon regte sich. Bryne stieg ab und kam heran, um Daishars Zügel zu nehmen, und derselbe schlanke junge Mann, der am Vortag mit Holzkohle gekommen war, lief herbei, um Egwenes Steigbügel zu halten. Seine Nase tropfte noch immer, aber in der roten Samtjacke, die ihm nur ein wenig zu groß war, und einem hellblauen Umhang übertrumpfte er jeden der Adligen, die unter dem Baldachin standen und herüber starrten. Sie schienen überwiegend in grobes Tuch gekleidet, ohne viel Stickerei und mit nur sehr wenig Seide oder Spitze. Wahrscheinlich hatten sie Mühe gehabt, passende Kleidung aufzutreiben, als der Schneefall begann und sie sich bereits auf dem Marsch befanden. Obwohl es unbestreitbar war, daß der junge Mann selbst einen Kesselflicker hätte übertrumpfen können.

In dem Pavillon waren Teppiche ausgelegt und Kohlepfannen entzündet worden, obwohl der Wind Hitze und Rauch gleichermaßen davontrug. Jeweils acht Stühle waren in zwei einander gegenüberliegenden Reihen angeordnet worden. Sie hatten nicht so viele Schwestern erwartet. Einige der wartenden Adligen wechselten bestürzte Blicke, und manche ihrer Diener kneteten die Hände und fragten sich, was zu tun sei.

Die Stühle paßten alle nicht zusammen, waren aber in der Größe gleich; keiner war merklich zerschlissener oder beschädigter als ein anderer, und keiner wies mehr oder weniger vergoldete Schnitzereien als die anderen auf. Der schlanke junge Mann und eine Anzahl anderer trotteten hinein, trugen die für die Aes Sedai bestimmten Stühle unter den finsteren Blicken der Adligen, die nicht einmal gefragt wurden, in den Schnee hinaus und eilten dann davon, um beim Abladen der Packpferde zu helfen. Noch immer sprach niemand ein Wort.

Es wurden rasch für den ganzen Saal und Egwene ausreichende Sitzgelegenheiten geschaffen. Nur einfache Bänke, wenn auch glänzend poliert, aber eine jede stand auf einem kleinen, mit Tüchern in den Farben der Ajah der Sitzenden bedeckten Podest. Das vordere Podest für Egwenes Bank war wie ihre Stola gestreift. Es hatte in der Nacht hastige Geschäftigkeit gegeben, angefangen vom Suchen des Bienenwachses zur Politur bis zu edlem Stoff in den richtigen Farben.

Als Egwene und die Sitzenden ihre Plätze eingenommen hatten, saßen sie einen Fuß höher als alle anderen. Sie hatte ihre Zweifel gehabt, aber das Fehlen jeglicher Begrüßung hatte alle Ungewißheit ausgeräumt. Auch noch der am niedrigsten gestellte Bauer hatte einem Vagabunden am Abramsfest einen Becher und einen Kuß dargeboten. Doch sie waren weder Bittsteller noch Gleichgestellte. Sie waren Aes Sedai.

Die Behüter standen hinter ihren Aes Sedai, und Siuan und Sheriam flankierten Egwene. Die Schwestern schlugen betont ihre Umhänge zurück und zogen ihre Handschuhe aus, um zu unterstreichen, daß die Kälte sie nicht berührte, ganz im Gegensatz zu den Adligen, die ihre Umhänge fest geschlossen hielten. Draußen wehte die Flamme von Tar Valon im eisigen Wind. Nur Halima, die neben Delanas Platz am Rand des mit grauem Tuch bedeckten Podests herumlungerte, hätte das großartige Bild beeinträchtigen können, aber ihre großen grünen Augen betrachteten die Andoraner und Murandianer so herausfordernd, daß sie es nicht zu sehr verdarb.

Es gab einige verwunderte Blicke, als Egwene den vorderen Platz einnahm, aber nur wenige. Niemand schien wirklich überrascht. Sie haben vermutlich von dem Mädchen als Amyrlin gehört, dachte sie ohne Bitterkeit. Nun, es hatte schon Königinnen gegeben, die jünger waren als sie, auch in Andor und Murandy. Sie nickte bedächtig, und Sheriam deutete auf die Stuhlreihe. Gleichgültig, wer zuerst eingetroffen war oder den Pavillon errichtet hatte, bestand doch kein Zweifel daran, wer dieses Treffen einberufen hatte und den Vorsitz führte.

Dies wurde jedoch nicht gut aufgenommen. Ein Moment schweigsamen Zögerns entstand, während die Adligen einen Weg zu ersinnen suchten, eine gleichermaßen sichere Position zu erlangen, und nicht wenige verzogen das Gesicht, als sie erkannten, daß es ihnen unmöglich war. Acht von ihnen setzten sich mit grimmigen Gesichtern hin, vier Männer und vier Frauen, wobei sie ein großes Aufhebens davon machten, verärgert ihre Umhänge zu richten oder ihre Röcke zu glätten. Jene von niedrigerem Rang blieben hinter den Stühlen stehen, und es bestand eindeutig nur noch wenig Zuneigung zwischen Andoranern und Murandianern. Auch stritten die Murandianer, Männer wie Frauen gleichermaßen, untereinander ebenso heftig um den Vorrang wie mit ihren ›Verbündeten‹ aus dem Norden. Den Aes Sedai wurden ebenfalls viele düstere Blicke zugedacht, und einige wenige sahen auch Bryne stirnrunzelnd an, der mit dem Helm unter dem Arm im Hintergrund stand. Er war auf beiden Seiten der Grenze wohlbekannt und selbst von den meisten jener geachtet, die ihn gern tot gesehen hätten. Zumindest war das der Fall gewesen, bevor er als Anführer des Heers der Aes Sedai auftauchte. Aber er ignorierte ihre stechenden Blicke ebenso, wie er die scharfen Zungen der Sitzenden ignoriert hatte.

Und noch ein Mann blieb für sich. Er wirkte farblos, in dunkler Jacke und Brustharnisch. Weniger als eine Handbreit größer als Egwene, trug er die Vorderseite seines Schädels rasiert und hatte einen langen roten Schal um den linken Arm gebunden. Auf seinen tiefgrauen Umhang war in Brusthöhe eine große rote Hand gestickt. Talmanes stand gegenüber von Bryne, lehnte mit anmaßender Lässigkeit an einem der Pfosten des Pavillons und beobachtete das Geschehen, ohne seine Gedanken erahnen zu lassen. Egwene wünschte, sie wüßte, was er hier zu suchen hatte. Sie wünschte, sie wüßte, was er gesagt hatte, bevor sie eingetroffen war. Sie mußte auf jeden Fall mit ihm sprechen. Wenn es möglich wäre, ohne daß hundert Ohren lauschten. Ein hagerer, wettergegerbter Mann in einem roten Umhang, der inmitten der Stuhlreihe saß, beugte sich vor und öffnete den Mund, aber Sheriam kam ihm mit klarer, weit tragender Stimme zuvor.

»Mutter, darf ich Euch aus Andor Arathelle Renshar vorstellen, Hochsitz des Hauses Renshar, sowie Pelivar Coelan, Hochsitz des Hauses Coelan, und Aemlyn Carand, Hochsitz des Hauses Carand mit ihrem Ehemann, Culhan Carand.« Die Genannten reagierten verärgert mit einem kurzen Nicken. Pelivar war der hagere Mann. Er wurde an der Stirn bereits kahl. Sheriam fuhr fort, ohne innezuhalten. Es war ein Glück, daß Bryne die Namen jener hatte liefern können, die zum Sprechen auserwählt worden waren. »Darf ich Euch weiterhin aus Murandy Donel do Morny a'Lordeine vorstellen, sowie Cian do Mehon a'Macansa, Paitr do Fearna a'Conn und Segan do Avharin a'Roos.« Die Murandianer schien das Fehlen von Titeln anscheinend noch mehr zu verärgern als die Andoraner. Donel, der mehr Spitze trug als die meisten Frauen, zwirbelte wütend seinen gedrehten Schnurrbart, und Paitr schien den seinen abreißen zu wollen. Segan schürzte die vollen Lippen, und ihre dunklen Augen blitzten, während Cian, eine stämmige, bereits ergrauende Frau, vernehmlich schnaubte. Sheriam beachtete es nicht. »Ihr befindet Euch unter den Augen der Hüterin der Siegel. Ihr befindet Euch vor der Flamme von Tar Valon. Ihr dürft dem Amyrlin-Sitz Eure Gesuche vorbringen.«

Nun, das gefiel ihnen nicht — nicht im geringsten. Egwene hatte schon zuvor gedacht, sie seien verärgert, aber jetzt wirkten sie, als hätten sie zu viele grüne Dattelpflaumen gegessen. Vielleicht hatten sie geglaubt, sie könnten ignorieren, daß sie die Amyrlin war. Sie würden dazulernen. Aber natürlich mußte sie zunächst den Saal belehren.

»Es bestehen uralte Bande zwischen Andor und der Weißen Burg«, sagte sie laut und fest. »Schwestern sind in Andor oder Murandy stets willkommen geheißen worden. Warum führt Ihr dann ein Heer gegen Aes Sedai heran? Ihr mischt Euch dort ein, wo Throne und Nationen es nicht wagen einzuschreiten. Es sind bereits Throne gefallen, die sich in die Angelegenheiten der Aes Sedai eingemischt haben.«

Es klang angemessen drohend, gleichgültig, ob Myrelle und die übrigen ihren Weg hatten vorbereiten können. Mit etwas Glück befanden sie sich bereits wieder auf dem Weg zum Lager, ohne daß jemand etwas davon erfahren hätte. Es sei denn, einer dieser Adligen hätte den falschen Namen genannt. Das würde sie einen Vorteil dem Saal gegenüber kosten, was aber, neben allem anderen betrachtet, nur ein Strohhalm neben einem Heuhaufen wäre.

Pelivar wechselte Blicke mit der Frau neben ihm, und sie stand auf. Die Falten in ihrem Gesicht konnten nicht verbergen, daß Arathelle in jugendlichem Alter eine wunderschöne Frau mit edlem Knochenbau gewesen war. Jetzt war ihr Haar stark von Grau durchzogen und ihr Blick so hart wie der jedes Behüters. Ihre rot behandschuhten Hände ergriffen die Säume ihres Umhangs zu beiden Seiten, aber eindeutig nicht vor Besorgtheit. Den Mund zu einer schmalen Linie zusammen gepreßt, betrachtete sie die Reihe der Sitzenden prüfend, bevor sie sprach — über Egwene hinweg, an die Sitzenden hinter ihr gewandt. Egwene biß die Zähne zusammen und setzte eine höfliche Miene auf.

»Genau aus diesem Grund sind wir hier — weil wir nicht in Angelegenheiten der Weißen Burg verstrickt werden wollen.« Arathelles Stimme vermittelte Autorität, was beim Hochsitz eines mächtigen Hauses nicht überraschte. Es war kein Hinweis auf die vielleicht selbst bei einem so mächtigen Hochsitz angesichts so vieler Schwestern, ganz zu schweigen vom Amyrlin-Sitz, zu erwartende Gehemmtheit zu erkennen. »Wenn alles stimmt was wir gehört haben, dann sollte die Euch erteilte Erlaubnis, Andor ungehindert zu durchqueren, der Weißen Burg bestenfalls als Unterstützung erscheinen. Fehlender Widerstand gegen Euch könnte bedeuten, gelernt zu haben, was die Traube in der Weinpresse lernt« Mehrere Murandianer wandten sich ihr stirnrunzelnd zu. Niemand in Murandy hatte versucht, den Durchzug der Schwestern zu verhindern. Höchstwahrscheinlich hatte niemand die Möglichkeiten über den Tag hinaus bedacht, an dem sie ein fremdes Land betraten.

Arathelle fuhr fort, als hätte sie nichts bemerkt, was Egwene aber bezweifelte. »Schlimmstenfalls... Wir haben ... Berichte gehört ... von Aes Sedai, die heimlich nach Andor hinein gelangen, und von Burgwachen. Gerüchte ist vielleicht eine bessere Bezeichnung, die aber von vielen Seiten kommen. Niemand von uns würde eine Schlacht zwischen Aes Sedai in Andor begrüßen.«

»Das Licht bewahre und beschütze uns!« platzte Donel mit hochrotem Gesicht heraus. Paitr nickte ermutigend, während er an den Rand seines Stuhls vorrückte, und Cian schien bereit, selbst einzugreifen. »Hier will dies auch niemand!« spie Donal aus. »Nicht zwischen Aes Sedai! Natürlich haben wir gehört, was im Osten geschehen ist! Und jene Schwestern...!«

Egwene atmete ein wenig leichter, als Arathelle ihn entschlossen unterbrach. »Bitte, Lord Donel. Ihr werdet noch an die Reihe kommen zu sprechen.« Sie wandte sich wieder Egwene zu — oder vielmehr erneut den Sitzenden —, ohne seine Antwort abzuwarten, so daß er und die drei anderen Murandianer noch mehr zürnten. Sie selbst gab sich unbeteiligt, wie eine Frau, die Tatsachen darlegte. Sie darlegte und glaubte, sie müßten so gesehen werden, wie sie selbst sie sah.

»Wie ich gerade sagte — das ist unsere schlimmste Befürchtung, wenn die Gerüchte stimmen. Und auch, wenn sie nicht stimmen. Vielleicht versammeln sich Aes Sedai und Burgwachen wirklich heimlich in Andor. Es stehen Aes Sedai bereit, mit einem Heer in Andor einzumarschieren. Die Weiße Burg schien schon ausreichend häufig auf ein Ziel ausgerichtet, während wir anderen erst später erfuhren, daß es in Wahrheit die ganze Zeit um ein anderes Ziel ging. Ich kann mir kaum vorstellen, daß selbst die Weiße Burg soweit gehen würde, aber wenn es jemals ein Ziel gab, das jedermann Magenschmerzen verursachen kann, dann ist es die Schwarze Burg.« Arathelle erschauderte leicht, und Egwene glaubte nicht, daß die Kälte die Ursache war. »Ein Kampf zwischen Aes Sedai könnte das Land auf Meilen im Umkreis vernichten. Diese Schlacht könnte halb Andor zerstören.«

Pelivar sprang auf. »Also liegt es auf der Hand, daß Ihr einen anderen Weg wählen müßt.« Seine Stimme klang überraschend hoch, aber nicht weniger fest als Arathelles. »Wenn ich sterben muß, um meine Heimat zu verteidigen, dann besser hier als dort, wo meine Ländereien und meine Leute ebenfalls vernichtet werden.«

Er sank auf eine besänftigende Geste von Arathelle hin wieder auf seinen Stuhl, aber sein harter Blick vermittelte nicht den Eindruck, daß er beruhigt war. Aemlyn, eine rundliche Frau in dunklem Tuch, hatte bei seinen Worten zustimmend genickt, dergleichen ihr Mann mit dem kantigen Gesicht.

Donel sah Pelivar an, als hätte er auch diesen Gedanken niemals gehegt, und er war nicht der einzige. Einige der stehenden Murandianer meldeten sich laut zu Wort, bis andere sie wieder zum Schweigen brachten. Teilweise dadurch, daß sie eine Faust schüttelten. Was konnte diese Leute bewogen haben, gemeinsam mit den Andoranern ein Heer aufzustellen?

Egwene atmete tief durch. Eine sich der Sonne öffnende Rosenknospe. Sie hatten sie nicht als Amyrlin-Sitz anerkannt — Arathelle hatte sie soweit ignoriert, wie es möglich war, ohne sie beiseite zu schieben! —, und doch hatten sie ihr alles andere gegeben, was sie sich nur hätte wünschen können. Ruhig. Jetzt würden Lelaine und Romanda erwarten, daß sie eine von ihnen benannte, um die Verhandlungen zu führen. Sie hoffte, daß sie sich nervös fragten, welche von ihnen es sein würde. Aber es würde keine Verhandlungen geben. Es konnte keine geben.

»Elaida«, sagte sie gleichmütig, während sie abwechselnd Arathelle und die sitzenden Adligen ansah, »ist eine unrechtmäßige Machthaberin, die das Herz der Burg geschändet hat. Ich bin der Amyrlin-Sitz.« Sie war überrascht, wie würdevoll sie klang, wie kühl. Aber nicht mehr so überrascht, wie sie früher noch gewesen wäre. Das Licht helfe ihr — sie war der Amyrlin-Sitz. »Wir ziehen nach Tar Valon, um Elaida abzusetzen und sie vor Gericht zu stellen, aber das ist die Angelegenheit der Weißen Burg und nicht die Eure, außer daß die Wahrheit bekannt werden muß. Diese sogenannte Schwarze Burg ist ebenfalls unsere Angelegenheit. Männer, welche die Macht lenken können, waren stets die Angelegenheit der Weißen Burg. Wir werden uns nach Gutdünken um sie kümmern, wenn die Zeit dafür reif ist, aber ich versichere Euch, diese Zeit ist noch nicht gekommen. Wichtigere Angelegenheiten haben Vorrang.«

Sie hörte Bewegung unter den Sitzenden hinter ihr. Tatsächlich das Rutschen auf Bänken und das knisternde Rascheln von Röcken, die gerichtet wurden. Zumindest einige mußten ernsthaft aufgebracht sein. Nun, mehrere hatten vorgeschlagen, daß man sich beiläufig um die Schwarze Burg kümmern könne. Nicht eine der Schwestern glaubte, es könnten sich dort mehr als höchstens ein Dutzend Männer befinden, gleichgültig, was sie gehört hatten. Es war einfach nicht denkbar, daß Hunderte von Männern die Macht lenken wollten. Andererseits war vielleicht auch die Erkenntnis der Grund für die Unruhe unter den Sitzenden, daß Egwene weder Romanda noch Lelaine als Sprecherin benannt hatte.

Arathelle runzelte die Stirn, ahnte vielleicht etwas. Pelivar regte sich, erhob sich beinahe erneut, und Donel richtete sich mürrisch auf. Sie konnte nur voranpreschen. Sie hatte niemals etwas anderes tun können.

»Ich verstehe Eure Besorgnis«, fuhr sie im gleichen formellen Tonfall fort, »und ich werde sie ansprechen.« Was hatte es mit diesem seltsamen Ruf zu den Waffen der Bande auf sich? Ja. Es war an der Zeit, die Würfel fallen zu lassen. »Ich versichere Euch als Amyrlin-Sitz folgender Tatsachen: Wir werden einen Monat hierbleiben, uns ausruhen und Murandy dann verlassen, aber wir werden die Grenze nach Andor nicht überschreiten. Murandy wird danach nicht mehr von uns behelligt werden, und Andor wird auf diese Weise überhaupt nicht behelligt werden. Ich bin sicher«, fügte sie hinzu, »daß die hier anwesenden murandianischen Lords und Ladys uns gern im Austausch gegen gutes Silber mit allem Nötigen versorgen werden. Wir werden angemessene Preise bezahlen.« Es hatte keinen Sinn, die Andoraner zu beschwichtigen, wenn das bedeutete, daß die Murandianer die Pferde stahlen und die Versorgungszüge überfielen.

Die Murandianer, die sich unbehaglich umsahen, schienen entschieden im Zwiespalt. Es gab Geld zu verdienen, und es war viel Geld nötig, ein solch großes Heer zu versorgen, aber wer konnte andererseits erfolgreich um das schachern, was ein solch großes Heer anbot? Donel schien tatsächlich Übelkeit zu verspüren, während Cian offenbar im Geiste auflistete. Lautes Murren erhob sich unter den Zuschauern.

Egwene hätte gern über die Schulter geblickt. Das Schweigen der Sitzenden war ohrenbetäubend. Siuan blickte starr geradeaus und umklammerte ihre Röcke, als zwinge sie sich durch Willenskraft zur Ruhe. Zumindest sie hatte gewußt, was käme. Sheriam, die nichts geahnt hatte, betrachtete die Andoraner und Murandianer erhaben, als hätte sie jedes Wort erwartet.

Egwene mußte sie das Mädchen vergessen lassen, das sie vor sich sahen, damit sie einer Frau zuhörten, welche die Zügel der Macht fest in der Hand hielt. Und wenn sie die Zügel jetzt noch nicht in der Hand hatte, würde es zumindest bald soweit sein! Sie verlieh ihrer Stimme noch mehr Festigkeit. »Merkt Euch meine Worte gut. Ich habe meine Entscheidung getroffen. Es ist an Euch, sie anzunehmen. Oder sich dem zu stellen, was aus Eurer Weigerung gewiß entstehen wird.« Als sie schwieg, heulte der Wind kurz auf, ließ den Pavillon knattern und zerrte an jedermanns Kleidung. Egwene richtete ruhig ihr Haar. Einige der zusehenden Adligen erschauderten leicht und zogen ihre Umhänge enger um sich, und sie hoffte, dies sei nicht nur durch die Kälte bedingt.

Arathelle wechselte Blicke mit Pelivar und Aemlyn, und alle drei betrachteten prüfend die Sitzenden, bevor sie zögernd nickten. Sie dachten, sie äußerte nur Worte, welche die Sitzenden ihr eingetrichtert hätten! Dennoch seufzte Egwene fast vor Erleichterung.

»Es wird so geschehen, wie Ihr befehlt«, sagte die Adlige mit dem harten Blick. Und dann erneut an die Sitzenden gewandt: »Wir zweifeln natürlich nicht an den Worten von Aes Sedai, aber Ihr werdet verstehen, wenn wir ebenfalls bleiben. Manchmal entspricht das, was man hört, nicht dem, was man zu hören glaubt. Gewiß ist das hier nicht der Fall, aber wir werden ebenso lange bleiben wie Ihr.« Donel machte tatsächlich ein Gesicht, als müsse er sich gleich übergeben. Seine Ländereien lagen wahrscheinlich ganz in der Nähe. Es war bekannt, daß andoranische Heere in Murandy selten für etwas bezahlt hatten.

Egwene erhob sich, und sie hörte das Rascheln der sich hinter ihr erhebenden Sitzenden. »Also ist es abgemacht. Wir müssen bald aufbrechen, wenn wir vor Einbruch der Dunkelheit in unser Lager zurückkehren wollen, aber wir sollten uns trotzdem noch einige Augenblicke Zeit nehmen. Einander ein wenig besser kennenzulernen könnte vielleicht spätere Mißverständnisse verhindern.« Und Gespräche könnten ihr die Möglichkeit verschaffen, Talmanes zu erreichen. »Oh. Über noch eines solltet Ihr Kenntnis haben. Das Novizinnenbuch steht jetzt jeder Frau offen, gleichgültig, wie alt sie ist, wenn sie sich als geeignet erweist.« Arathelle blinzelte. Siuan nicht, und doch glaubte Egwene ein schwaches Brummen zu hören. Dies war nicht Teil dessen, was sie besprochen hatten, aber ein besser Zeitpunkt würde niemals kommen. »Nun erhebt Euch. Gewiß wollt Ihr alle gern mit den Sitzenden sprechen. Legt die Förmlichkeit ab.«

Sie stieg von ihrem Podest herab, ohne auf Sheriams helfende Hand zu warten. Sie hätte fast gelacht. Letzte Nacht hatte sie befürchtet, sie würde ihr Ziel vielleicht niemals erreichen, aber sie befand sich bereits auf halbem Wege dorthin, fast auf halbem Weg, und es war nicht annähernd so schwierig gewesen, wie sie erwartet hatte. Natürlich blieb die andere Hälfte noch zu bewältigen.

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