19 Das Gesetz

Die Sitzenden auf ihre Pferde zu bekommen erwies sich als ein Kinderspiel. Sie waren ebenso erpicht fortzukommen wie Egwene, besonders Romanda und Lelaine, die beide so frostig wie der Wind und deren Augen wie Gewitterwolken waren. Die übrigen waren das Abbild kühler Gelassenheit der Aes Sedai, die diese Haltung wie einen schweren Geruch verströmten, und doch eilten sie so rasch zu ihren Pferden, daß die Adligen staunend zurückblieben. Die bunt gekleideten Diener beeilten sich, die Packpferde zu beladen, um so rasch wie möglich aufzuholen.

Egwene ließ Daishar im Schnee hart vorangehen, und Lord Bryne sorgte, ohne einen weiteren Blick oder ein Nicken von ihr dafür, daß die bewaffneten Eskorten ebenso rasch voranritten. Siuan auf Bela und Sheriam auf Wing schlossen sich ihr eilig an. Lange Strecken kämpften sie sich durch eine fesselhohe Schneedecke, wobei die Pferde die Hufe fast im Trab hoch anheben mußten, während die Flamme von Tar Valon im eisigen Wind wogte. Und selbst als es nötig wurde, langsamer voranzureiten, als die Pferde knietief durch die Schneekruste einsanken, ritten sie zügig voran.

Die Sitzenden hatten keine andere Wahl als mitzuhalten, und die Geschwindigkeit gab ihnen kaum eine Gelegenheit, unterwegs miteinander zu reden. In diesem erschöpfenden Tempo könnte ein Moment der Unaufmerksamkeit ein gebrochenes Bein für das Tier und ein gebrochenes Genick für den Reiter zur Folge haben. Dennoch gelang es sowohl Romanda als auch Lelaine, ihre erlesenen Kreise um sich zu versammeln, so daß diese beiden Gruppen von einem Schutz gegen Lauscher umgeben durch den Schnee stolperten. Die beiden ließen anscheinend Schimpftiraden vom Stapel. Egwene konnte sich denken, worum es ging. Was das betraf, so gelang es auch anderen Sitzenden, eine Weile zusammenzureiten, leise einige Worte zu wechseln und manchmal ihr und manchmal den von Saidar umgebenen Schwestern kühle Blicke zuzuwerfen. Nur Delana beteiligte sich nicht an diesen kurzen Unterhaltungen. Sie blieb dicht bei Halima, die zumindest nicht verhehlte, daß sie fror. Die Frau vom Lande hielt mit angespanntem Gesicht den Umhang eng um sich, aber sie versuchte noch immer, Delana zu trösten, indem sie ihr fast ständig etwas zuflüsterte. Delana schien Trost zu brauchen. Ihre Brauen waren gesenkt, so daß eine steile Falte ihre Stirn zerfurchte, die sie tatsächlich gealtert wirken ließ.

Sie war nicht die einzige, die sich sorgte. Die anderen verbargen das Gefühl hinter Starrheit, strahlten vollkommene Sicherheit aus, aber die Behüter verhielten sich, als erwarteten sie beim nächsten Schritt das Schlimmste. Unaufhörlich ließen sie die Blicke unbehaglich schweifen, die Umhänge im Wind flatternd, damit sie die Hände frei behielten. Wenn sich eine Aes Sedai sorgte, dann sorgte sich auch ihr Behüter, und die Sitzenden waren zu sehr von ihren eigenen Gedanken in Anspruch genommen, um daran zu denken, die Männer zu beruhigen. Egwene war einfach froh, das zu sehen. Wenn die Sitzenden sich sorgten, hatten sie noch keine Entscheidung getroffen.

Als Bryan vorausritt, um mit Uno zu sprechen, ergriff sie die Gelegenheit, zu erfragen, was die beiden Frauen über die Aes Sedai und die Burgwachen in Andor erfahren hatten.

»Nicht viel«, erwiderte Siuan mit angespannter Stimme. Die struppige Bela schien mit der Gangart keine Schwierigkeiten zu haben, aber Siuan sehr wohl, die mit einer Hand die Zügel und mit der anderen den Sattelknauf umklammerte. »Soweit ich herausfinden konnte, gibt es fünfzig Gerüchte und keine Tatsachen. Wahrscheinlich ist es ein Märchen, aber es könnte vielleicht dennoch wahr sein.« Bela strauchelte, ihre Vorderhufe sanken tief ein, und Siuan keuchte. »Das Licht verdamme alle Pferde!«

Sheriam hatte auch nicht mehr erfahren. Sie schüttelte den Kopf und seufzte verärgert. »Es klingt für mich alles nach Unsinn, Mutter. Es gibt immer Gerüchte über umherschleichende Schwestern. Habt Ihr niemals reiten gelernt, Siuan?« fügte sie plötzlich verächtlich hinzu. »Heute abend werdet Ihr zu wundgeritten sein, um noch laufen zu können!« Sheriams Nerven mußten bloßliegen, daß sie so offen redete.

Siuans Blick verhärtete sich, und sie öffnete halbwegs höhnend den Mund, gleichgültig, wer sie hinter dem Banner hervor beobachten mochte.

»Seid still, alle beide!« fauchte Egwene. Sie atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Sie war auch selbst ein wenig angegriffen. Was auch immer Arathelle glaubte — jegliche von Elaida zu ihrer Behinderung gesandten Streitkräfte wären zu zahlreich, um sich heimlich anzuschleichen. Also blieb noch die Schwarze Burg, schon in der Entstehung ein Unglück. Man sollte sich besser um Naheliegendes kümmern, als zu weit vorauszudenken. Besonders, wenn das Vorausliegende in einem anderen Land geschah und vielleicht gar nicht existierte.

Sie versagte sich dennoch die Worte, indem sie Sheriam Anweisungen für den Zeitpunkt gab, wenn sie das Lager erreichten. Sie war der Amyrlin-Sitz, und das bedeutete, daß sie für alle Aes Sedai die Verantwortung trug, selbst für jene, die Elaida folgten. Ihre Stimme klang jedoch felsenfest. Es war zu spät, Angst zu haben, wenn man den Wolf erst bei den Ohren gepackt hatte.

Sheriams schrägstehende Augen weiteten sich, als sie die Anweisungen hörte. »Mutter, darf ich fragen, warum...?« Sie brach unter Egwenes ruhigem Blick ab und schluckte. »Wie Ihr befehlt, Mutter«, sagte sie zögernd. »Seltsam. Ich erinnere mich noch an den Tag, als Ihr und Nynaeve zur Burg kamt, zwei Mädchen, die sich nicht entscheiden konnten, ob sie aufgeregt oder ängstlich sein sollten. Seitdem hat sich so vieles geändert.«

»Nichts währt ewig«, belehrte Egwene sie. Sie warf Siuan einen bedeutungsvollen Blick zu, die sich aber weigerte, es zu bemerken. Sie schien verdrießlich. Sheriam hingegen wirkte leidend.

Dann kehrte Lord Bryne zu ihnen zurück, und er mußte die Stimmung unter ihnen spüren. Abgesehen davon, daß er sagte, sie lägen gut in der Zeit, schwieg er. Ein kluger Mann.

Ob sie gut in der Zeit lagen oder nicht — die Sonne war bereits fast hinter die Baumwipfel gesunken, als sie schließlich durch das sich ausbreitende Lager des Heers ritten. Wagen und Zelte warfen lange Schatten über den Schnee, und eine Anzahl Männer arbeitete hart, weitere Unterstände aus Gestrüpp zu errichten. Es waren nicht annähernd genug Zelte vorhanden, selbst nicht für alle Soldaten, und das Lager beherbergte noch einmal fast ebenso viele Sattler und Wäscherinnen und alle jene, die jeglichem Heer unvermeidlich folgten. Das Klingen der Ambosse zeugte von noch immer tätigen Huf- und Waffenschmieden. Herdfeuer brannten überall, und die Kavallerie zerstreute sich, nach Wärme und heißem Essen verlangend, sobald ihre erschöpft dahintrottenden Tiere versorgt waren. Überraschenderweise ritt Bryne weiterhin an Egwenes Seite, nachdem sie ihn entlassen hatte.

»Wenn Ihr erlaubt, Mutter«, sagte er, »möchte ich Euch noch eine Weile begleiten.« Sheriam wandte sich tatsächlich im Sattel um und sah erstaunt zurück. Siuan blickte ebenfalls erstaunt strikt geradeaus, als wage sie nicht, ihn ihre plötzlich geweiteten Augen sehen zu lassen.

Was glaubte er, was er tun konnte? Als ihr Leibwächter fungieren? Gegen Schwestern? Dieser Bursche mit der tropfenden Nase würde genügen. Einfach offenbaren, wie vollständig er auf ihrer Seite stand? Morgen war dafür noch genug Zeit, wenn heute abend alles gut verlief. Diese Offenbarung könnte den Saal jetzt leicht in Richtungen vorpreschen lassen, die sie kaum zu erwägen wagte.

»Der heutige Abend ist Aes Sedai-Angelegenheiten vorbehalten«, belehrte sie ihn entschlossen. Aber er hatte, so töricht die Vorstellung auch war, angeboten, sein Leben für sie zu riskieren. Die Gründe dafür lagen im dunkeln — wer konnte schon sagen, warum ein Mann irgend etwas tat? —, und doch schuldete sie ihm dafür etwas. Unter anderem dafür. »Wenn ich Siuan heute abend nicht zu Euch schicke, Lord Bryne, solltet Ihr vor dem Morgen aufbrechen. Falls die Ereignisse des heutigen Tages mir zur Last gelegt werden, könnte sich das auch auf Euch auswirken. Es könnte sich als gefährlich erweisen zu bleiben. Sogar als tödlich. Ich glaube nicht, daß sie eine besondere Entschuldigung brauchten.« Es war nicht nötig, ›sie‹ genauer zu benennen.

»Ich habe mein Wort gegeben«, erwiderte er ruhig. »Bis nach Tar Valon.« Er hielt inne und schaute zu Siuan, weniger zögernd als nachdenklich. »Was auch immer heute abend besprochen werden soll«, sagte er schließlich, »Ihr solltet dabei daran denken, daß dreißigtausend Mann und Gareth Bryne hinter Euch stehen. Das dürfte einiges Gewicht haben, selbst unter Aes Sedai. Bis morgen, Mutter.« Er wendete seinen Kastanienbraunen und rief noch über die Schulter: »Ich erwarte, Euch morgen auch zu sehen, Siuan. Daran wird sich nichts ändern.« Siuan starrte ihm nach, als er sich entfernte. Ihr Blick wirkte gequält.

Egwene konnte nicht anders, als ihm ebenfalls nachzublicken. Er war noch niemals zuvor so offen gewesen, nicht annähernd. Warum ausgerechnet jetzt?

Als sie den vierzig oder fünfzig Schritt breiten Streifen überquerten, der das Lager des Heers von dem der Aes Sedai trennte, nickte Egwene Sheriam zu, die ihr Pferd bei den ersten Zelten verhielt. Egwene und Siuan ritten weiter. Hinter ihnen erklang Sheriams Stimme erstaunlich klar und fest. »Der Amyrlin-Sitz beruft den Saal heute zu einer formellen Sitzung. Trefft rasch alle Vorbereitungen.« Egwene schaute nicht zurück.

Bei ihrem Zelt eilte eine hagere Pferdemagd mit wehenden Röcken herbei, um Daishar und Bela zu übernehmen. Ihr Gesicht wirkte angespannt, und sie neigte kaum den Kopf, bevor sie mit den Pferden so rasch wieder davoneilte, wie sie gekommen war. Die Wärme der glühenden Kohlepfannen im Zelt war wie eine sich schließende Faust. Egwene hatte bis dahin nicht bemerkt, wie kalt es draußen war. Oder wie sehr sie fror.

Chesa nahm ihr den Umhang ab, doch als sie ihre Hände spürte, rief sie aus: »Ihr seid ja bis auf die Knochen durchgefroren, Mutter!« Sie plapperte weiter, während sie sich damit beschäftigte, Egwenes und Siuans Umhänge zusammenzufalten, die ordentlich zurückgeschlagenen Decken auf Egwenes Feldbett glattzustreichen und ein auf einer der Kisten abgestelltes Tablett zu überprüfen. »Ich würde mich sofort ins Bett legen und heiße Ziegelsteine um mich schichten, wenn ich so durchgefroren wäre. Zumindest, sobald ich etwas gegessen hätte. Man kann sich nur äußerlich erwärmen, wenn man auch innerlich erwärmt ist. Ich werde ein paar zusätzliche Ziegelsteine für Eure Füße besorgen, während Ihr eßt. Und natürlich auch für Siuan Sedai. Oh, wenn ich so hungrig wäre wie Ihr, würde ich bestimmt mein Essen hinunterschlingen wollen, aber dann bekomme ich stets Magenschmerzen.« Sie hielt bei dem Tablett inne, betrachtete Egwene und nickte zufrieden, als diese sagte, sie würde nicht zu hastig essen.

Es war nicht leicht, ernsthaft zu antworten. Chesa war stets erfrischend, aber nach den Strapazen des heutigen Tages mußte Egwene fast vor Vergnügen lachen. Chesa war unkompliziert. Auf dem Tablett befanden sich zwei weiße Schalen mit Linseneintopf sowie ein hoher Krug mit gewürztem Wein, zwei Silberbecher und zwei große Brötchen. Irgendwie hatte die Frau gewußt, daß Siuan mit ihr essen würde. Die Schalen und der Krug dampften. Wie oft hatte Chesa dieses Tablett auswechseln müssen, um zu gewährleisten, daß Egwene sofort nach ihrer Rückkehr eine heiße Mahlzeit vorfand? Einfach und unkompliziert. Und so fürsorglich wie eine Mutter. Oder wie eine Freundin.

»Ich muß noch aufs Bett verzichten, Chesa. Heute abend habe ich noch zu arbeiten. Würdet Ihr uns allein lassen?«

Siuan schüttelte den Kopf, als sich der Zelteingang hinter der rundlichen Frau schloß. »Seid Ihr sicher, daß sie nicht schon seit Eurer Säuglingszeit in Euren Diensten steht?« murmelte sie.

Egwene nahm eine der Schalen, einen Löffel und ein Brötchen und machte es sich seufzend auf einem Stuhl bequem. Sie umarmte die Quelle und schützte das Zelt gegen Lauscher. Leider ließ Saidar sie ihrer halb erfrorenen Hände und Füße noch bewußter werden, und auch die übrigen Körperteile waren nicht wesentlich wärmer. Die Schale war fast zu heiß, um sie zu halten, und das Brötchen ebenfalls. Oh, wie gern sie diese Ziegelsteine angenommen hätte.

»Können wir noch irgend etwas tun?« fragte sie und nahm einen Löffel Eintopf. Sie war ausgehungert, was nicht verwunderlich war, da sie seit dem im Morgengrauen eingenommenen Frühstück nichts mehr gegessen hatte. Die Linsen und holzigen Karotten schmeckten wie das köstlichste Mahl, das ihre Mutter je zubereitet hatte. »Mir fällt nichts mehr ein, aber Euch vielleicht?«

»Was getan werden kann, wurde bereits getan. Es gibt nichts sonst, außer, daß der Schöpfer selbst eingreift.« Siuan nahm die andere Schale und ließ sich auf einen niedrigen Stuhl sinken, aber dann saß sie nur da, starrte in ihren Eintopf und rührte mit dem Löffel darin. »Ihr würdet es ihm doch nicht wirklich sagen, oder?« fragte sie schließlich. »Ich könnte es nicht ertragen, wenn er es wüßte.«

»Warum, um alles in der Welt, nicht?«

»Er würde es ausnutzen«, sagte Siuan düster. »Oh, nicht das. Das glaube ich nicht.« Sie war in mancherlei Hinsicht sehr prüde. »Aber der Mann würde mir das Leben zur Hölle machen!« Und seine Kniehosen zu waschen und jeden Tag seine Stiefel und seinen Sattel zu polieren, war das nicht die Hölle?

Egwene seufzte. Wie konnte eine solch vernünftige, intelligente, fähige Frau bei diesem Thema zu einem solchen Wirrkopf werden? Ein Bild stieg in ihr auf wie eine zischende Natter. Ein Bild von ihr selbst, wie sie auf Gawyns Knien saß und sie sich küßten. In einer Schenke! Sie verdrängte es energisch. »Siuan, ich brauche Eure Erfahrung. Ich brauche Euren Verstand. Ich kann es mir nicht leisten, daß Ihr wegen Lord Bryne nur halbwegs bei der Sache seid. Wenn Ihr Euch nicht zusammenreißen könnt, werde ich ihm bezahlen, was Ihr ihm schuldet, und Euch verbieten, ihn wiederzusehen. Das werde ich tun.«

»Ich habe gesagt, daß ich die Schuld abarbeiten werde«, entgegnete Siuan starrköpfig. »Ich besitze ebensoviel Ehre wie der verdammte Lord Gareth Bryne! Ebensoviel und mehr. Er hält sein Wort, und ich halte meines! Außerdem hat Min mir erzählt, daß ich in seiner Nähe bleiben muß, weil wir sonst beide sterben. Oder etwas Ähnliches.« Die leichte Röte ihrer Wangen verriet sie jedoch. Ungeachtet ihrer Ehre und Mins Vision würde sie bereitwillig alles auf sich nehmen, um dem Mann nahe zu sein!

»Na, fabelhaft. Ihr seid vernarrt, und wenn ich Euch befehle, ihm fernzubleiben, werdet ihr den Befehl entweder mißachten oder Trübsal blasen und Euren restlichen Verstand verlieren. Was habt Ihr mit ihm vor?«

Siuan runzelte ungehalten die Stirn und gab grollend einige Erklärungen ab, was sie gern mit dem verdammten Gareth Bryne tun würde. Nichts davon hätte ihm gefallen. Einiges hätte er vielleicht nicht überlebt.

»Siuan«, warnte Egwene, »Ihr leugnet erneut das Offensichtliche, und ich werde es ihm erzählen und ihm das Geld geben.«

Siuan schmollte störrisch. Sie schmollte! Störrisch! Siuan! »Ich habe keine Zeit, mich zu verlieben. Ich habe kaum Zeit zum Nachdenken, während ich für Euch und ihn arbeite. Und selbst wenn heute abend alles gelingt, werde ich noch doppelt soviel zu tun haben. Außerdem...« Ihre Miene veränderte sich, und sie rutschte auf ihrem Stuhl hin und her. »Was ist, wenn er ... meine Gefühle nicht erwidert?« murrte sie. »Er hat niemals auch nur versucht, mich zu küssen. Ihn kümmert nur, ob seine Hemden sauber sind.«

Egwene wollte mit dem Löffel die letzten Reste in ihrer Schale zusammenkratzen und war überrascht, als er leer blieb. Auch von dem Brötchen waren nur wenige Krümel auf ihrem Gewand geblieben. Licht, ihr Magen fühlte sich noch immer leer an. Sie beäugte hoffnungsvoll Siuans Schale. Die Frau schien wenig Interesse an etwas anderem als daran zu haben, Kreise in ihre Linsen zu zeichnen.

Plötzlich kam ihr ein Gedanke. Warum hatte Lord Bryne darauf bestanden, daß Siuan ihre Schuld abarbeitete, nachdem er erfahren hatte, wer sie war? Nur weil sie gesagt hatte, daß sie es tun würde? Es war eine widersinnige Vereinbarung, die es ihr jedoch ermöglichte, in seiner Nähe zu bleiben, wie nichts anderes es bewirkt hätte. Sie hatte sich ebenfalls schon oft gefragt, warum Bryne zugestimmt hatte, das Heer aufzustellen. Er mußte gewußt haben, daß dadurch die Möglichkeit bestand, daß er mit dem Kopf auf dem Hackklotz enden könnte. Und warum hatte er ihr dieses Heer angeboten, einer jungen Amyrlin ohne wahre Autorität und ohne Freundin unter den Schwestern außer Siuan, soweit er wußte? Konnte die Antwort auf alle diese Fragen einfach sein, daß ... er Siuan liebte? Nein. Die meisten Männer waren leichtfertig und unbeständig, aber das war wirklich widersinnig! Dennoch äußerte sie diese Vermutung, wenn auch nur, um Siuan zu belustigen. Vielleicht munterte es sie ein wenig auf.

Siuan schnaubte ungläubig. Es wirkte bei diesem hübschen Gesicht seltsam, aber niemand konnte so ausdrucksvoll schnauben wie sie. »Er ist keineswegs ein Dummkopf«, sagte sie trocken. »Tatsächlich trägt er einen klugen Kopf auf seinen Schultern. Er denkt meistens wie eine Frau.«

»Ich habe Euch noch immer nicht sagen hören, daß Ihr wieder zur Vernunft kommen wollt, Siuan«, beharrte Egwene. »Ihr müßt es auf die eine oder andere Weise tun.«

»Nun, natürlich werde ich das. Ich weiß nicht, was mit mir los war. Es ist nicht so, als hätte ich noch niemals zuvor einen Mann geküßt.« Plötzlich verengte sie ihre Augen, als erwarte sie, daß Egwene das bezweifelte. »Ich habe nicht mein ganzes Leben in der Burg verbracht. Es ist lächerlich! Über Männer zu plaudern, ausgerechnet heute abend!« Sie spähte in ihre Schale und schien zum erstenmal zu bemerken, daß sie Essen enthielt. Sie nahm einen Löffelvoll und deutete dann auf Egwene. »Ihr müßt jetzt mehr denn je auf Eure Zeiteinteilung achten. Wenn Romanda oder Lelaine das Ruder ergreifen, werdet Ihr niemals wieder selbst darüber entscheiden.«

Ob lächerlich oder nicht — etwas hatte Siuans Appetit mit Sicherheit wiederhergestellt. Sie aß ihren Eintopf schneller auf als Egwene ihren, und kein Krümel des Brötchens entging ihr. Egwene merkte, daß sie ihre leere Schale sogar noch mit den Fingern ausgewischt hatte. Natürlich konnte sie nur noch die letzten Reste Linsen davon ablecken.

Es war eigentlich nicht mehr nötig, die Geschehnisse des heutigen Abends noch einmal zu besprechen. Sie hatten so viele Male ersonnen und wiederholt verbessert, was Egwene wann sagen sollte, daß sie überrascht war, daß sie nicht davon geträumt hatte. Sie hätte ihren Teil gewiß im Schlaf beherrscht. Siuan beharrte dennoch darauf und näherte sich sehr weit dem Punkt, an dem Egwene sie würde zurechtweisen müssen, weil sie alles immer und immer wieder durchging und erneut Möglichkeiten aufbrachte, die sie schon hundertmal zuvor besprochen hatten. Seltsamerweise war Siuan jetzt sehr guter Stimmung. Sie versuchte sich sogar in ein wenig Humor, was für sie in letzter Zeit ungewöhnlich geworden war, obwohl einiges davon Galgenhumor war.

»Ihr wißt, daß Romanda einst selbst die Amyrlin werden wollte«, sagte sie. »Ich habe gehört, daß statt dessen Tamra Stola und Stab erhielt und sie sich deshalb in den Ruhestand zurückzog. Ich würde alles darauf verwetten, daß ihre Augen doppelt so stark hervortreten wie Lelaines.«

Und später sagte sie: »Ich wünschte, ich könnte dort sein, um sie wehklagen zu hören. Jemand wird es bald tun müssen, und es wäre mir lieber, wenn es sie wären anstatt wir. Ich konnte noch nie gut singen.« Sie sang tatsächlich ein Bruchstück eines Liedes über jemanden, der über den Fluß einen Jungen erblickte, aber kein Boot besaß. Sie hatte recht — ihre Stimme war bestenfalls als nett zu bezeichnen, aber sie konnte keine Melodie halten.

Und noch später: »Es ist gut, daß ich jetzt solch ein unverbrauchtes Gesicht habe. Wenn dies böse endet, werden sie uns beide wie Puppen anziehen und uns auf ein Regal setzen, um uns zu bewundern. Natürlich könnten wir statt dessen auch ›Unfälle‹ erleiden. Puppen zerbrechen. Gareth Bryne wird sich jemand anderen suchen müssen, den er bevormunden kann.« Sie lachte wahrhaftig darüber.

Egwene empfand große Erleichterung, als sich der Zelteingang kurzzeitig nach innen wölbte und jemanden ankündigte, der genug wußte, um dort nicht einzutreten, wo ein Schutz bestand. Sie wollte wirklich nicht hören, wohin Siuans Humor noch führen würde!

Sobald Egwene den Schutz losließ, trat Sheriam ein, begleitet von einem Luftzug, der zehnmal kälter schien als zuvor. »Es ist an der Zeit, Mutter. Alles ist bereit.« Ihre schrägstehenden Augen waren geweitet, und sie leckte sich mit der Zungenspitze über die Lippen.

Siuan erhob sich und nahm ihren Umhang von Egwenes Feldbett, hielt dann aber in ihrer Bewegung, ihn sich um die Schultern zu legen, inne. »Ich habe die Drachenfinger bereits im Dunkeln umsegelt«, sagte sie ernst. »Es ist möglich.«

Sheriam runzelte die Stirn, als Siuan hinauseilte und weitere Kälte hereinließ. »Manchmal denke ich...«, begann sie, aber was immer sie manchmal dachte, teilte sie Egwene nicht mit. »Warum tut Ihr das, Mutter?« fragte sie statt dessen. »Euer Verhalten heute am See und jetzt die Einberufung des Saals. Und warum habt Ihr uns den ganzen gestrigen Tag damit verbringen lassen, mit jedermann, der uns begegnete, Gespräche über Logain zu führen? Ich bin der Ansicht, daß Ihr es mir erklären solltet. Ich bin Eure Behüterin der Chroniken. Ich habe Treue geschworen.«

»Ich werde Euch sagen, was Ihr wissen müßt«, erwiderte Egwene und warf sich den Umhang um die Schultern. Es war nicht nötig zu sagen, daß sie einem erzwungenen Schwur, selbst dem einer Schwester, keineswegs traute. Und Sheriam könnte einen Grund finden, trotz des Schwurs dem Falschen etwas zu verraten. Aes Sedai waren immerhin dafür bekannt, sich bei ihren Worten Hintertürchen offenzulassen. Sie glaubte nicht wirklich, daß das geschehen würde, aber sie durfte, genau wie bei Lord Bryne, nicht einmal kleine Risiken eingehen, es sei denn, sie war dazu gezwungen.

»Ich muß Euch sagen«, sagte Sheriam verbittert, »daß morgen entweder Romanda oder Lelaine wohl Eure Behüterin der Chroniken sein wird und ich Buße tun werde, weil ich den Saal nicht gewarnt habe.«

Egwene nickte. Das ist nur allzugut möglich. »Wollen wir gehen?«

Die Sonne stand als rote Scheibe über den Baumwipfeln im Westen, und ein unheimliches Licht spiegelte sich auf dem Schnee. Diener verbeugten sich schweigend oder vollführten still Hofknickse, als Egwene vorüberging. Ihre Mienen waren besorgt oder ausdruckslos. Diener konnten die Stimmungen ihrer Dienstherren fast ebenso schnell erkennen wie Behüter.

Zunächst war nicht eine Schwester zu sehen, doch dann waren alle da, eine große Versammlung rund um einen auf der einzigen ausreichend großen freien Flache des Lagers errichteten Pavillon, die von den Schwestern genutzt wurde, um zu den Taubenschlägen in Salidar zu gleiten und mit den Berichten der Augen-und-Ohren zurückzureisen. Das große, häufig geflickte schwere Segeltuch war nicht leicht zu errichten gewesen. Der Saal war in den vergangenen zwei Monaten sehr häufig ähnlich wie am gestrigen Morgen zusammengetroffen oder hatte sich in eines der größeren Zelte gedrängt. Der Pavillon war erst zweimal errichtet worden, seit sie Salidar verlassen hatten. Beide Male für eine Gerichtsverhandlung.

Als die Schwestern Egwene und Sheriam herannahen sahen, flüsterten jene im Hintergrund mit den vorderen, und es bildete sich eine Gasse, um sie hindurchzulassen. Ausdruckslose Augen beobachteten die beiden, ohne einen Hinweis darauf zu geben, ob die Schwestern wußten oder auch nur erahnten, was geschehen würde. Ohne einen Hinweis darauf, was sie dachten. Schmetterlinge flatterten in Egwenes Bauch. Eine Rosenknospe. Ruhig.

Sie betrat die ausgelegten Teppiche mit bunten Blumen und einem Dutzend weiteren Mustern und schritt zwischen dem Kreis der aufgestellten Kohlepfannen hindurch. Sheriam ergriff das Wort. »Sie kommt. Sie kommt...« Es war kaum verwunderlich, wenn sie etwas weniger eindrucksvoll klang als gewöhnlich, ein wenig nervös.

Die polierten Bänke und die mit Tüchern abgedeckten Podeste vom See waren erneut aufgestellt. Sie bildeten einen weitaus formelleren Anblick als das nicht zueinander passende Gewirr von Stühlen, das bisher verwendet worden war. Grüne, Graue und Gelbe auf einer Seite, Weiße, Braune und Blaue auf der anderen.

Am entgegengesetzten Ende, am weitesten von Egwene entfernt, stand das gestreifte Podest und die Bank für den Amyrlin-Sitz. Wenn sie dort säße, wäre sie Mittelpunkt aller und sich sehr wohl der Tatsache bewußt, daß sie allein achtzehn Schwestern gegenüberstand. Es war gut, daß sie ihre Kleidung noch nicht gewechselt hatte. Alle Sitzenden trugen noch immer ihren Prunk vom See, nur zusätzlich ihre Stola. Eine Rosenknospe. Ruhig.

Einer der Plätze war unbesetzt, wenn auch nur noch kurze Zeit. Delana lief in dem Moment herbei, als Sheriam ihre Litanei beendet hatte. Die Graue Schwester wirkte atemlos und aufgeregt und nahm unbeholfen ihren Platz zwischen Varilin und Kwamesa ein. Sie lächelte kläglich und spielte nervös mit den Feuertropfen um ihren Hals. Jedermann hätte denken können, sie solle verurteilt werden. Ruhig. Niemand wurde verurteilt. Noch nicht.

Egwene schritt langsam über die Teppiche, zwischen den beiden Reihen entlang, gefolgt von Sheriam, und Kwamesa erhob sich. Das Licht Saidars schimmerte plötzlich um die dunkle schlanke Frau auf, die jüngste der Sitzenden. Heute abend würden die Formalitäten nicht vernachlässigt werden. »Was vor den Saal der Burg gebracht wird, geht allein den Saal etwas an«, verkündete Kwamesa. »Wer auch immer ungebeten eindringt, ob Frau oder Mann, ob Eingeweihter oder Außenseiter, ob sie in Frieden oder zornigen Sinnes kommen, ich werde jeden dem Gesetz gemäß verpflichten, sich dem Gesetz zu stellen. Wisset, daß meine Worte wahr sind. Es wird und soll geschehen.«

Diese Formel war älter als der Eid gegen das Sprechen der Unwahrheit, aus einer Zeit stammend, als fast ebenso viele Amyrlins durch Meuchelmord starben wie durch alle anderen Ursachen zusammengenommen. Egwene schritt weiterhin angemessen voran. Es kostete sie Mühe, ihre Stola nicht zu berühren — zur Erinnerung. Sie versuchte, sich auf die Bank vor ihr zu konzentrieren.

Kwamesa nahm ihren Platz wieder ein, noch immer vor Macht schimmernd. Dann erhob sich von den Weißen Aledrin, die ebenfalls von Saidar umgeben war. Sie war mit ihrem dunkelblonden Haar und den großen braunen Augen eigentlich recht hübsch, besonders wenn sie lächelte, aber heute abend hatte jeder Stein mehr Ausstrahlung als sie. »Es gibt jene in Hörweite, die nicht dem Saal angehören«, sagte sie mit kühler, stark vom tarabonischen Akzent gefärbter Stimme. »Was im Saal der Burg besprochen wird, ist nur für den Saal bestimmt, bis der Saal anders entscheidet. Ich werde uns abschirmen. Ich werde unsere Worte nur für uns hörbar versiegeln.« Sie wob einen Schutz, der den ganzen Pavillon einschloß, und setzte sich wieder hin. Bewegung entstand unter den draußen befindlichen Schwestern, die den Saal jetzt vollkommen still erleben mußten.

Seltsam, daß unter Sitzenden so vieles vom Alter abhing, wenn die Unterscheidung durch das Alter unter den übrigen Aes Sedai doch einem Fluch gleichkam. Konnte Siuan im jeweiligen Alter der Sitzenden ein Muster erkannt haben? Nein. Konzentriere dich. Ruhig und konzentriert.

Egwene umfaßte fest ihren Umhang, stieg auf das bunt gestreifte Podest und wandte sich um. Lelaine war bereits aufgestanden, die mit blauen Fransen versehene Stola über den Arm gelegt, und Romanda erhob sich gerade, ohne auch nur darauf zu warten, daß Egwene sich hinsetzte. »Ich möchte dem Saal eine Frage stellen«, verkündete sie mit lauter, fester Stimme. »Wer ist bereit, der unrechtmäßigen Machthaberin Elaida do Avriny a'Roihan den Krieg zu erklären?«

Und dann setzte sie sich hin, warf ihren Umhang zurück und ließ ihn auf die Bank gleiten. Sheriam, die neben ihr auf dem Teppich stand, schien kühl und gefaßt, stieß aber einen leisen Laut aus, fast ein Wimmern. Egwene glaubte nicht, daß sonst noch jemand es gehört hatte. Sie hoffte es nicht.

Es folgte ein kurzer Moment allgemeinen Entsetzens. Frauen erstarrten auf ihren Sitzen und sahen sie erstaunt an. Vielleicht ebenso sehr, weil sie diese Frage gestellt hatte, wie auch wegen der Frage selbst.

Niemand stellte dem Saal eine Frage, bevor er den Sitzenden das Wort erteilt hatte. Das tat man einfach nicht, ebenso sehr aus praktischen Gründen wie aus Tradition.

Schließlich ergriff Lelaine das Wort. »Wir erklären keinen Einzelpersonen den Krieg«, sagte sie trocken. »Nicht einmal Verrätern wie Elaida. Ich beantrage jedenfalls, Eure Frage zurückzustellen, während wir uns mit Dringlicherem befassen.« Sie hatte seit dem Rückritt Zeit gehabt, sich zu sammeln. Ihre Miene wirkte jetzt nur noch unbeugsam, nicht mehr zornig. Sie strich über ihre mit blauen Schlitzen versehenen Röcke, als wische sie Elaida weg — oder vielleicht Egwene —, und wandte ihre Aufmerksamkeit dann den übrigen Sitzenden zu. »Was uns heute abend hier zusammengeführt hat, ist... Ich wollte gerade sagen, es sei einfach, aber das ist es nicht. Das Novizinnenbuch öffnen? Es würden Großmütter geprüft werden wollen. Einen Monat hierbleiben? Ich brauche die damit verbundenen Schwierigkeiten wohl kaum aufzuzählen, angefangen davon, daß wir die Hälfte unseres Goldes ausgäben, ohne Tar Valon auch nur einen Schritt näher zu kommen. Und was das Nichtüberschreiten der Grenze nach Andor betrifft...«

»Meine Schwester Lelaine hat in ihrer Besorgnis vergessen, wer das Vorrecht zu sprechen besitzt«, unterbrach Romanda sie ruhig. Ihr Lächeln ließ Lelaine noch fröhlich erscheinen. Dennoch nahm sie sich die Muße, ihre Stola nach ihrem Geschmack zu richten, eine Frau, die alle Zeit der Welt besaß. »Ich stelle dem Saal zwei Fragen, und die zweite Frage wird auch Lelaines Besorgnis beinhalten. Bedauerlicherweise für sie betrifft meine erste Frage ausgerechnet Lelaines Eignung, weiterhin Mitglied des Saals zu bleiben.« Ihr Lächeln weitete sich noch, ohne auch nur im geringsten herzlicher zu werden. Lelaine setzte sich langsam hin und zeigte ihre Verärgerung deutlich.

»Eine Frage des Krieges kann nicht zurückgestellt werden«, wandte Egwene laut ein. »Sie muß beantwortet werden, bevor eine weitere Frage gestellt werden darf. So lautet das Gesetz.«

Die Sitzenden wechselten rasche, fragende Blicke.

»Ist das so?« fragte Janya schließlich. Sie blinzelte nachdenklich und wandte sich auf ihrer Bank der Frau neben sich zu. »Takima, Ihr behaltet alles, was Ihr gelesen habt, und ich glaube mich gewiß zu erinnern, daß Ihr erwähnt habt, auch das Kriegsrecht gelesen zu traben. Beinhaltet es dies?«

Egwene hielt den Atem an. Die Weiße Burg hatte während der letzten tausend Jahre Soldaten in unzählige Kriege geschickt, aber stets als Antwort auf eine Bitte um Beistand von mindestens zwei Reichen, und es war stets ihr Krieg gewesen, nicht der Krieg der Burg. Das letzte Mal, als die Burg tatsächlich selbst den Krieg erklärte, hatte es sich um Artur Falkenflügel gehandelt. Siuan sagte, daß jetzt nur noch wenige Bibliothekare viel mehr wußten, als daß ein Kriegsrecht existierte.

Klein, mit hüftlangem dunklem Haar und einer Haut von der Farbe alten Elfenbeins, erinnerte Takima die Menschen oft an einen Vogel, den Kopf nachdenklich zur Seite gelegt. Jetzt wirkte sie wie ein Vogel, der losfliegen wollte, denn sie regte sich unruhig auf ihrem Platz, richtete ihre Stola und zupfte unnötigerweise ihre Haube aus Perlen und Saphiren zurecht. »So ist es«, sagte sie schließlich und schloß wieder energisch den Mund.

Egwene begann wieder ruhig zu atmen.

»Anscheinend«, sagte Romanda angespannt, »hat Siuan Sanche Euch gut ausgebildet, Mutter. Wie könnt Ihr Euch für eine Kriegserklärung aussprechen? Einer Frau gegenüber.« Sie klang, als versuche sie, etwas Unangenehmes von sich zu schieben, und sie setzte sich wieder hin und wartete, daß es verschwand.

Egwene nickte dennoch huldvoll und erhob sich. Sie begegnete den Blicken der Sitzenden nacheinander ruhig und gefaßt. Takima mied ihren Blick. Licht, die Frau wußte! Aber sie hatte geschwiegen. Würde sie sich ausreichend lange ruhig verhalten? Es war zu spät, die Pläne noch zu ändern.

»Heute stehen wir einem Heer gegenüber, das von Menschen geführt wird, die uns mißtrauen. Sonst gäbe es dieses Heer nicht.« Egwene wollte mit Leidenschaft sprechen, sie hervorbrechen lassen, aber Siuan hatte ihr zu äußerster Kühle geraten, und sie hatte schließlich zugestimmt. Die Sitzenden mußten sich einer selbstbeherrschten Frau gegenübersehen, nicht einem Mädchen, das von seinen Gefühlen geleitet wird. Die Worte kamen ihr jedoch aus dem Herzen. »Ihr habt Arathelle sagen hören, sie wolle nicht in Aes Sedai-Angelegenheiten verwickelt werden. Und doch haben sie bereitwillig ein Heer nach Murandy gebracht und stehen uns im Weg, da sie sich nicht sicher sind, wer wir sind oder was wir vorhaben. Hatte irgend jemand von Euch das Gefühl, sie glaubten wirklich, daß Ihr Sitzende seid?« Malind, mit rundem Gesicht und zornigen Augen, regte sich auf ihrer Bank der Grünen, wie auch Salita, die an ihrer mit gelben Fransen versehenen Stola zog, obwohl ihr dunkles Gesicht ausdruckslos blieb. Berana, eine weitere in Salidar erwählte Sitzende, runzelte nachdenklich die Stirn. Egwene erwähnte die Reaktion auf sie als Amyrlin nicht. Wenn ihnen dieser Gedanke nicht bereits gekommen war, wollte sie ihn ihnen nicht eingeben.

»Wir haben Elaidas Verbrechen zahllosen Adligen gegenüber aufgeführt«, fuhr sie fort. »Wir haben ihnen gesagt, daß wir sie absetzen wollen. Aber sie bezweifeln es. Sie denken, daß wir vielleicht — vielleicht — das sind, was wir zu sein behaupten. Und vielleicht schwindeln wir ihnen etwas vor. Möglicherweise sind wir nur Elaidas Helfer, die einen wohldurchdachten Plan verfolgen. Zweifel quält Menschen. Zweifel verliehen Pelivar und Arathelle den Mut, sich vor die Aes Sedai zu stellen und zu sagen: ›Ihr könnt nicht weitergehen‹. Wer wird sich uns noch in den Weg stellen oder sich einmischen, weil sie sich nicht sicher sind und die Unsicherheit sie dazu bringt, verwirrt zu handeln? Es gibt für uns nur eine Möglichkeit, ihre Verwirrung zu zerstreuen. Wir haben bereits alles andere getan. Wenn wir erklären, daß wir uns mit Elaida im Kriegszustand befinden, können keine Zweifel mehr bestehen. Ich sage nicht, daß Arathelle und Pelivar und Aemlyn losmarschieren werden, sobald wir es tun, aber sie und alle anderen werden dann wissen, wer wir sind. Niemand wird es erneut wagen, seine Zweifel offen zu zeigen, wenn Ihr sagt, daß Ihr der Saal der Burg seid. Niemand wird es wagen, sich uns in den Weg zu stellen und sich durch Unsicherheit und Unwissenheit in die Angelegenheiten der Burg einzumischen. Wir sind zur Tür geschritten und haben unsere Hände auf den Riegel gelegt. Wenn Ihr Angst habt, durch die Tür zu schreiten, dann fordert Ihr die Welt regelrecht heraus zu glauben, Ihr wärt nichts als Marionetten Elaidas.«

Sie setzte sich wieder hin, überrascht darüber, wie ruhig sie war. Jenseits der beiden Reihen der Sitzenden regten sich die draußen befindlichen Schwestern und steckten die Köpfe zusammen. Sie konnte sich das aufgeregte Murmeln vorstellen, das Aledrins Schutz ausschloß. Wenn nur Takima ausreichend lange schwieg!

Romanda brummte ungeduldig und stand nur so lange auf, um fragen zu können: »Wer tritt dafür ein, Elaida den Krieg zu erklären?« Ihr Blick schweifte erneut zu Lelaine, und ihr kaltes, selbstgefälliges Lächeln kehrte zurück. Es war deutlich zu erkennen, was sie für wichtig erachtete, wenn dieser Unsinn erst vorüber war.

Janya erhob sich sofort, und die langen braunen Fransen an ihrem Schal schwangen. »Wir könnten es ebensogut tun«, sagte sie. Janya sollte eigentlich nicht das Wort ergreifen, aber ihr energisch vorgerecktes Kinn und ihr scharfer Blick warnten jedermann, sie zur Ordnung zu rufen. Für gewöhnlich war sie nicht so ungestüm, aber ihre Worte sprudelten jetzt überstürzt heraus. »Verbessern, wovon die Welt weiß, daß es dadurch nicht noch schlimmer wird. Nun? Nun? Ich sehe keinen Sinn darin zu warten.« Escaralde, die auf der anderen Seite von Takima saß, nickte und erhob sich ebenfalls.

Mona sprang fast auf und blickte stirnrunzelnd auf Lyrelle hinab, die ihre Röcke raffte, als wollte sie ebenfalls aufstehen, aber dann zögerte und Lelaine fragend ansah. Lelaine war zu sehr damit beschäftigt, Romanda über die Teppiche hinweg finster anzustarren, um es zu bemerken.

Unter den Grünen standen Samalin und Malind zusammen auf, und Faiselle hob ruckartig den Kopf. Faiselle, eine gedrungene Domani mit kupferfarbener Haut, war keine Frau, die leicht zu erschüttern war, aber jetzt war sie bestürzt und wendete ihr kantiges Gesicht mit den geweiteten Augen von Samalin zu Malind und wieder zurück.

Salita stand auf, richtete sorgfältig ihre mit gelben Fransen versehene Stola und mied ebenso sorgfältig Romandas plötzlich finsteren Blick. Kwasema erhob sich ebenfalls, und dann Aledrin, die wiederum Berana am Ärmel mit hochzog. Delana wandte sich auf ihrer Bank gänzlich um und spähte zu den draußen stehenden Schwestern. Obwohl kein Laut hereindrang, vermittelte sich die Aufregung der Zuschauer durch ständige Bewegung, zusammengesteckte Köpfe und den Sitzenden hastig zugeworfene Blicke. Delana, die sich zögernd erhob, hatte beide Hände auf den Bauch gepreßt, als wollte sie sich jeden Moment übergeben. Takima verzog das Gesicht und betrachtete ihre auf den Knien ruhenden Hände. Saroiya beobachtete die beiden anderen Weißen Sitzenden und zupfte an ihrem Ohr, wie sie es auch tat, wenn sie tief in Gedanken versunken war. Aber niemand sonst machte Anstalten aufzustehen.

Egwene verspürte ebenfalls leichte Übelkeit. Zehn. Nur zehn. Sie war sich so sicher gewesen. Siuan war sich so sicher gewesen. Logain allein hätte genügen sollen, wenn man ihr Unwissen über das betreffende Gesetz in Betracht zog. Pelivars Heer und Arathelles Weigerung zuzugeben, daß sie tatsächlich Sitzende waren, hätte sie anspornen sollen.

»Für die Liebe des Lichts!« platzte Moira heraus. Sie wandte sich zu Lyrelle und Lelaine um und stemmte die Fäuste in die Hüften. Wenn Janyas Ansprache den Gebräuchen schon zuwider gewesen war, machte dies sie jedoch vollständig zunichte. Zurschaustellungen von Zorn waren im Saal streng verboten, doch Moiras Augen blitzten, und ihr illianischer Akzent troff vor Zorn. »Worauf wartet Ihr? Elaida hat die Stola und den Stab gestohlen! Elaidas Ajah hat Logain zu einem falschen Drachen gemacht, und nur das Licht weiß, wie viele weitere Männer noch! Keine Frau in der Geschichte der Burg hat diese Erklärung jemals mehr verdient! Steht auf oder schweigt von jetzt an über Eure Entschlossenheit, sie abzusetzen!«

Lelaine starrte sie nicht direkt an, aber man hätte ihre Miene so deuten können, daß sie sich von einem Spatz angegriffen fühlte. »Dies ist wohl kaum eine Abstimmung wert, Moira«, sagte sie mit angespannter Stimme. »Wir beide werden uns später über Anstand unterhalten. Dennoch, wenn Ihr eine Darbietung der Entschlossenheit braucht...« Sie stand mit heftigem Schnauben auf und vollführte eine ebenso energische Kopfbewegung, die bewirkte, daß Lyrelle ebenfalls wie an Fäden gezogen aufstand, Lelaine schien überrascht, daß es Faiselle und Takima nicht auch auf die Füße brachte.

Takima, die weit davon entfernt war, sich zu erheben, stieß einen Laut aus, als wäre sie geschlagen worden. Unglaube überzog ihr Gesicht, während sie den Blick über die stehenden Frauen gleiten ließ und sie offensichtlich zählte. Und es dann erneut tat. Takima, die sich an alles beim ersten Mal erinnerte.

Egwene atmete vor Erleichterung tief aus. Es war vollbracht. Sie konnte es kaum glauben. Kurz darauf räusperte sie sich, und Sheriam sprang tatsächlich auf.

Die grünen Augen groß wie Untertassen, räusperte sich auch die Behüterin der Chroniken. »Da die Mehrheit dafür gestimmt hat, wird Elaida do Avriny a'Roihan hiermit der Krieg erklärt.« Ihre Stimme klang nicht allzu fest, aber es genügte. »Im Interesse der Einigkeit bitte ich die Minderheit, ebenfalls aufzustehen.«

Faiselle regte sich unentschlossen und preßte die Hände im Schoß zusammen. Saroiya öffnete den Mund und schloß ihn mit besorgter Miene wieder, ohne etwas gesagt zu haben. Niemand sonst regte sich.

»Ihr werdet sie nicht bekommen«, sagte Romanda tonlos. Das Hohnlächeln, mit dem sie Lelaine bedachte, genügte als Feststellung, warum zumindest sie nicht aufstehen würde. »Jetzt, da diese unwichtige Angelegenheit geklärt ist, können wir mit...«

»Ich glaube nicht, daß wir das können«, unterbrach Egwene sie. »Takima, was sagt das Kriegsrecht über den Amyrlin-Sitz?« Romanda blieb mit offenem Mund stehen.

Takima verzog die Lippen. Die kleine Braune erinnerte mehr denn je an einen Vogel, der davonfliegen wollte. »Das Kriegsrecht...«, begann sie, atmete dann tief durch und setzte sich aufrecht hin. »Das Kriegsrecht besagt: ›Wie ein Paar Hände ein Schwert führen muß, so soll der Amyrlin-Sitz den Krieg durch einen Erlaß befehlen und durchführen. Sie soll den Rat des Saals der Burg suchen, aber der Saal soll alle ihre Erlasse möglichst rasch ausführen, und sie sollen, um der Einigkeit willen...‹« Sie zögerte und mußte sich sichtlich zwingen fortzufahren. »...sie sollen und müssen jeden Erlaß des Amyrlin-Sitzes bezüglich der Durchführung des Krieges billigen, als wäre er mehrheitlich beschlossen.«

Ein langes Schweigen entstand. Aller Augen schienen hervorzutreten. Delana wandte sich jäh um und erbrach sich auf die Teppiche hinter ihrer Bank. Kwamesa und Salita stiegen herab und wollten zu ihr gehen, aber sie winkte sie zurück und zog ein Tuch aus ihrem Ärmel, um sich den Mund abzuwischen. Magla und Saroiya und mehrere andere, die noch saßen, machten ein Gesicht, als wollten sie ihrem Beispiel folgen. Jedoch keine der anderen, die in Salidar erwählt worden waren. Romanda wirkte eisenhart.

»Sehr klug«, sagte Lelaine schließlich kurz angebunden und fügte nach einer wohlerwogenen Pause hinzu: »Mutter. Werdet Ihr uns an dem teilhaben lassen, was die große Weisheit Eurer umfangreichen Erfahrung Euch zu tun rät? Ich meine, wegen des Krieges. Ich möchte nicht mißverstanden werden.«

»Ich möchte ebenfalls nicht mißverstanden werden«, sagte Egwene kalt. Sie beugte sich vor und fixierte die Blaue Schwester streng. »Ein gewisses Maß an Respekt dem Amyrlin-Sitz gegenüber ist unumgänglich, und von nun an werde ich ihn bekommen, Tochter. Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, Euch Eures Amtes zu entheben und eine Strafe auszusprechen.« Lelaines Augen weiteten sich vor Entsetzen immer stärker. Hatte die Frau wirklich geglaubt, alles würde so weitergehen wie bisher? Oder hatte Lelaine, nachdem Egwene es so lange kaum gewagt hatte, auch nur ein wenig Rückgrat zu zeigen, einfach gedacht, sie besäße keines? Sie wollte Lelaine wirklich nicht ihres Amtes entheben. Sie mußte mit dem vollständigen Saal noch immer über Angelegenheiten verhandeln, die nicht überzeugend als Teil des Krieges gegen Elaida ausgegeben werden konnten.

Sie bemerkte aus den Augenwinkeln ein Lächeln um Romandas Lippen, als sie Lelaine sich hinsetzen sah. »Das gilt für alle, Romanda«, sagte sie. Romandas Lächeln schwand jäh.

»Wenn ich etwas sagen dürfte, Mutter«, bat Takima und erhob sich zögernd. Sie versuchte zu lächeln, schien sich aber noch immer entschieden unwohl zu fühlen. »Ich denke, Ihr habt einen guten Anfang gemacht. Es hat vielleicht Vorteile, hier einen Monat haltzumachen. Oder länger.« Romanda wandte ruckartig den Kopf und starrte sie an, aber dieses eine Mal bemerkte Takima es anscheinend nicht. »Wenn wir hier überwintern, können wir noch schlimmeres Wetter weiter im Norden meiden und auch sorgfältig Vorbereitungen treffen...«

»Die Verzögerungen haben ein Ende, Tochter«, unterbrach Egwene sie. »Wir werden uns keine Zeit mehr lassen.« Würde sie eine neue Gerra oder eine neue Shein werden? Beides war noch immer möglich. »Wir werden in einem Monat aufbrechen.« Nein, sie war Egwene al'Vere. Was auch immer die geheimen Aufzeichnungen über ihre Fehler und Tugenden besagen würden, wußte nur das Licht, aber es wären ihre eigenen Fehler und Tugenden. »Wir werden in einem Monat mit der Belagerung Tar Valons beginnen.«

Dieses Mal wurde das Schweigen nur von Takimas Weinen unterbrochen.

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