6 Stränge

Elayne lief ebenfalls mit gerafften Röcken los und übernahm auf dem gut ausgetretenen Pfad schnell die Führung. Nur Aviendha blieb dicht bei ihr, obwohl sie keine Ahnung zu haben schien, wie man in einem, wenn auch geteilten, Kleid rannte. Sonst hätte sie Elayne, müde wie sie war, gewiß überholt. Alle anderen schlängelten sich den schmalen, gewundenen Pfad hinter ihnen entlang. Keine der Atha'an Miere würde an Renaile vorübereilen, und sie konnte sich trotz ihrer Seidenhose nicht sehr schnell vorwärts bewegen, da sie die Schale an ihre Brust gepreßt trug. Nynaeve plagten keine solchen Gewissensbisse. Sie kämpfte sich mit Ellbogen eilig voran und schrie die Frauen an, ihr aus dem Weg zu gehen, wenn sie gegen sie stolperte, gleichgültig ob es Windsucherinnen, Frauen der Schwesternschaft oder Aes Sedai waren.

Elayne verspürte trotz der Dringlichkeit und der Gefahr das Bedürfnis zu lachen, während sie den Hügel hinabeilte, stolperte und sich wieder fing. Lini und ihre Mutter hatten ihre Besessenheit gefürchtet, über Wiesen zu laufen und auf Bäume zu klettern, seit sie zwölf Jahre alt gewesen war, aber es war nicht nur das pure Vergnügen daran, wieder zu laufen, was tief in ihr Freude aufkommen ließ. Sie hatte sich so verhalten, wie sich eine Königin verhalten sollte, und es hatte genauso funktioniert, wie es funktionieren sollte! Sie hatte die Verantwortung übernommen, Menschen aus der Gefahr zu führen, und sie folgten ihr! Ihr ganzes bisheriges Leben war die Ausbildung für diesen Augenblick gewesen. Es war Zufriedenheit, die sie lachen ließ, und die heiße Glut des Stolzes schien in ihr zu pulsieren wie die Wogen Saidars.

Sie umrundete die letzte Kurve und rannte an einer der großen, weiß getünchten Scheunen entlang. Ihr Zeh verfing sich an einem verdeckten Stein. Sie stürzte schwer vornüber, ruderte mit den Armen und schlug plötzlich kopfüber Purzelbäume durch die Luft. Sie hatte nicht einmal Zeit zu schreien. Sie landete mit einem harten Schlag, der ihr alle Luft aus den Lungen preßte, am Fuß des Pfades — unmittelbar vor Birgitte. Einen Moment lang konnte sie nicht einmal nachdenken, und als sie sich wieder gefaßt hatte, war wenig von ihrer Zufriedenheit geblieben. Soviel zu königlicher Würde. Sie strich sich das Haar aus dem Gesicht und versuchte den Atem anzuhalten, während sie auf Birgittes schneidende Bemerkung wartete. Dies war eine Gelegenheit für die andere Frau, gehörig die ältere und weisere Schwester zu spielen, und sie ließ selten eine Gelegenheit ungenutzt verstreichen.

Zu Elaynes Überraschung half Birgitte ihr auf die Beine, noch bevor Aviendha sie mit unbewegtem Gesicht erreicht hatte. Elayne konnte von ihrer Behüterin nur ein Gefühl der ... Konzentration spüren. Sie dachte, daß sich vielleicht ein Pfeil auf einer gespannten Bogensehne so anfühlte. »Laufen wir davon oder kämpfen wir?« fragte Birgitte. »Ich habe diese seanchanischen Flugwesen von Falme wiedererkannt, und um ganz ehrlich zu sein, schlage ich vor davonzulaufen. Mein Bogen ist einem solchen Gegner nicht gewachsen.« Aviendha sah sie mit gerunzelter Stirn an, und Elayne seufzte. Birgitte mußte lernen, ihre Zunge zu hüten, wenn sie wirklich verbergen wollte, wer sie war.

»Natürlich laufen wir davon«, keuchte Nynaeve, während sie sich die restliche Strecke hinabmühte. »Kämpfen oder davonlaufen! Welch törichte Frage! Glaubt Ihr, wir wären vollkommen...? Licht! Was tun sie?« Ihre Stimme wurde schrill, als sie weitersprach. »Alise! Alise, wo seid Ihr? Alise! Alise!«

Elayne erkannte bestürzt daß auf dem Bauernhof wieder eine ebenso große Aufregung herrschte wie in dem Moment, als Careanes Gesicht erkannt wurde. Vielleicht eine noch größere Aufregung. Einhundertsiebenundvierzig Frauen der Schwesternschaft wohnten zur Zeit auf dem Hof, wie Alise berichtet hatte, einschließlich vierundfünfzig Weise Frauen mit dem roten Gürtel, die vor Tagen ausgeschickt wurden, und eine Anzahl anderer, die durch die Stadt gekommen waren. Jetzt sah es so aus, als liefen alle kreuz und quer Die meisten der Diener des Tarasin-Palasts in ihren grünweißen Livreen liefen mit Lasten hierhin und dorthin. Enten und Hühner schossen mit Flügelflattern und Schreien durch den Tumult und trugen noch zu der allgemeinen Verwirrung bei. Elayne sah auch einen Behüter, Vandenes bereits ergrauenden Jaem, vorbeilaufen, die drahtigen Arme um einen großen Jutesack geschlungen!

Alise wirkte trotz des Schweißes auf ihrem Gesicht ausgeglichen und gefaßt. Jede ihrer Haarsträhnen war an ihrem Platz, und ihr Gewand sah noch so aus, als mache sie nur einen Spaziergang. »Es hat keinen Sinn zu schreien«, sagte sie ruhig und stemmte die Hände in die Hüften. »Birgitte hat mir erzählt, was es mit diesen großen Vögeln auf sich hat, und ich dachte, wir würden vielleicht besser früher als später aufbrechen, besonders als Ihr alle den Hügel herabranntet, als sei der Dunkle König selbst hinter Euch her. Ich habe allen befohlen, ein sauberes Gewand pro Person, dreimal Wäsche zum Wechseln sowie Strümpfe, Seife, Nähkörbe und alles Geld, das sie besitzen, einzupacken. Nur das. Die zehn Frauen, die als letzte fertig werden, übernehmen den Abwasch, bis wir an unserem Ziel angelangt sind. Das wird sie zur Eile antreiben. Ich habe den Dienern befohlen, für alle Fälle auch alle verfügbaren Essensvorräte zusammenzutragen. Und Euren Behütern. Die meisten sind vernünftige Burschen. Überraschend vernünftig für Männer. Verändert sie ihr Behüter-Dasein?«

Nynaeve stand mit offenem Mund da, bereit. Befehle zu erteilen, die es nicht mehr zu erteilen gab. Ihre Empfindungen spiegelten sich zu rasch auf ihrem Gesicht, um sie zurückzuhalten. »Sehr gut«, murmelte sie schließlich verärgert. Aber plötzlich strahlte sie. »Die Frauen, die nicht zur Schwesternschaft gehören. Ja! Sie müssen...«

»Beruhigt Euch«, fiel Alise ihr ins Wort. »Die meisten sind bereits gegangen. Hauptsächlich jene, die Ehemänner oder Familien haben, um die sie sich sorgen. Ich hätte sie nicht zurückhalten können, selbst wenn ich es gewollt hätte. Aber gut dreißig von ihnen halten jene Vögel tatsächlich für Schattengezücht und wollen so nahe wie möglich bei den Aes Sedai bleiben.« Ein scharfes Schnauben unterstrich, wie sie darüber dachte. »Nun faßt Euch wieder. Trinkt etwas kühles Wasser. Nur nicht zu hastig. Und spritzt Euch auch etwas ins Gesicht. Ich muß ein Auge auf alles haben.« Sie ließ ihren Blick über die hastige Geschäftigkeit gleiten und schüttelte den Kopf. »Einige würden sich sogar Zeit lassen, wenn Trollocs über den Hügel kämen, und die meisten adligen Frauen gewöhnen sich niemals richtig an unsere Regeln. Ich muß zwei oder drei von ihnen vor unserem Aufbruch noch einmal daran erinnern.« Mit diesen Worten schritt sie heiter in das Gedränge auf dem Hof und ließ Nynaeve mit offenem Mund zurück.

»Nun«, sagte Elayne und strich über ihre Röcke, »du sagtest sie sei sehr fähig.«

»Das habe ich niemals gesagt«, fauchte Nynaeve. »Ich habe niemals ›sehr‹ gesagt. Pah! Wo ist mein Hut hingeraten? Sie glaubt, sie wüßte alles. Ich wette, daß sie das nicht weiß!« Sie stürmte in eine andere Richtung als Alise davon.

Elayne sah ihr verwundert nach. Ihr Hut? Sie hätte auch gern gewußt, wo ihr eigener Hut hingeraten war — es war ein wunderschöner Hut —, aber wirklich! Vielleicht war Nynaeves Geist dadurch, daß sie in einem Kreis von Mächtigen gewesen war und dabei ein Angreal benutzt hatte, zeitweilig erschüttert worden. Sie fühlte sich auch selbst ein wenig seltsam, als könnte sie kleine Stücke Saidar aus der Luft um sich herum pflücken. Aber im Moment mußte sie sich um andere Dinge kümmern. Wie zum Beispiel, sich zum Aufbruch bereitzumachen, bevor die Seanchaner kamen. Nach allem, was sie in Falme gesehen hatte, könnten sie tatsächlich hundert oder mehr Damane heranbringen, und ausgehend von dem wenigen, was Egwene über ihre Gefangenschaft verlauten ließ, wären die meisten dieser Frauen tatsächlich bereit, andere Frauen koppeln zu helfen. Sie hatte erzählt, daß der Anblick, wie die Damane der Seanchaner mit ihren Sul'dam lachten und sie umschmeichelten, sie am meisten abgestoßen hatte, gut dressierte Hunde mit ihren selbstgefälligen Abrichtern. Einige der in Falme gekoppelten Frauen seien genauso gewesen. Diese Vorstellung ließ Elaynes Blut gefrieren. Sie würde eher sterben als zulassen, daß man sie koppelte! Und sie würde eher den Verlorenen als den Seanchanern überlassen, was sie gefunden hatte. Sie lief zu der Zisterne, und Aviendha neben ihr keuchte fast ebenso sehr wie sie selbst. Anscheinend hatte Alise jedoch wirklich an alles gedacht. Die Ter'angreale waren bereits auf den Packpferden verstaut. Die noch nicht durchsuchten Tragkörbe blieben voller durcheinandergerüttelter, noch unbekannter Gegenstände, aber die Tragekörbe, die Aviendha und sie geleert hatten, waren jetzt von groben Säcken Mehl und Salz, Bohnen und Linsen ausgebeult. Eine Handvoll Stallburschen kümmerte sich um die Packpferde, anstatt mit Lasten umherzulaufen. Zweifellos auf Alises Befehl hin. Selbst Birgitte trabte mit einem kläglichen Grinsen auf Anweisungen der Frau davon!

Elayne hob die Segeltuchabdeckungen an, um die Ter'angreale so gut wie möglich zu überprüfen, ohne sie wieder auszupacken. Anscheinend war alles da, ein wenig wahllos in zwei Tragkörbe geworfen, die beide nicht voll waren, aber es war nichts zerbrochen. Natürlich konnte nur etwas der Einen Macht selbst sehr Nahekommendes die meisten Ter'angreale zerbrechen, aber dennoch...

Aviendha setzte sich mit gekreuzten Beinen auf den Boden und tupfte sich mit einem großen, einfachen Leinentaschentuch, das überhaupt nicht zu ihrem hübschen Seidenreitgewand paßte, den Schweiß vom Gesicht. Selbst sie begann Anzeichen von Erschöpfung zu zeigen. »Was murmelst du vor dich hin, Elayne? Du klingst wie Nynaeve. Diese Alise hat uns nur die Mühe erspart, die Gegenstände selbst einzupacken.«

Elayne errötete leicht. Sie hatte nicht laut sprechen wollen. »Ich will einfach nicht, daß jemand damit umgeht, der nicht weiß, was sie bewirken können, Aviendha.« Einige Ter'angreale konnten sogar Menschen, die nicht die Macht lenken konnten, beeinträchtigen, wenn sie falsch handelten, aber in Wahrheit wollte sie, daß niemand sie handhaben sollte. Sie gehörten ihr! Der Saal würde sie nicht einer anderen Schwester übergeben, nur weil sie älter und erfahrener war, oder sie verbergen, weil es zu gefährlich war, Ter'angreale zu untersuchen. Bei so vielen Studienobjekten konnte sie vielleicht endlich herausfinden, wie man Ter'angreale schuf, die immer funktionierten. Es hatte bei weitem zu viele Mißerfolge und halbe Erfolge gegeben. »Sie brauchen jemanden, der weiß, was er tut«, sagte sie und schlug die Segeltuchabdeckung wieder zu.

Der Tumult wurde schneller wieder zur Ordnung, als Elayne erwartet hatte, obwohl auch wieder nicht ganz so schnell, wie sie sich wünschte. Natürlich hätte, wie sie zugeben mußte, nur Unverzüglichkeit ihren Wünschen entsprechen können. Sie konnte den Blick nicht vom Himmel lösen und schickte Careane eilig auf den Hügel zurück, um die Strecke nach Ebou Dar zu beobachten. Die stämmige Grüne grollte leise etwas, bevor sie einen Hofknicks vollführte, und sah sogar die umhereilenden Frauen der Schwesternschaft stirnrunzelnd an, als wollte sie statt ihrer eine von ihnen vorschlagen, aber Elayne wollte jemanden für diese Aufgabe haben, der nicht beim Anblick von herannahendem Schattengezücht in Ohnmacht fiel, und Careane bekleidete unter den Schwestern den niedrigsten Rang. Adeleas und Vandene führten Ispan heraus, fest abgeschirmt und den Ledersack wieder über den Kopf gestülpt. Sie ging recht leicht, und es war nicht zu erkennen, daß überhaupt etwas mit ihr gemacht worden war, aber... Ispan hielt die Hände an der Taille gefaltet und versuchte nicht einmal, den Sack anzuheben, um darunter hervorzuspähen, und als ihr auf einen Sattel geholfen wurde, streckte sie sogar die Handgelenke aus, damit sie am Sattelknauf festgebunden werden konnten, ohne daß man es ihr befohlen hätte. Wenn sie so bereitwillig war, hatten sie vielleicht etwas von ihr erfahren. Elayne wollte einfach nicht darüber nachdenken, wie ihnen das gelungen sein mochte. Es gab natürlich sozusagen ... Zusammenstöße, ungeachtet dessen, was auf sie zukommen mochte. Daß Nynaeve ihren mit blauen Federn versehenen Hut zurückbekam, war kein wirklicher Zusammenstoß, obwohl es fast einer wurde. Alise hatte ihn tatsächlich gefunden und gab ihn Nynaeve zurück, wobei sie ihr riet, ihr Gesicht vor der Sonne zu schützen, wenn sie ihre hübsche glatte Haut behalten wollte. Nynaeve sah der Frau mit offenem Munde nach, die davoneilte, um sich wieder um die Vorbereitungen zu kümmern, und schob den Hut dann demonstrativ unter einen Riemen ihrer Satteltaschen.

Nynaeve versuchte von Anfang an, die Zusammenstöße zu mildern, aber Alise war fast immer zuerst da, und wo Alise einem Zusammenstoß begegnete, milderte er sich von selbst. Mehrere adlige Frauen forderten Hilfe beim Packen ihrer Habe. Ihnen wurde nur beschieden, daß sie gemeint hatte, was sie gesagt hatte, und daß sie die Konsequenzen tragen müßten, wenn sie sich nicht beeilten. Sie beeilten sich. Einige, und nicht nur Adlige, änderten ihre Meinung zum Aufbruch, als sie erfuhren, daß ihr Ziel Andor war, doch sie wurden buchstäblich davongejagt. Zu Fuß und mit der Empfehlung weiterzulaufen, solange ihre Füße sie trugen. Jedes Pferd wurde gebraucht, aber sie sollten einen guten Vorsprung haben, bevor die Seanchaner auftauchten. Es stand mindestens zu erwarten, daß sie jedermann in der Nähe des Bauernhofs befragten. Wie ebenfalls zu erwarten stand, ließ sich Nynaeve mit Renaile auf ein Wortgefecht um die Schale und die Schildkröte ein, die Talaan benutzt hatte und die Renaile offensichtlich hinter ihre Schärpe gesteckt hatte. Sie hatten jedoch kaum begonnen, ihre Worte mit Gesten zu bekräftigen, als Alise auftauchte. Kurz darauf befanden sich die Schale wieder in Sareithas und die Schildkröte in Merililles Obhut, woraufhin Elayne der Anblick gegönnt wurde, wie Alise einen Finger unter der Nase der erstaunten Windsucherin der Herrin der Schiffe der Atha'an Miere schüttelte und eine Schimpftirade zum Thema Diebstahl über sie ergoß, die Renaile entrüstete. Nynaeve zeigte auch ein wenig Entrüstung, als sie mit leeren Händen davonging, aber Elayne dachte, sie hätte noch niemals jemanden gesehen, der so verlassen gewirkt hatte.

Alles in allem dauerte dies jedoch nicht sehr lange.

Die noch auf dem Bauernhof verbliebenen Frauen versammelten sich unter den wachsamen Blicken des Frauenzirkels — und Alises, die sich die letzten zehn, die eintrafen, genau merkte, von denen alle außer zweien in kunstvoll bestickte Seide gekleidet waren und sich nicht wesentlich von Elayne unterschieden. Sie waren gewiß keine Frauen der Schwesternschaft. Elayne hatte das sichere Gefühl, daß sie tatsächlich den Abwasch würden machen müssen. Alise würde sich durch nichts, auch nicht durch Kleinigkeiten wie eine adlige Geburt, von der Durchsetzung ihrer Ankündigung abhalten lassen. Die Windsucherinnen stellten sich bis auf Renaile, die Verwünschungen murmelte, wann immer sie Alise sah, überraschend still mit ihren Pferden auf. Careane wurde vom Hügelkamm zurückgerufen. Die Behüter brachten den Schwestern ihre Pferde. Fast alle beobachteten den Himmel. Saidar schimmerte um alle älteren Aes Sedai und die Windsucherinnen und auch um einige Frauen der Schwesternschaft.

Während Nynaeve ihre Stute an den Anfang der Reihe zur Zisterne führte, betastete sie das sich noch immer um ihre Hand schmiegende Angreal, als wollte sie diejenige sein, die das Wegetor gestaltete, so lächerlich der bloße Gedanke auch sein mochte. Schließlich war sie noch immer unsicher, wenn ihr die Selbstbeherrschung entglitt. Lan blieb stets in ihrer Nähe, mit der üblichen starren Miene, und wenn jemals ein Mann bereit war, eine Frau aufzufangen, wenn sie fiel, dann war er es. Nynaeve hätte vielleicht selbst mit dem Armband und den Ringen nicht genug Macht heranziehen können, um ein Wegetor zu gestalten. Und was noch wichtiger war — sie war auf dem Bauernhof umhergeeilt, seit sie angekommen waren, während Elayne erhebliche Zeit darauf verwendet hatte, Saidar genau dort festzuhalten, wo sie jetzt standen. Sie kannte diesen Fleck. Nynaeve runzelte verdrießlich die Stirn, als Elayne die Quelle umarmte, aber sie besaß zumindest genug Verstand zu schweigen.

Elayne hatte vom ersten Augenblick an gewünscht, sie hätte die Figur der in ihr Haar gehüllten Frau von Aviendha zurückerbeten. Sie war erschöpft, und alles Saidar, das sie heranziehen konnte, reichte kaum aus, um das Gewebe so zu gestalten, daß es halten würde. Die Stränge bebten in ihrem Griff fast so, als versuchten sie, sich frei zu winden, und dann rückten sie so jäh an ihren Platz, daß sie zusammenzuckte. Die Macht zu lenken, wenn man erschöpft war, war überhaupt nicht so wie sonst, aber dies war das Schlimmste, was sie in dieser Hinsicht je erlebt hatte. Zumindest erschien der vertraute senkrechte Schlitz, wie er sein sollte, und verbreiterte sich direkt an der Zisterne entlang zu einer Öffnung. Eine Öffnung, die nicht größer war als diejenige, die Aviendha gestaltet hatte, aber Elayne war dankbar, daß sie zumindest ausreichend groß war, daß ein Pferd hindurchgelangen konnte. Sie war nicht sicher gewesen, daß ihr dies gelingen würde. Einige Frauen der Schwesternschaft keuchten beim Anblick einer Hochlandwiese, die sich plötzlich zwischen ihnen und der vertrauten grauen Masse der Zisterne erstreckte.

»Du hättest es mich versuchen lassen sollen«, sagte Nynaeve leise, aber auch tadelnd. »Du hättest beinahe alles durcheinandergebracht.«

Aviendha warf Nynaeve einen eindeutigen Blick zu, der Elayne fast veranlaßte, ihren Arm zu ergreifen. Je länger sie Nächstschwestern waren, desto häufiger dachte sie anscheinend, sie müßte Elaynes Ehre verteidigen. Wenn sie Erstschwestern wurden, mußte Elayne dafür sorgen, daß sie sich von Nynaeve und Birgitte fernhielt!

»Es ist vollbracht, Nynaeve«, sagte sie rasch. »Das allein zählt.« Nynaeve warf ihr ebenfalls einen eindeutigen Blick zu und murmelte etwas darüber, daß der Tag schwierig sei, als wäre Elayne diejenige, die ihre schnippische Seite zeigte.

Birgitte führte ihr Pferd als erste durch das Wegetor, ihren Bogen in der anderen Hand und Lan schamlos anlächelnd. Elayne konnte ihren Eifer spüren, eine Spur Zufriedenheit darüber, daß vielleicht dieses Mal sie und nicht Lan die Führung innehatte — zwischen Behütern bestand stets eine gewisse Rivalität —, sowie eine Spur Wachsamkeit. Aber nur wenig. Elayne kannte diese Wiese gut. Gareth Bryne hatte ihr nicht weit davon das Reiten beigebracht. Ungefähr fünf Meilen jenseits dieser ersten spärlich mit Bäumen bewachsenen Hügel lag das Gutshaus einer der Ländereien ihrer Mutter. Eine ihrer eigenen Ländereien, woran sie sich noch gewöhnen mußte. Die sieben Familien, die sich um das Haus und das Land kümmerten, waren in jeder Richtung einen halben Tagesritt weit die einzigen Menschen.

Elayne hatte dieses Ziel erwählt, weil sie Caemlyn von hier aus in zwei Wochen erreichen konnten. Zudem war das Gut so abgelegen, daß sie Caemlyn vielleicht betreten konnte, bevor jemand wußte, daß sie sich in Andor befand. Das konnte sich als überaus notwendige Vorsichtsmaßnahme erweisen. Rivalen um die Rosenkrone waren in Andors Geschichte zu verschiedenen Zeiten als ›Gäste‹ festgehalten worden, bis sie ihre Ansprüche aufgaben. Ihre Mutter hatte selbst zwei solche Rivalen festgehalten, bis sie den Thron einnahm. Mit etwas Glück könnte Elayne eine solide Basis geschaffen haben, wenn Egwene und die anderen eintrafen.

Lan führte Mandarb direkt hinter Birgittes braunem Wallach her, und Nynaeve schwankte, als wollte sie dem schwarzen Schlachtroß hinterhereilen, riß sich aber dann mit unbewegtem Blick, der Elayne zu schweigen gebot, zusammen. Sie machte sich zornig an ihren Zügeln zu schaffen, sichtlich bemüht, irgendwo anders hinzuschauen als durch das Wegetor und hinter Lan her. Ihre Lippen bewegten sich. Kurz darauf erkannte Elayne, daß sie zählte.

»Nynaeve«, sagte sie leise, »wir haben wirklich keine Zeit für...«

»Geht weiter!« rief Alise von hinten, und ihr Händeklatschen unterstrich ihre Worte hörbar. »Kein Drängen oder Schieben jetzt, aber auch kein Trödeln!

Geht weiter!.«

Nynaeve wandte heftig den Kopf, und quälende Unentschlossenheit prägte ihre Züge. Sie berührte aus einem unbestimmten Grund ihren breiten Hut, auf dem einige Federn gebrochen waren und herabhingen, bevor sie die Hand wieder fortnahm. »Oh, dieser verdammte alte...!« grollte sie, aber ihre restlichen Worte verloren sich, während sie ihre Stute durch das Wegetor zog. Elayne schnaubte. Und Nynaeve besaß die Frechheit, sich bei jedermann über ihrer aller Ausdrucksweise auszulassen! Sie wünschte jedoch, sie hätte die restlichen Worte auch hören können. Den Anfang kannte sie bereits.

Alise drängte sie weiterhin, aber nach dem ersten Mal schien es nicht mehr nötig zu sein. Selbst die Windsucherinnen beeilten sich, während sie über die Schultern besorgt den Himmel betrachteten, und sogar Renaile, die etwas über Alise murmelte, was Elayne nur unbewußt registrierte. Obwohl es vergleichsweise milde klang, jemanden einen ›Fische liebenden Aasfresser‹ zu nennen. Sie hatte eigentlich erwartet, daß das Meervolk täglich Fisch aß.

Alise selbst brachte die Nachhut heran, bis auf die verbliebenen Behüter, als wollte sie sogar die Packpferde vorwärts drängen. Sie hielt ausreichend lange inne, um Elayne ihren mit grünen Federn geschmückten Hut zu reichen. »Ihr werdet die Sonne von Eurem hübschen Gesicht fernhalten wollen«, sagte sie mit einem Lächeln. »Solch ein hübsches Mädchen. Eure Haut sollte nicht vorzeitig ledrig werden.«

Aviendha, die neben ihr auf dem Boden saß, fiel hintenüber und ruderte lachend mit den Beinen.

»Ich glaube, ich werde sie bitten, dir einen Hut zu besorgen. Mit vielen Federn und Verbeugungen«, sagte Elayne mit süßer Stimme, bevor sie der Frau der Schwesternschaft rasch folgte. Das brachte Aviendha sofort zum Schweigen.

Die sich sanft wölbende große Wiese war von höheren Hügeln umgeben als jene, die sie verlassen hatten. Die hiesigen Hügel waren von ihr bekannten Bäumen bestanden, Eiche und Kiefer und Schwarzholz, Tupelobaum und Lederblatt und Föhre, dichter Wald mit gesunden, hohen Stämmen im Süden und Westen und Osten, obwohl dieses Jahr vielleicht keine Bäume gefällt würden. Die meisten der eher verstreut stehenden Bäume im Norden, auf das Gutshaus zu, waren besser für Feuerholz geeignet. Kleine graue Felsen sprenkelten das dichte braune Gras hier und dort, und nicht einmal ein verwelkter Stengel bezeichnete den Tod einer Wildblume. Das unterschied sich nicht wesentlich vom Süden.

Dieses eine Mal spähte Nynaeve nicht in die sie umgebende Landschaft, um Lan zu finden. Er und Birgitte wären ohnehin nicht lange fort, nicht hier. Statt dessen schritt sie energisch zwischen den Pferden aus, befahl den Frauen mit herrischer Stimme aufzusteigen, hetzte die Diener mit den Packpferden voran, belehrte die Frauen der Schwesternschaft, die keine Pferde hatten, kurz angebunden, daß jedes Kind fünf Meilen laufen konnte, und schrie eine schlanke altarenische Adlige mit einer Narbe auf der Wange und einem Bündel in den Armen, das fast so groß war wie sie selbst, an, daß sie, wenn sie töricht genug gewesen sei, alle ihre Kleider mitzubringen, diese auch tragen könne. Alise hatte die Atha'an Miere um sich versammelt und unterwies sie darin, wie man ein Pferd bestieg. Es war ein Wunder, daß sie anscheinend tatsächlich aufpaßten. Nynaeve schaute in ihre Richtung und schien erfreut, Alise ruhig auf einem Fleck stehen zu sehen, bis Alise ihr ermutigend zulächelte und ihr bedeutete, mit ihrer Arbeit fortzufahren.

Nynaeve stand einen Moment stocksteif da und starrte die Frau an. Dann kam sie durch das Gras auf Elayne zu. Sie griff mit beiden Händen nach ihrem Hut, zögerte, sah durch die Wimpern zu Elayne hoch und rückte den Hut erst dann unwirsch zurecht. »Dieses Mal werde ich alles ihr überlassen«, sagte sie in verdächtig vernünftigem Tonfall. »Wir werden ja sehen, wie gut sie mit diesen ... Meervolkleuten zurechtkommt. Ja, das werden wir«, wiederholte sie in entschieden zu vernünftigem Tonfall. Dann betrachtete sie plötzlich stirnrunzelnd das noch geöffnete Wegetor. »Warum hältst du es noch fest? Laß es los.« Aviendha runzelte ebenfalls die Stirn.

Elayne atmete tief durch. Sie hatte darüber nachgedacht, und es gab keine andere Möglichkeit, aber Nynaeve würde es ihr auszureden versuchen, und es war keine Zeit zu streiten. Der durch das Wegetor sichtbare Hof war verlassen. Sogar die Hühner waren durch den Tumult schließlich vertrieben worden, aber wie lange würde es dauern, bis der Hof wieder lebendig würde? Sie betrachtete ihr Gewebe und ließ es dann so ruhig verschmelzen, daß nur wenige Fäden ausgeprägt blieben. Sie konnte natürlich alle Stränge sehen, aber bis auf jene wenigen schienen sie untrennbar verbunden. »Bring alle zum Gutshaus, Nynaeve«, sagte sie. Die Sonne würde bald untergehen. Ihnen blieben vielleicht noch zwei Stunden Tageslicht. »Meister Hornwell wird über so viele in der Dunkelheit eintreffende Besucher überrascht sein, aber sagt ihm, ihr wart Gäste des Mädchens, das wegen des Feuertanagra mit dem gebrochenen Flügel geweint hat. Er wird sich daran erinnern. Ich werde nachkommen, sobald ich kann.«

»Elayne«, begann Aviendha mit überraschend ängstlicher Stimme, und Nynaeve sagte gleichzeitig: »Was glaubst du eigentlich, was du...«

Es gab nur eine Möglichkeit, dem Einhalt zu gebieten. Elayne zog einen der unterscheidbaren Fäden aus dem Gewebe heraus. Er flimmerte und bewegte sich wie ein lebendiger Tentakel, zerfaserte und zischte. Winzige Flocken Saidar spalteten sich ab und verblaßten. Sie hatte das nicht bemerkt, als Aviendha ihr Gewebe aufgelöst hatte, aber sie hatte auch nur den Rest der Auflösung gesehen. »Geh nur«, wies sie Nynaeve an. »Ich werde warten, bis ihr alle außer Sicht seid.« Nynaeve sah betrübt vor sich hin. »Es muß sein«, seufzte Elayne. »Die Seanchaner werden gewiß innerhalb von Stunden auf dem Bauernhof eintreffen. Und selbst wenn sie bis morgen warten —was ist, wenn eine der Damane das Talent besitzt, Rückstände des Wegetors zu deuten? Nynaeve, ich werde den Seanchanern keinesfalls das Schnelle Reisen überlassen. Das werde ich nicht tun!«

Nynaeve äußerte leise grollend etwas über die Seanchaner, was ihrem Tonfall nach zu urteilen besonders drastisch gewesen sein mußte. »Nun, und ich werde nicht zulassen, daß du dich ausbrennst!« sagte sie laut. »Jetzt mach das rückgängig! Bevor das Ganze explodiert, wie Vandene sagte. Du wirst uns alle töten!«

»Es kann nicht rückgängig gemacht werden«, sagte Aviendha und legte eine Hand auf Nynaeves Arm. »Sie hat es angefangen, und jetzt muß sie es beenden. Du mußt tun, was sie sagt, Nynaeve.«

Nynaeve senkte die Augenbrauen. ›Muß‹ war ein Wort, das sie auf sich gemünzt gar nicht mochte. Sie war jedoch keine Närrin, so daß sie nach mehreren Blicken — auf Elayne, auf das Wegetor, auf Aviendha, auf die Welt im allgemeinen — die Arme um Elayne schlang und sie heftig an sich drückte.

»Sei vorsichtig, hörst du?« flüsterte sie. »Wenn du dich töten läßt, schwöre ich, daß ich dir bei lebendigem Leibe die Haut abziehen werde!« Elayne brach trotz allem in Lachen aus. Nynaeve schnaubte und schob sie an den Schultern auf Armeslänge von sich. »Du weißt, was ich meine«, grollte sie. »Und denk nicht, daß ich spaße, denn ich meine es durchaus ernst! Ich meine es ernst«, fügte sie sanfter hinzu.

»Paß auf dich auf.«

Es dauerte einen Moment, bis Nynaeve sich wieder gefaßt hatte. Sie blinzelte und straffte ihre blauen Reithandschuhe. Tränen schimmerten kaum wahrnehmbar in ihren Augen, obwohl das eigentlich nicht sein konnte. Nynaeve brachte andere Menschen zum Weinen, weinte aber selbst nicht. »Also dann«, verkündete sie laut. »Alise, wenn noch nicht alle bereit sind...« Sie wandte sich um und brach erstickt ab.

Alle, die inzwischen aufgestiegen sein sollten, waren tatsächlich aufgestiegen, selbst die Atha'an Miere. Die Behüter waren um die anderen Schwestern versammelt. Lan und Birgitte waren zurückgekehrt, und Birgitte beobachtete Elayne besorgt. Die Diener hatten die Packpferde in einer Reihe aufgestellt, und die Frauen der Schwesternschaft warteten geduldig. Die meisten von ihnen waren zu Fuß. Eine Anzahl Pferde, die zum Reiten hätten verwendet werden können, waren mit Säcken voller Nahrung und Bündeln Habe beladen. Frauen, die mehr mitgenommen hatten, als Alise erlaubt hatte — keine Frauen der Schwesternschaft — trugen ihre Bündel auf dem Rücken. Die schlanke Adlige mit der Narbe war durch ihre Last stark vornüber gebeugt und vermied es, Alise anzusehen. Alle Frauen, welche die Macht lenken konnten, betrachteten das Wegetor. Und alle Frauen, die Vandene von den Gefahren hatten sprechen hören, beobachteten den einzelnen zuckenden Faden, wie sie eine rote Viper beobachtet hätten.

Alise selbst brachte Nynaeve ihr Pferd und richtete ihren Hut mit den blauen Federn, während Nynaeve einen Fuß in den Steigbügel setzte. Nynaeve wandte die gedrungene Stute nordwärts, wobei sie eine zutiefst gekränkte Miene aufsetzte, während Lan auf Mandarb neben sie ritt. Elayne verstand nicht, warum sie Alise nicht einfach zurechtwies. Wenn man Nynaeves Erzählungen glauben durfte, hatte sie Frauen, die älter waren als sie, bereits in frühestem Alter zurechtgewiesen. Und sie war jetzt immerhin eine Aes Sedai. Das sollte sie jeder Frau der Schwesternschaft weit überlegen machen.

Als die Kolonne zu den Hügeln aufbrach, schaute Elayne zu Aviendha und Birgitte. Aviendha stand schweigend da, die Arme unter den Brüsten verschränkt, und hielt das Angreal der in ihr Haar gehüllten Frau mit einer Hand fest umklammert. Birgitte nahm Elayne Löwins Zügel ab, band sie mit denen ihres eigenen Pferdes zusammen, ging dann zu einem zwanzig Schritt entfernten Felsen und setzte sich hin.

»Ihr beide müßt...«, begann Elayne und hustete dann, als Aviendha überrascht die Augenbrauen wölbte. Es war unmöglich, Aviendha aus einem Gefahrengebiet fortzuschicken, ohne sie zu beschämen. Vielleicht war es überhaupt unmöglich. »Ich möchte, daß du mit den anderen gehst«, sagte sie zu Birgitte. »Und nimm Löwin auch mit. Aviendha und ich können uns auf ihrem Wallach abwechseln. Ich würde gern vor dem Schlafengehen noch einen Spaziergang machen.«

»Wenn du einen Mann jemals auch nur halb so gut behandelst wie dieses Pferd«, sagte Birgitte trocken, »wird er dir ein Leben lang treu sein. Ich glaube, ich werde einfach eine Weile sitzen bleiben. Ich bin heute lange genug geritten. Ich stehe dir nicht ständig zur Verfügung. Wir können das Spiel vor den Schwestern und den anderen Behütern spielen, um dir eine gewisse Verlegenheit zu ersparen, aber wir beide wissen es besser.« Elayne spürte trotz der spöttischen Worte Birgittes Zuneigung. Nein, etwas Stärkeres als Zuneigung. Ihre Augen brannten plötzlich. Ihr Tod würde Birgitte zutiefst verletzen — der Behüterbund sorgte dafür —, aber jetzt blieb sie wegen ihrer Freundschaft.

»Ich bin dankbar, zwei Freundinnen wie euch zu haben«, sagte sie schlicht. Birgitte grinste sie an, als hätte sie etwas Spaßiges gesagt.

Aviendha errötete jedoch vor Zorn und starrte Birgitte mit geweiteten Augen an, als sei die Gegenwart der Behüterin die Ursache für ihre geröteten Wangen. Sie wandte den Blick hastig zu den Menschen, die den ersten Hügel noch nicht erreicht hatten und noch ungefähr eine halbe Meile davon entfernt waren. »Du solltest besser warten, bis sie außer Sicht sind«, sagte sie, »aber du darfst auch nicht zu lange warten. Wenn du mit der Auflösung erst begonnen hast, werden die Stränge nach einiger Zeit allmählich ... glatt. Einen Strang loszulassen, bevor er sich aus dem Gewebe gelöst hat, ist genauso, als würde man das Gewebe loslassen. Es wird dann zu etwas Beliebigem zerfallen. Aber du brauchst dich auch nicht sonderlich zu beeilen. Jeder Faden muß so weit frei gezogen werden wie möglich. Je mehr Fäden sich lösen, desto leichter werden andere zu sehen sein, aber du mußt stets den am besten sichtbaren Faden herauspicken.« Sie lächelte herzlich und drückte ihre Finger fest auf Elaynes Wange. »Du wirst es richtig machen, wenn du vorsichtig bist.«

Es klang nicht so schwierig. Sie mußte nur vorsichtig sein. Es dauerte ziemlich lange, bis die letzte Frau über dem Hügel verschwand, die schlanke Adlige, die unter der Last ihrer Kleider gebeugt ging. Die Sonne schien überhaupt nicht untergehen zu wollen, obwohl schon Stunden vergangen sein mußten. Was hatte Aviendha mit ›glatt‹ gemeint? Das Wort hatte nicht so viele Bedeutungen — es mußte wohl lediglich bedeuten, daß die Stränge dann schwer festzuhalten waren.

Elayne fand es heraus, sobald sie erneut begann. ›Glatt‹ war ein lebendiger Aal, wenn man ihn mit Öl einrieb. Sie knirschte schon bei dem Versuch, den ersten Faden festzuhalten, mit den Zähnen, und dann sollte sie ihn auch noch herausziehen. Nur die Tatsache, daß es noch weitere zu lösen galt hinderte sie daran, erleichtert aufzuseufzen, als der Strang zu zücken begann und sich schließlich löste. Würden sie noch glatter, war sie sich nicht sicher, daß sie es schaffen könnte. Aviendha beobachtete sie genau, schwieg aber, obwohl sie Elayne stets ermutigend zulächelte, wenn diese es brauchte. Elayne konnte Birgitte nicht sehen — sie wagte es nicht, den Blick von ihrer Arbeit abzuwenden —, und doch konnte sie Birgitte spüren, als kleine Ansammlung felsenfesten Vertrauens in ihrem Kopf, genug Vertrauen, daß es sie erfüllte.

Schweiß lief ihr über das Gesicht, den Rücken und den Bauch hinab, bis sie sich auch selbst ›glatt‹ zu fühlen begann. Ein Bad wäre heute abend höchst willkommen. Nein, daran durfte sie jetzt nicht denken. Alle Aufmerksamkeit mußte den Fäden gelten. Sie zitterten in ihrem Griff, sobald sie einen berührte, aber sie lösten sich noch immer, und jedesmal, wenn ein Faden zu zucken begann, schien sich ein weiterer aus der Masse zu losen, zu plötzlich, um deutlich erkennbar zu sein, da zuvor nur eine feste Masse Saidar dagewesen war. Aus ihrem Blickwinkel erinnerte das Wegetor an ein schreckliches, verzerrtes Wesen am Grund eines Teichs, von zuckenden Ranken umgeben, die wuchsen, sich wanden und verschwanden, nur um durch neue ersetzt zu werden. Die für jedermann sichtbare Öffnung dehnte sich an den Rändern und veränderte beständig ihre Gestalt und sogar die Größe. Elaynes Beine begannen zu zittern, und die Anstrengung beeinträchtigte ihr Sehvermögen ebenso wie der Schweiß. Sie wußte nicht, wieviel länger sie noch weitermachen konnte. Sie biß die Zähne zusammen und kämpfte. Ein Faden nach dem anderen. Ein Faden nach dem anderen...

Tausend Meilen entfernt, weniger als hundert Schritt durch das zitternde Wegetor, rannten Dutzende von Soldaten um die weißen Gebäude des Bauernhofs herum, kleine Männer mit Armbrusten, braunen Brustharnischen und bemalten Helmen, die wie die Köpfe riesiger Insekten aussahen. Hinter ihnen kam eine Frau mit roten Abzeichen, einem Silberblitz auf den Röcken und einem Armband um ihr Handgelenk; die daran befestigte silberne Koppel war mit dem Band um den Hals einer Frau in Grau verbunden. Danach kamen eine weitere Sul'dam und ihre Damane und noch ein weiteres Paar. Eine der Sul'dam deutete auf das Wegetor, und plötzlich umhüllte das Schimmern Saidars ihre Sul'dam.

»Runter!« schrie Elayne und ließ sich rückwärts fallen, außer Sicht des Bauernhofs, als ein silberblauer Blitz mit ohrenbetäubendem Brüllen durch das Wegetor schoß und sich wild in alle Richtungen ausbreitete. Ihre Haare sträubten sich. Alle Strähnen versuchten sich einzeln aufzurichten, und donnernde Erdfontänen brachen auf, wo immer einer der Ausläufer des Blitzes auftraf. Erde und Steine regneten auf sie herab.

Elaynes Hörvermögen kehrte jäh zurück, und sie nahm die Stimme eines Mannes von der anderen Seite der Öffnung in undeutlichem, gedehntem Tonfall wahr, der ihr ebenso eine Gänsehaut verursachte wie die Worte. »...müßt sie lebend gefangennehmen, ihr Narren!«

Plötzlich sprang einer der Soldaten unmittelbar vor ihr auf die Wiese. Birgittes Pfeil bohrte sich durch die auf seinen Lederbrustharnisch gepreßte Faust. Ein zweiter seanchanischer Soldat stolperte über den ersten, als dieser hinfiel, und Aviendhas Gürteldolch stak bereits in seiner Kehle, bevor er sich wieder aufrappeln konnte. Ein Pfeilhagel wurde von Birgittes Bogen abgeschossen. Sie hatte einen Stiefel auf die Zügel ihres Pferdes gestellt und lächelte grimmig, während sie schoß. Die Pferde warfen zitternd die Köpfe hoch und tänzelten, als wollten sie sich losreißen und davonlaufen, aber Birgitte stand nur da und schoß, so schnell sie die Pfeile einlegen konnte. Schreie von jenseits des Wegetors zeigten an, daß Birgitte Silberbogen noch immer mit jedem abgeschossenen Pfeil traf. Die Antwort erfolgte, schnell wie ein schlechter Gedanke. Schwarze Striche, Armbrustpfeile. So rasch, alles geschah so rasch. Aviendha fiel zu Boden, Blut lief über die Finger, die ihren rechten Arm umklammerten, aber sie ließ ihre Wunde sofort wieder los, kroch vorwärts, suchte auf dem Boden mit angespanntem Gesicht nach dem Angreal. Birgitte schrie auf. Sie ließ den Bogen fallen und umfaßte ihren rechten Oberschenkel, aus dem ein Pfeil ragte. Elayne spürte den Schmerz so stark, als wäre es ihr eigener.

Sie ergriff in ihrer halb auf dem Rücken liegenden Stellung verzweifelt einen weiteren Faden des Gewebes. Und erkannte nach einem Zug entsetzt, daß sie nicht mehr tun konnte, als ihn nur festzuhalten. Hatte sich der Faden bewegt? Hatte er sich überhaupt ein Stück gelöst? Wenn dem so war, wagte sie ihn nicht loszulassen. Der Faden zitterte in ihrem Griff.

»Lebend, sagte ich!« brüllte die seanchanische Stimme. »Niemand, der eine Frau tötet, bekommt etwas von dem erbeuteten Gold!« Der Regen von Armbrustpfeilen hörte auf.

»Ihr wollt mich gefangennehmen?« rief Aviendha. »Dann kommt und tanzt mit mir!« Jäh war sie vom Schimmern Saidars umgeben, selbst mit dem Angreal noch schwach, und Feuerkugeln sprangen vor dem Wegetor auf und stoben immer wieder hindurch. Keine sehr großen Kugeln, aber die Wucht des Aufpralls in Altara war beständig zu hören. Aviendha keuchte jedoch vor Anstrengung, und ihr Gesicht glänzte vor Schweiß. Birgitte hatte ihren Bogen wieder aufgenommen, jeder Zoll die Heldin der Legende. Während Blut ihr Bein hinablief und sie kaum stehen konnte, hatte sie schon wieder einen Pfeil halbwegs herausgezogen und suchte nach einem neuen Ziel.

Elayne versuchte, ihre Atmung zu beruhigen. Sie konnte um keinen Preis mehr Macht heranziehen. »Ihr beide müßt fliehen«, sagte sie. Elayne konnte nicht glauben, daß sie so eiskalt und ruhig klang. Sie wußte, daß sie hätte jammern sollen. Ihr Herz pochte heftig.

»Ich weiß nicht, wie lange ich das hier noch halten kann.« Das galt sowohl für das Gewebe insgesamt als auch für den einzelnen Faden, Entglitt er ihr? »Flieht, so schnell ihr könnt. Auf der anderen Seite der Berge solltet ihr sicher sein, aber jeder Meter, den ihr bewältigen könnt, nützt etwas. Geht!«

Birgitte grollte etwas in der Alten Sprache, aber nichts, was Elayne bekannt war. Es klang wie Sätze, die sie gern lernen würde. Wenn jemals die Gelegenheit dazu bestünde. Birgittes folgende Worte konnte Elayne jedoch verstehen. »Wenn du dieses verdammte Ding losläßt, bevor ich es dir sage, wirst du nicht mehr darauf warten müssen, daß Nynaeve dir die Haut abzieht. Ich werde es selbst tun — dann erst kommt sie an die Reihe. Sei einfach still und halte fest! Aviendha, komm hier herum — hinter dieses Ding! Kannst du es von der Rückseite aus aufrechterhalten? Komm her und steig auf eines dieser verdammten Pferde.«

»Solange ich sehen kann, wo ich weben muß«, erwiderte Aviendha und richtete sich taumelnd auf. Sie wankte seitwärts und fing sich nur mühsam wieder. Blut aus einer bösen Wunde floß ihren Ärmel hinab. »Ich denke, ich kann es.« Sie verschwand hinter dem Wegetor, und die Feuerkugeln barsten weiterhin. Man konnte von der anderen Seite durch ein Wegetor hindurchblicken, aber das Bild erschien dann wie ein Trugbild. Man konnte von jener Seite jedoch nicht hindurchgehen — der Versuch wäre extrem schmerzhaft —, und als Aviendha wieder erschien, wankte sie noch stärker. Birgitte half ihr, auf ihr Pferd zu steigen — rückwärts. Auch das noch!

Als Birgitte ihr dringliche Zeichen gab, machte Elayne sich nicht die Mühe, den Kopf zu schütteln. Sie fürchtete, was geschehen könnte, wenn sie es tat. »Ich bin mir nicht sicher, daß ich noch festhalten kann, wenn ich aufzustehen versuche.« In Wahrheit war sie sich nicht sicher, ob sie überhaupt aufstehen konnte. Es hatte nichts mehr mit Erschöpfung zu tun —ihre Muskeln hatten jede Kraft verloren. »Reitet, so schnell ihr könnt. Ich werde so lange festhalten wie möglich. Bitte, geht!«

Birgitte murmelte in der Alten Sprache Flüche — es mußten Flüche sein, denn nichts sonst klang jemals so! — und drückte Aviendha die Zügel der Pferde in die Hand. Sie hinkte zu Elayne, wobei sie zweimal beinahe hinfiel, und beugte sich herab, um sie an den Schultern zu fassen. »Du kannst festhalten«, sagte sie, wobei ihre Stimme voller Überzeugung war, die sie auch Elayne gefühlsmäßig vermittelte. »Ich bin vor dir noch niemals einer Königin von Andor begegnet, aber ich habe Königinnen wie dich gekannt. Ihr habt ein Rückgrat aus Stahl und das Herz einer Löwin. Du kannst es schaffen!«

Sie zog Elayne langsam hoch, wartete ihre Antwort jedoch nicht ab. Ihr Gesicht war angespannt, und der Schmerz in ihrem Bein hallte in Elaynes Kopf wider. Elayne zitterte unter der Anstrengung, das Gewebe festzuhalten. Sie war überrascht, sich aufrecht stehend wiederzufinden. Und lebend. Birgittes Bein pochte in ihrem Kopf wie wahnsinnig. Sie versuchte, sich nicht auf Birgitte zu stützen, aber ihre zitternden Glieder wollten sie nicht mehr allein tragen. Als sie auf die Pferde zuwankten, schaute sie beständig über die Schulter zurück. Sie konnte ein Gewebe festhalten, ohne hinzusehen — normalerweise konnte sie es —, aber sie mußte sich versichern, daß sie diesen einen Faden tatsächlich noch unter Kontrolle hielt, daß er ihr nicht entglitt. Das Wegetor erinnerte jetzt an kein ihr bekanntes Gewebe mehr, es wand sich wild und verflocht wirre Tentakel.

Stöhnend hob Birgitte sie eher in den Sattel, als daß sie ihr nur hinaufhalf. Rückwärts, genau wie bei Aviendha! »Du mußt sehen können«, erklärte sie und hinkte zu ihrem Wallach. Die Zügel aller drei Pferde in Händen zog sie sich mühsam hoch, ohne einen Laut auszustoßen, aber Elayne empfand ihren Schmerz. »Du tust, was getan werden muß, und überläßt es mir, wohin wir reiten.« Birgitte bohrte ihrem Wallach die Fersen in die Flanken, und die Pferde galoppierten in wilder Flucht davon.

Elayne klammerte sich ebenso verbissen an ihren Sattel, wie sie sich an das Gewebe, an Saidar selbst klammerte. Das galoppierende Pferd schüttelte sie durch, und sie konnte nur versuchen, im Sattel zu bleiben. Aviendha benutzte den Zwiesel ihres Sattels als Stütze. Sie atmete durch den weit aufgerissenen Mund, und ihr Blick wirkte starr. Das Schimmern um sie herum und der Strom von Feuerkugeln blieben jedoch bestehen. Gewiß nicht mehr so rasch wie zuvor, und einige Kugeln gingen weit am Wegetor vorbei, zogen Flammenspuren durchs Gras oder explodierten auf dem jenseits gelegenen Boden, aber sie wurden noch immer gestaltet und ausgelöst. Elayne sammelte Kraft, zwang sich dazu, Kraft zu sammeln. Wenn Aviendha weitermachte, obwohl sie jeden Moment zusammenzubrechen schien, konnte sie es auch.

Das Wegetor begann schnell zu schwinden, während sich zunehmend braune Grasflächen zwischen ihnen und der Öffnung erstreckten, und dann stieg der Boden an. Sie ritten den Hügel hinauf! Birgitte war ganz konzentriert, kämpfte gegen den Schmerz in ihrem Bein an, drängte die Pferde zu noch größerer Geschwindigkeit. Sie mußten nur den Hügelkamm erreichen.

Aviendha sank keuchend auf ihre Ellbogen, wurde haltlos durchgeschüttelt. Das Licht Saidars flackerte um sie herum und schwand dann. »Ich kann nicht mehr«, keuchte sie. »Ich kann nicht.« Zu mehr war sie nicht länger in der Lage. Seanchanische Soldaten sprangen fast unmittelbar, nachdem der Feuerkugelhagel aufhörte, auf die Wiese.

»Es ist in Ordnung«, stieß Elayne mühsam hervor. Ihre Kehle war rauh. Alle Feuchtigkeit bedeckte jetzt ihre Haut und tränkte ihre Kleidung. »Es ermüdet, ein Angreal zu benutzen. Du hast es gut gemacht. Sie können uns jetzt nichts mehr anhaben.«

Wie um ihr zu spotten, erschien auf der Wiese unter ihnen eine Sul'dam. Die beiden Frauen waren selbst auf die Entfernung von einer halben Meile gut zu erkennen. Die tief im Westen stehende Sonne spiegelte sich noch auf dem A'dam, das sie verband. Ein zweites Paar kam dazu, dann ein drittes und ein viertes. Und ein fünftes.

»Der Hügelkamm!« schrie Birgitte freudig. »Wir haben es geschafft! Heute abend wird gefeiert!«

Eine Sul'dam auf der Wiese deutete in ihre Richtung, und die Zeit schien sich zu verlangsamen. Das Schimmern der Einen Macht sprang um die Damane der Frau auf. Elayne konnte sehen, wie das Gewebe sich formte. Sie wußte, was es war. Man konnte es nicht aufhalten. »Schneller!« schrie sie. Der Schild traf sie. Elayne hätte dafür ausreichend stark sein sollen — sie hätte es sein sollen! —, aber erschöpft wie sie war, konnte sie sich kaum noch an Saidar klammern, und so durchtrennte er ihre Verbindung zur Quelle. Unten auf der Wiese fiel das Gewebe, das ein Wegetor gewesen war, in sich zusammen. Verstört und scheinbar unfähig, sich zu regen, warf sich Aviendha aus dem Sattel auf Elayne und brachte sie beide zu Fall. Elayne hatte gerade noch Zeit, den jenseitigen Hügelhang unter sich zu sehen, als sie fiel.

Die Luft wurde weiß und verhüllte ihre Sicht. Da waren Geräusche — sie erkannte, daß da Geräusche waren, ein lautes Brüllen —, aber sie hörte sie nicht. Sie prallte auf dem Boden auf, als wäre sie von einem Dach auf hartes Pflaster gestürzt oder von einer Turmspitze.

Sie öffnete die Augen und blickte nach oben. Der Himmel wirkte Irgendwie seltsam, verschwommen. Sie konnte sich einen Moment nicht bewegen, und als es ihr endlich gelang, keuchte sie laut. Sie hatte überall Schmerzen. Oh, Licht, sie hatte Schmerzen! Sie hob langsam eine Hand zum Gesicht. Ihre Finger waren rot. Blut. Die anderen. Sie mußte den anderen helfen. Sie konnte Birgitte spüren, den Schmerz genauso stark spüren wie das, was sie gepackt hatte, aber zumindest lebte Birgitte. Und sie war entschlossen — und anscheinend zornig. Sie konnte nicht allzu schlimm verletzt sein. Aviendha.

Elayne drehte sich schluchzend um und erhob sich dann auf Hände und Knie, wobei sich in ihrem Kopf alles drehte und sie Schmerzen in der Seite verspürte. Sie erinnerte sich vage daran, daß es gefährlich sein konnte, sich mit auch nur einer gebrochenen Rippe zu bewegen, aber dieser Gedanke verflüchtigte sich rasch wieder. Denken schien ... schwierig. Aber Blinzeln half ihrer Sicht anscheinend. Ein wenig. Sie befand sich fast am Fuß des Hügels! Hoch über ihr stieg Qualm von der jenseitigen Wiese auf. Aber das war jetzt unwichtig. Vollkommen unwichtig.

Dreißig Schritt den Hang aufwärts hatte Aviendha sich ebenfalls auf Hände und Knie aufgerichtet, fiel aber fast wieder um, als sie eine Hand hob, um sich das Blut aus ihrem Gesicht zu wischen, aber sie ließ ihren Blick dennoch ängstlich suchend schweifen. Ihr Blick fiel auf Elayne, und sie erstarrte. Elayne fragte sich, wie schlimm sie aussah. Gewiß nicht schlimmer als Aviendha selbst. Der Rock der Frau war nur noch zur Hälfte vorhanden, ihr Leibchen fast abgerissen, und überall, wo Haut zu sehen war, schien auch Blut zu sein.

Elayne kroch zu ihr. Das schien bei der Benommenheit in ihrem Kopf weitaus leichter als zu versuchen, aufzustehen und zu gehen. Als sie sich ihr näherte, stieß Aviendha ein erleichtertes Seufzen aus.

»Es geht dir gut«, sagte sie und berührte mit blutigen Fingern Elaynes Wange. »Ich hatte solche Angst. Solche Angst.«

Elayne blinzelte überrascht. Was sie an sich selbst erkennen konnte, wirkte ebenso schlimm wie Aviendhas Zustand. Ihre Röcke waren zwar heil geblieben, aber sie blutete anscheinend aus zwei Dutzend Wunden. Dann erkannte sie es. Sie war nicht ausgebrannt. Sie erschauderte bei dem Gedanken. »Es geht uns beiden gut«, sagte sie sanft.

Ein Stück seitlich von ihr wischte Birgitte ihr Messer an der Mähne von Aviendhas Wallach ab und richtete sich dann von dem leblosen Pferd auf. Ihr rechter Arm baumelte herab, ihr Umhang war fort wie auch ein Stiefel, ihre übrige Kleidung war zerrissen. Ihre Haut und Kleidung war genauso blutbefleckt wie die der beiden anderen. Der aus ihrem Oberschenkel ragende Armbrustpfeil schien ihre schlimmste Verletzung verursacht zu haben, aber die übrigen Wunden entsprachen gewiß Elaynes eigenen. »Sein Rückgrat war gebrochen«, sagte sie, indem sie auf das Pferd zu ihren Füßen deutete. »Meinem Pferd geht es wohl gut, denn ich sah es wie der Wind davonlaufen. Ich habe es immer schon für schnell gehalten. Aber Löwin...« Sie zuckte mit den Achseln und schrak daraufhin zusammen. »Elayne, Löwin war tot, als ich sie fand. Es tut mir leid.«

»Wir leben«, sagte Elayne fest, »und nur das zählt.« Sie konnte später um Löwin trauern. Der Qualm über dem Hügelkamm war nicht dicht, stieg aber über einem weiten Gebiet auf. »Ich möchte sehen, was ich getan habe.«

Sie mußten sich alle drei aneinander klammern, um aufstehen zu können, und es war sehr anstrengend, sich unter Keuchen und Stöhnen — sogar von Aviendha — den Hang hinaufzumühen. Sie klangen, als wären sie dem Tod nur knapp entronnen — was Elayne durchaus vermutete —, und sahen aus, als hätten sie sich in einem Schlachthaus gesuhlt. Aviendha hielt das Angreal noch immer fest in ihrer Hand, aber selbst wenn Elayne oder sie mehr Talent zum Heilen besessen hätten, so hätten sie die Quelle nicht mehr umarmen, geschweige denn die Macht lenken können. Schließlich standen sie aneinandergelehnt auf dem Hügelkamm und betrachteten die Verwüstung.

Feuer umgab die Wiese, aber in der Mitte war sie geschwärzt, schwelte, sogar die Steine waren verschwunden. Die meisten Bäume auf den umliegenden Hängen waren umgestürzt oder neigten sich von der Wiese fort. Falken erschienen, schwebten auf der vom Feuer aufsteigenden heißen Luft. Falken jagten häufig auf diese Weise, suchten nach kleinen Tieren, die von den Flammen ins Freie getrieben wurden. Von den Seanchanern war nichts zu sehen. Elayne wünschte, es wären Leichen vorhanden, damit sie sicher sein könnte, daß sie alle tot waren. Besonders alle Sul'dam. Als sie jedoch auf den verbrannten, qualmenden Boden hinabblickte, war sie plötzlich froh, daß es keinen Beweis dafür gab. Es war eine schreckliche Todesart gewesen. Das Licht sei ihren Seelen gnädig, dachte sie. Allen ihren Seelen.

»Nun«, sagte sie laut, »ich habe es nicht so gut gemacht wie du, Aviendha, aber ich denke, ich habe mein Bestes gegeben. Ich werde versuchen, es beim nächsten Mal noch besser zu machen.«

Aviendha sah sie von der Seite an. Sie hatte eine Wunde an der Wange, eine weitere auf der Stirn und einen langen Schnitt am Kopf, der ihren Schädel freigab. »Für einen ersten Versuch hast du es weitaus besser gemacht als ich. Ich habe beim ersten Mal nur einen einfachen, in einen Strang Wind verflochtenen Knoten erreicht. Es hat mich fünfzig Versuche gekostet, auch nur das zu lösen, ohne daß mich etwas anderes bedroht hätte.«

»Ich hätte vermutlich mit etwas Einfacherem beginnen sollen«, sagte Elayne. »Ich habe die Angewohnheit, alles zu überstürzen.« Überstürzen? Das war noch stark untertrieben. Sie unterdrückte ein Kichern, aber nicht früh genug, um Schmerzen in der Seite zu verspüren. Also stöhnte sie leise, anstatt zu kichern. »Letztendlich haben wir eine neue Waffe gefunden. Ich sollte vielleicht nicht froh darüber sein, aber da die Seanchaner zurückgekehrt sind, bin ich es doch.«

»Du verstehst nicht, Elayne.« Aviendha deutete zur Mitte der Wiese, wo das Wegetor gewesen war. »Das hätte nicht mehr als ein Lichtblitz oder noch weniger sein können. Man weiß es nicht, bis es geschieht. Ist ein Lichtblitz das Risiko wert, sich und jede andere Frau im Umkreis von hundert oder mehr Schritten auszubrennen?«

Elayne starrte sie an. Aviendha war geblieben, obwohl sie das wußte? Sein Leben zu riskieren, war eine Sache, aber die Fähigkeit, die Macht zu lenken, zu verlieren... »Ich möchte, daß wir einander als Erstschwestern annehmen, Aviendha. Sobald wir Weise Frauen finden können.« Was sie mit Rand tun sollten, wußte sie beim besten Willen nicht. Allein der Gedanke, daß sie ihn beide heiraten würden — und Min ebenfalls! —, war mehr als lächerlich. Aber dieser Sache war sie sich sicher. »Ich muß nicht mehr über dich wissen. Ich möchte deine Schwester sein.« Sie küßte sanft Aviendhas blutverschmierte Wange.

Aviendha errötete noch weitaus stärker als zuvor. Selbst Aiel-Liebende küßten sich nicht wenn jemand sie sehen konnte. Flammende Sonnenuntergänge wirkten gegen ihr Gesicht blaß. »Ich möchte dich auch als Schwester haben«, murmelte sie. Aviendha schluckte schwer, beugte sich — mit einem Blick zu Birgitte, die nicht auf sie zu achten vorgab — herüber und drückte ihre Lippen rasch auf Elaynes Wange. Elayne liebte sie für diese Geste ebenso sehr wie für alles andere.

Birgitte hatte über die Schulter an ihnen vorbei geschaut und vielleicht hatte sie überhaupt nichts vorgegeben, denn jetzt sagte sie plötzlich: »Es kommt jemand. Lan und Nynaeve, wenn ich mich nicht täusche.«

Sie wandten sich unbeholfen um und hinkten und stolperten stöhnend vorwärts, was recht lächerlich aussehen mußte. Helden in Geschichten wurden niemals so stark verletzt, daß sie kaum noch stehen konnten. Nördlich von ihnen erschienen in der Ferne kurz zwei Reiter zwischen den Bäumen, die in ihre Richtung galoppierten. Kurz, aber ausreichend lange, um einen großen Mann auf einem stämmigen Pferd auszumachen und eine Frau auf einem kleineren Tier an seiner Seite. Die drei Frauen setzten sich hin und warteten. Das war noch etwas, was Helden in Geschichten niemals taten, überlegte Elayne seufzend. Sie hoffte, sie würde ihrer Mutter als Königin zur Ehre gereichen, aber unzweifelhaft würde sie niemals eine Heldin werden.

Chulein bewegte leicht die Zügel, und Segani bäumte sich etwas auf und kehrte auf einer geriffelten Schwinge um. Er war ein gut ausgebildeter Raken, schnell und lebhaft, ihr Liebling, obwohl sie ihn nicht allein flog. Es gab stets mehr Morat'raken als Rahen, das war eine unumstößliche Tatsache. Auf dem unter ihr liegenden Bauernhof sprangen Feuerkugeln scheinbar aus der Luft und schossen in alle Richtungen. Sie versuchte, nicht darauf zu achten. Ihre Aufgabe war es, nach Schwierigkeiten rund um den Bauernhof Ausschau zu halten. Zumindest stieg kein Qualm mehr von der Stelle auf, wo Tauan und Macu im Olivenhain gestorben waren.

Tausend Schritt über dem Boden fliegend, konnte sie sehr weit sehen. Auch alle anderen Raken waren unterwegs und erkundeten die Landschaft. Jede Frau, die davonlief, würde daraufhin überprüft werden, ob sie eine jener Frauen war, die all diese Aufregung verursacht hatten, obwohl in Wahrheit gewiß jedermann in dieser Gegend, der einen Raken in der Luft sah, davonlaufen würde. Chulein mußte hier nur auf bevorstehende Schwierigkeiten achten. Sie wünschte, sie verspürte nicht dieses Kribbeln zwischen den Schulterblättern, was stets bedeutete, daß tatsächlich' Schwierigkeiten bevorstanden. Der Segani umwehende Wind war bei dieser Geschwindigkeit nicht sehr stark, aber sie zog das Zugband der gewachsten Leinenkapuze unter ihrem Kinn dennoch fester, überprüfte die ledernen Sicherheitsgurte, die sie im Sattel hielten, richtete ihre Schutzbrille und straffte ihre Handschuhe.

Über hundert Himmelsfäuste befanden sich bereits am Boden und — noch wichtiger — sechs Sul'dam mit Damane sowie ein weiteres Dutzend, die Schultertaschen voll überschüssiger A'dam trugen. Der zweite Flug mit Verstärkung würde sich südwärts von den Hügeln erheben. Es wäre besser gewesen, wenn mehr am ersten Angriff teilgenommen hätten, aber die Hailene hatten allzu wenige To'raken, und ein hartnäckiges Gerücht besagte, daß vielen davon die Aufgabe zugewiesen wurde, die Hochdame Suroth und ihr Gefolge von Amadicia herab zu begleiten. Man sollte den Adel nicht schlecht beurteilen, aber sie wünschte dennoch, es wären mehr To'raken nach Ebou Dar geschickt worden. Kein Morat'raken mochte die riesigen, ungelenken To'raken, die nur zum Tragen von Lasten geeignet waren, aber sie hätten schneller weitere Himmelsfäuste und Sul'dam zu den Bodentruppen bringen können.

»Ein Gerücht besagt, daß es dort unten Hunderte von Marath'damane gäbe«, sagte Eliya hinter ihr laut. Im Himmel mußte man laut sprechen, um das Rauschen des Windes zu übertönen. »Weißt du, was ich mit meinem Anteil an dem erbeuteten Gold tun werde? Ich werde mir ein Gasthaus kaufen. Dieses Ebou Dar scheint mir ein vielversprechender Ort zu sein, soweit ich sehen konnte. Vielleicht werde ich sogar einen Mann finden und Kinder haben. Was meinst du dazu?«

Chulein grinste hinter ihrem den Wind abhaltenden Schal. Jeder Flieger sprach davon, ein Gasthaus — oder eine Schänke oder manchmal auch einen Bauernhof —zu kaufen, aber wer konnte den Himmel verlassen? Sie tätschelte Seganis langen, ledrigen Hals. Und jeder weibliche Flieger — drei von vier waren Frauen —sprach von einem Ehemann und Kindern, aber Kinder bedeuteten auch das Ende der Fliegerei.

»Ich meine, du solltest die Augen offenhalten«, sagte sie. Es schadete aber nicht, ein wenig darüber zu reden. Als die am leichtesten bewehrten Soldaten waren sie fast ebenso hart wie die Garde der Totenwache, einige sogar noch härter. »Ich werde mit meinem Anteil eine Damane kaufen und eine Sul'dam dingen.« Wenn sich dort unten nur halb so viele Marath'damane befanden, wie das Gerücht behauptete, würde ihr Anteil für zwei Damane reichen. Für drei! »Eine Damane, die dazu ausgebildet ist, Himmelslichter zu gestalten.

Wenn ich den Himmel verlasse, werde ich ebenso reich sein wie eine Adlige.« Sie hatten hier etwas, das man ›Feuerwerk‹ nannte — sie hatte einige Burschen gesehen, die sich vergeblich bemüht hatten, den Adel in Tanchico dafür zu interessieren —, aber wer würde etwas, mit den Himmelslichtern verglichen, so Bedauernswertes auch betrachten? Jene Burschen waren gefesselt und außerhalb der Stadt auf die Straße geworfen worden.

»Der Bauernhof!« rief Eliya, und plötzlich wurde Segani schwer von etwas getroffen, schwerer als durch den stärksten Windstoß, den Chulein jemals erlebt hatte, wodurch er ins Taumeln geriet.

Der Raken stürzte hinab, stieß seinen heiseren Schrei aus und drehte sich so schnell, daß Chulein fest in ihre Sicherheitsgurte gedrückt wurde. Sie ließ die Hände auf den Oberschenkeln, die Zügel umklammert, aber locker. Segani mußte sich selbst hieraus befreien. Jeder Ruck an den Zügeln würde ihn nur behindern. Sie stürzten, sich drehend, abwärts. Morat'raken lernten, nicht zu Boden zu blicken, wenn ein Raken hinabstürzte, was auch immer der Grund dafür war, aber sie konnte nicht umhin, jedes Mal ihre Höhe zu bestimmen, wenn ein peitschenähnlicher Ruck den Boden näher in Sicht brachte. Achthundert Schritt. Sechshundert. Vier. Zwei. Das Licht bescheine ihre Seele, und die unendliche Gnade des Schöpfers schütze sie vor...

Segani fing sich mit einem Schlag seiner breiten Schwingen, der Chulein seitwärts riß und ihre Zähne klappern ließ. Die Spitzen seiner Klauen streiften die Baumwipfel, als sie abwärts rauschten. Mit in harter Übung erworbener Ruhe überprüfte sie die Bewegung seiner Schwingen auf Verletzungen. Es war nichts erkennbar, aber sie würde ihn dennoch von einem Der'morat'raken genau untersuchen lassen. Ein Meister würde nichts übersehen, was ihrem Blick vielleicht entging.

»Anscheinend sind wir der Schattenlady erneut entkommen, Eliya.« Sie wandte sich um, schaute über die Schulter und brach ab. Ein Stück eines gerissenen Sicherheitsgurtes wehte hinter dem leeren Sitz hinter ihr her. Jeder Flieger wußte, daß die Lady am Ende eines langen Sturzes wartete, aber es zu wissen, erleichterte die Erkenntnis nie.

Sie sprach ein schnelles Gebet für die Tote, besann sich wieder ihrer Pflicht und drängte Segani, wieder aufzusteigen. Sie schwebten langsam in Spiralen aufwärts, falls eine verborgene Kraft sie treffen sollte, aber doch so schnell, wie sie es für sicher hielt. Vielleicht ein wenig schneller, als sie es für sicher hielt. Von jenseits des Hügels vor ihr aufsteigender Rauch gab Anlaß zur Sorge, aber was sie sah, als sie den Kamm überflog, ließ ihren Mund austrocknen. Ihre Hände hielten noch immer die Zügel umfaßt, und Segani stieg weiterhin mit kraftvollem Schwingenschlag aufwärts.

Der Bauernhof war ... fort. Nur noch die Grundmauern der weißen Gebäude, die zuvor dort gestanden hatten, waren zu sehen, während die großen, in den Hang gebauten Gebilde nur noch Schutthaufen waren.

Fort. Alles war geschwärzt und verbrannt. Feuer wütete durch das Unterholz der Hänge und schlug hundert Schritt weite Breschen in die Olivenhaine und Wälder, die sich zwischen den Hügeln erstreckten. Jenseits lagen auf weiteren ungefähr hundert Meilen umgestürzte Bäume, alle vom Bauernhof abgewandt. Sie hatte noch niemals etwas Ähnliches gesehen. Nichts konnte dort unten noch leben. Nichts hätte das überleben können. Was auch immer es gewesen war.

Sie faßte sich rasch wieder und lenkte Segani nach Süden. Sie konnte in der Ferne To'mken erkennen, jeder mit einem Dutzend Himmelsfäusten und mit Sul'dam besetzt, die alle zu spät kamen. Sie begann im Geiste ihren Bericht zu formulieren. Sicherlich konnte kein anderer ihn verfassen. Jedermann behauptete, dieses Land sei voller Marath'datwne, die nur darauf warteten, gekoppelt zu werden, aber mit diesen neuen Waffen waren die Frauen, die sich Aes Sedai nannten, eine echte Gefahr. Es mußte etwas mit ihnen geschehen, etwas Entscheidendes. Vielleicht würde die Hochdame Suroth, wenn sie auf dem Weg nach Ebou Dar war, die Notwendigkeit ebenfalls erkennen.

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