Die Luft in dem großen Stall roch nach altem Heu und Pferdedung. Und nach Blut und verbranntem Fleisch. Da alle Türen geschlossen waren, war die Luft stickig. Zwei Laternen spendeten nur wenig Licht, und Schatten erfüllten den größten Teil des Inneren. In den langen Reihen Boxen wieherten unruhig Pferde. Der Mann, der an den Handgelenken von einem Dachbalken hing, stöhnte leise und hustete dann abgehackt. Sein Kopf sank auf die Brust. Er war groß und muskulös, wenn er auch eher mitgenommen wirkte.
Sevanna erkannte jäh, daß sich seine Brust nicht mehr hob und senkte. Die mit Edelsteinen besetzten Ringe an ihren Fingern schimmerten rot und grün, während sie Rhiale ein Zeichen gab.
Die Frau mit dem flammenden Haar drückte den Kopf des Mannes hoch, hob ein Augenlid an und preßte dann, ungeachtet der noch immer glimmenden Späne, die in ihm steckten, ein Ohr an seine Brust. Dann richtete sie sich mit einem angewiderten Laut auf. »Er ist tot. Wir hätten dies den Töchtern des Speers überlassen sollen, Sevanna, oder den Schwarz augen. Gewiß haben wir ihn aus Unwissenheit getötet.«
Sevanna kniff die Lippen zusammen und richtete mit klirrenden Armbändern ihre Stola. Die Armbänder reichten ihr fast bis zu den Ellbogen, ein bemerkenswertes Gewicht in Gold, Elfenbein und Edelsteinen, und dennoch hätte sie, wenn es möglich gewesen wäre, alle getragen, die sie besaß. Keine der anderen Frauen sagte etwas. Gefangene zu verhören, war nicht die Aufgabe der Weisen Frauen, aber Rhiale wußte, warum sie dies selbst hatten tun müssen. Der einzige Überlebende von zehn berittenen Männern, die geglaubt hatten, zwanzig Töchter des Speers besiegen zu können, war gleichzeitig der erste Seanchaner gewesen, der in den zehn Tagen seit ihrer Ankunft in diesem Land gefangengenommen wurde.
»Er hätte überlebt, wenn er nicht so sehr gegen den Schmerz angekämpft hätte, Rhiale«, sagte Someryn schließlich kopfschüttelnd. »Ein starker Mann für einen Feuchtländer, aber er konnte den Schmerz nicht ertragen. Dennoch hat er uns viel verraten.«
Sevanna warf ihr einen Seitenblick zu und versuchte zu erkennen, ob die Bemerkung sarkastisch gemeint gewesen war. Someryn war so groß wie die meisten Männer und trug mehr Armbänder als jede andere Frau außer Sevanna. Halsketten mit Feuertropfen und Smaragden, Rubinen und Saphiren verdeckten fast ihren vollen Busen, der ansonsten mit ihrer beinahe bis zum Rock geöffneten Bluse halb entblößt gewesen wäre. Die um ihre Taille geschlungene Stola enthüllte ihre körperlichen Reize. Es fiel Sevanna manchmal schwer zu sagen, ob Someryn sie nachahmte oder in Wettstreit mit ihr stand.
»Viel!« rief Meira aus. Ihr längliches Gesicht schien im Licht der Laterne, die sie hielt, grimmiger als gewöhnlich, obwohl das kaum möglich schien. Meira konnte sogar die dunkle Seite der Mittagssonne finden. »Daß seine Leute zwei Tage westlich in der Stadt Amador lagern? Das wußten wir bereits. Er hat uns nur wilde Geschichten erzählt. Artur Falkenflügel! Pah! Die Töchter des Speers hätten ihn bei sich behalten und tun sollen, was nötig war.«
»Würdet Ihr ... es wagen, daß alle zu früh zuviel erfahren?« Sevanna biß sich verärgert auf die Lippen. Sie hätte sie fast »Ihr Narren« genannt. Ihrer Meinung nach wußten bereits zu viele zuviel, darunter Weise Frauen, aber sie konnte es nicht riskieren, die Frauen zu beleidigen. Und dieses Wissen nagte an ihr! »Die Menschen haben Angst.« Es war zumindest nicht nötig, ihre Verachtung zu verbergen. Was sie bestürzte und erzürnte, war nicht, daß sie Angst hatten, sondern wie wenige sich bemühten, diese Tatsache zu verbergen. »Schwarzaugen oder Steinsoldaten oder sogar Töchter des Speers hätten darüber gesprochen, was er gesagt hat. Ihr wißt, daß sie es getan hätten! Seine Lügen hätten nur noch mehr Furcht verbreitet.« Es mußten Lügen gewesen sein. Sevanna stellte sich ein Meer so vor wie die Seen, die sie in den Feuchtlanden gesehen hatte, aber ohne daß man das jenseitige Ufer sah. Wenn Hunderttausende weitere seiner Leute kamen, selbst von der anderen Seite eines so großen Gewässers, hätten die anderen Gefangenen, die sie befragt hatte, von ihnen gewußt. Und kein Gefangener wurde ohne ihre Anwesenheit befragt.
Tion hob die zweite Laterne an und betrachtete sie aus grauen Augen mit stetem Blick. Sie war fast einen Kopf kleiner als Someryn und dennoch größer als Sevanna. Und doppelt so breit. Ihr rundes Gesicht erschien häufig sanft, was aber täuschte. »Sie haben recht, wenn sie sich fürchten«, sagte sie mit kalter Stimme. »Ich habe auch Angst und schäme mich nicht dafür. Die Seanchaner sind sehr zahlreich, wenn sie wirklich Amador allein eingenommen haben, und wir sind nur wenige. Ihr habt Eure Septime um Euch, Sevanna, aber wo ist meine Septime? Euer Feuchtländer-Freund Caddar und seine zahme Aes Sedai haben uns durch seine Öffnungen in der Luft zum Sterben geschickt. Wo sind die übrigen Shaido?«
Rhiale stellte sich herausfordernd neben Tion, und Alarys, die selbst jetzt mit ihrem schwarzen Haar spielte, um Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, schloß sich ihnen ebenfalls rasch an. Oder vielleicht tat sie es deshalb, um nicht Sevannas Blick begegnen zu müssen. Kurz darauf stellte sich auch eine stirnrunzelnde Meira dazu, und dann auch Modarra. Man hätte Modarra als schlank bezeichnen können, wenn sie nicht noch größer als Someryn gewesen wäre, weshalb man sie bestenfalls mager nennen konnte. Sevanna hatte geglaubt, Modarra ebenso fest unter Kontrolle zu haben wie die Ringe an ihren Fingern.
Ebenso fest unter Kontrolle wie... Someryn sah sie an, seufzte, schaute zu den anderen und trat dann langsam zu ihnen.
Sevanna blieb ganz am Rande des Lichtkreises der Laterne stehen. Von allen durch die Tötung Desaines an sie gebundenen Frauen traute sie diesen am meisten. Nicht, daß sie überhaupt jemandem sehr weit vertraute. Aber bei Someryn und Modarra war sie sich sicher gewesen, daß sie so unverbrüchlich zu ihr gehörten, als hätten sie den Wassereid geschworen, ihr überallhin zu folgen. Und jetzt wagten sie es, sich ihr mit anklagendem Blick entgegenzustellen. Selbst Alarys schaute von der Beschäftigung mit ihrem Haar auf.
Sevanna begegnete ihren Blicken mit kühlem, fast höhnischem Lächeln. Jetzt, so beschloß sie, war nicht der richtige Zeitpunkt, sie an das Verbrechen zu erinnern, das ihre Schicksale zusammenschweißte. Nicht der Knüppel, nicht dieses Mal. »Ich habe schon geargwöhnt, daß Caddar versuchen könnte, uns zu betrügen«, sagte sie statt dessen. Rhiales blaue Augen weiteten sich bei dem Eingeständnis, und Tion öffnete den Mund. Sevanna fuhr fort, ohne ihnen Zeit zu einem Einwand zu lassen. »Wärt Ihr lieber in Brudermörders Dolch geblieben, um vernichtet zu werden? Um von vier Clans, deren Weise Frauen wissen, wie man jene Öffnungen ohne Reisekammern gestaltet, wie Tiere gejagt zu werden? Statt dessen befinden wir uns im Herzen eines reichen, milden Landes, das sogar noch reicher ist als die Länder der Baummörder. Seht nur, was wir uns in nur zehn Tagen angeeignet haben. Wieviel mehr werden wir uns in einer Stadt der Feuchtländer aneignen? Ihr fürchtet die Seanchaner wegen ihrer Überzahl? Erinnert Euch daran, daß ich alle Weisen Frauen der Shaido bei mir habe, welche die Macht lenken können.« Sie dachte jetzt nur noch selten daran, daß sie selbst die Macht nicht lenken konnte. Dieser Mangel würde bald behoben sein. »Wir sind ebenso stark wie jede Streitkraft, welche die Feuchtländer gegen uns entsenden können. Selbst wenn sie fliegende Eidechsen besitzen.« Sie schnaubte geräuschvoll, um ihrer Meinung darüber noch mehr Nachdruck zu verleihen. Niemand von ihnen hatte schon fliegende Eidechsen gesehen und auch keiner der Kundschafter, aber fast alle Gefangenen hatten diese lächerlichen Geschichten erzählt. »Wir werden uns dieses Land aneignen, sobald wir die anderen Septimen gefunden haben. Das ganze Land! Wir werden den Aes Sedai zehnfache Wiedergutmachung abringen. Und wir werden Caddar finden und ihn im Tod um Gnade winseln lassen.«
Das hätte sie alle wieder überzeugen, ihre Herzen beruhigen müssen, wie sie es schon früher getan hatte. Aber nicht eine Miene änderte sich. Nicht eine.
»Und da ist der Car'a'carn«, sagte Tion ruhig. »Es sei denn, Ihr hättet Euren Plan aufgegeben, ihn zu heiraten.«
»Ich habe nichts aufgegeben«, erwiderte Sevanna verärgert. Der Mann — und was noch wichtiger war, die Macht, die mit ihm einherging — würde eines Tages ihr gehören. Irgendwie. Was auch immer dafür nötig war. Sie fuhr mit ruhigerer Stimme fort. »Rand al'Thor ist jetzt wohl kaum von Bedeutung.« Zumindest nicht für diese blinden Dummköpfe. Wenn sie ihn in ihrer Hand hätte, wäre für sie alles möglich. »Ich beabsichtige nicht, den ganzen Tag hier herumzustehen und über meinen Brautkranz zu sprechen. Ich muß mich um wirklich wichtige Dinge kümmern.«
Während sie durch die Dunkelheit davonschritt, auf die Stalltüren zu, kam ihr plötzlich ein unangenehmer Gedanke. Sie war allein mit diesen Frauen. Wie weit konnte sie ihnen tatsächlich vertrauen? Desaines Tod war ihr noch lebhaft im Gedächtnis: Die Weise Frau war mit der Einen Macht ... dahingeschlachtet worden. Unter anderem von den Frauen hinter ihr. Der Gedanke verursachte ihr Magenkrämpfe. Sie lauschte auf das schwache Rascheln von Stroh, daß ihr verraten würde, daß jemand ihr folgte, hörte aber nichts. Standen sie einfach noch da und sahen ihr nach? Sie weigerte sich, über die Schulter zu blicken. Es kostete sie einige Mühe, dieselbe ruhige Gangart beizubehalten — sie würde keine Angst zeigen und sich auf diese Weise beschämen! —, und doch konnte sie nicht umhin, erleichtert aufzuatmen, als sie eine der großen Türen in ihren gut geölten Scharnieren aufstieß und ins helle Mittagslicht trat.
Efalin ging draußen auf und ab, die Shoufa um den Hals gelegt, den Bogen in seiner Hülle auf dem Rücken, Speere und Schild in Händen. Die grauhaarige Frau wandte sich jäh um, wobei die Sorge auf ihrem Gesicht beim Anblick Sevannas nur unwesentlich abnahm. Sie war die Führerin aller Töchter des Speers der Shaido, und sie zeigte ihre Sorge! Sie war keine Jumai, aber sie war mit Sevanna gekommen, wobei sie die Ausrede benutzt hatte, Sevanna spräche als Anführerin, bis ein neues Oberhaupt der Shaido gewählt werden könne. Sevanna war sich sicher, daß Efalin die Vermutung hegte, dies würde niemals geschehen. Efalin wußte, wo die Macht lag. Und wann sie den Mund halten mußte.
»Begrabt ihn tief und verbergt das Grab«, befahl Sevanna ihr.
Efalin nickte, und die Töchter des Speers verschwanden hinter ihr im Stall. Sevanna betrachtete das Gebäude mit seinem spitzen roten Dach und den blauen Mauern und wandte sich dann dem davor befindlichen Feld zu. Eine niedrige Steinumgrenzung mit einem einzigen Durchgang vor dem Stall umschloß einen Kreis festgetretener Erde von ungefähr hundert Schritten Durchmesser. Die Feuchtländer hatten ihn zur Dressur von Pferden verwendet. Sevanna war nicht in den Sinn gekommen, die früheren Besitzer zu fragen, warum die Stallungen so weit von allem anderen errichtet worden und von so hohen Bäumen umgeben waren, daß Sevanna sie manchmal noch immer staunend betrachtete, aber die Abgeschiedenheit paßte ihr gut. Efalin und die Töchter des Speers hatten den Seanchaner gefangengenommen. Niemand, der nicht dabeigewesen war, wußte etwas von ihm. Oder würde etwas von ihm erfahren. Unterhielten sich die anderen Weisen Frauen dort drinnen über sie? Vor den Töchtern des Speers? Was sagten sie? Sie würde weder auf sie noch auf sonst jemanden warten!
Someryn und die übrigen verließen den Stall in dem Moment, als Sevanna auf den Wald zuging, und folgten ihr dorthin, wobei sie miteinander über die Seanchaner und über Caddar sprachen, wie auch darüber, wohin die übrigen Shaido gesandt worden waren. Nicht über sie, aber das würden sie auch nicht tun, wenn sie es hören konnte. Was sie hörte, ließ sie das Gesicht verziehen. Über dreihundert Weise Frauen befanden sich bei den Jumai, und es kamen stets dieselben Fragen, wann immer drei oder vier sich miteinander zu unterhalten begannen. Wo waren die übrigen Septimen? War Caddar ein von Rand al'Thor geschleuderter Speer gewesen? Wie viele Seanchaner waren dort? Ritten sie wirklich auf Eidechsen? Eidechsen! Diese Frauen waren vom ersten Augenblick an bei ihr gewesen. Sie hatte sie Schritt für Schritt geführt, aber sie glaubten, sie hätten bei der Planung jedes Zuges geholfen, glaubten, sie würden ihr Ziel kennen. Wenn sie die Frauen jetzt verlor...
Der Wald öffnete sich auf eine große Lichtung, die den Kreis bei den Stallungen mehr als fünfzigmal hätte aufnehmen können, und Sevanna spürte, wie ihre schlechte Stimmung schwand, als sie stehenblieb und sich umschaute. Niedrige Hügel erhoben sich im Norden, und die wenige Meilen dahinter liegenden Berge waren wolkenbedeckt, große weiße Massen, mit Dunkelgrau gestreift. Sie hatte noch niemals in ihrem Leben so viele Wolken gesehen. Nahebei verrichteten Tausende Jumai ihre alltäglichen Arbeiten. Das Klingen von Hämmern auf Ambossen ertönte von den Schmieden, und Schafe und Ziegen wurden für die Abendmahlzeit geschlachtet, wobei sich ihr Blöken mit dem Lachen der Kinder vermischte, die spielend umherrannten. Da die Jumai mehr Zeit zur Verfügung gehabt hatten, sich auf ihre Flucht aus Brudermörders Dolch vorzubereiten, hatten sie die in Cairhien erworbenen Herden mitgebracht und sie hier zusammengeführt.
Viele Leute hatten ihre Zelte aufgestellt, obwohl es nicht nötig war. Bunte Gebäude füllten die Lichtung fast wie ein großes Dorf der Feuchtländer aus, große Scheunen und Ställe, eine große Schmiede und die niedrigen Häuser, in denen die Diener Schutz gefunden hatten, alle rot und blau getüncht, die das größte Gebäude umgaben. Es wurde das Gutshaus genannt, unter dunkelgrünen Dachziegeln drei Stockwerke hoch, das Gebäude selbst in einem helleren, mit Gelb durchsetzten Grün gehalten, auf einem breiten, von Menschen errichteten Steinhügel von zehn Schritt Höhe. Jumai und Gai'schain stiegen die lange Rampe hoch, die zur Tür des Gebäudes führte, und betraten die kunstvoll geschnitzten Balkone, die es umgaben.
Die Steinmauern und Paläste in Cairhien hatten sie nicht halb so stark beeindruckt. Dieses Gebäude war farblich wie ein Wagen der Verlorenen gehalten, aber dennoch großartig. Die Vermutung hätte nahegelegen, daß es sich diese Leute bei so vielen Bäumen leisten konnten, alles aus Holz zu erbauen. Konnte niemand außer ihr erkennen, wie reich dieses Land war? Es verrichteten mehr weißgekleidete Gai'schain ihre Aufgaben, als alle zwanzig Septimen jemals zuvor beschäftigt hatten, fast halb so viele wie Jumai! Niemand beschwerte sich mehr darüber, daß Feuchtländer zu Gai'schain gemacht wurden. Sie waren so fügsam! Ein junger Mann mit großen Augen in grobem Leinen eilte, einen Korb umklammernd, vorüber, starrte die Menschen um ihn an und stolperte über den Saum seines Gewands. Sevanna lächelte. Der Vater dieses Mannes hatte sich der Herr dieses Ortes genannt und getobt, sie und ihr Volk würden für ihre Ausschreitungen gejagt werden, aber jetzt trug er Weiß und arbeitete ebenso hart wie sein Sohn, seine Frau und seine anderen Töchter und Söhne. Die Frauen hatten viel edlen Schmuck und wunderschöne Seide besessen, und Sevanna hatte nur die erste Auswahl getroffen. Ein reiches Land und so ergiebig.
Die Frauen hinter ihr waren am Rande des Waldes jäh stehengeblieben, um miteinander zu sprechen. Sie hörte ihre Worte, was ihre Stimmung jäh wieder umschlagen ließ.
»...wie viele Aes Sedai für diese Seanchaner kämpfen«, sagte Tion gerade. »Das müssen wir in Erfahrung bringen.« Someryn und Modarra murmelten zustimmend.
»Ich halte das nicht für bedeutsam«, warf Rhiale ein. Zumindest erstreckte sich ihre Widerspenstigkeit auch auf andere. »Ich glaube nicht, daß sie kämpfen werden, wenn wir sie nicht angreifen. Denkt daran, sie haben nichts getan, ehe wir gegen sie vorgingen, nicht einmal, um sich zu verteidigen.«
»Und als sie sich wehrten«, sagte Meira ärgerlich, »sind dreiundzwanzig von uns gestorben! Und mehr als zehntausend Algai d'siswai sind ebenfalls nicht zurückgekehrt. Wir sind hier kaum noch ein Drittel, selbst wenn man die Bruderlosen mitzählt.« Sie sprach diesen Namen verächtlich aus.
»Das war Rand al'Thors Werk!« belehrte Sevanna sie scharf. »Anstatt zu beklagen, was er gegen uns unternommen hat, denkt lieber darüber nach, was wir tun können, wenn er uns gehört!« Wenn er mir gehört, dachte Sevanna. Die Aes Sedai hatten ihn gefangengenommen und einige Zeit festgehalten, aber sie besaß etwas, was sie nicht besessen hatten, sonst hätten sie es benutzt. »Denkt statt dessen daran, daß wir die Aes Sedai fast besiegt hatten, bis er sich auf ihre Seite schlug. Aes Sedai sind nichts!«
Ihre Bemühungen, den Mut der Frauen zu schüren, hatten erneut keine sichtbare Wirkung. Sie konnten sich nur daran erinnern, daß die Speere bei dem Versuch, Rand al'Thor gefangenzunehmen, zerbrochen worden waren, und sie mit ihnen. Modarra hätte ihre gesamte Septime verlieren können, und selbst Tion runzelte unbehaglich die Stirn und erinnerte sich zweifellos daran, daß auch sie wie eine verängstigte Ziege davongelaufen war.
»Weise Frauen«, meldete sich eine männliche Stimme hinter Sevanna zu Wort, »ich wurde geschickt, Euch um Eure Meinung zu bitten.«
Sofort wurden die Mienen aller Frauen wieder gleichmütig. Was sie nicht erreichte, hatte er schon durch seine bloße Anwesenheit geschafft. Keine Weise Frau würde jemand anderem als einer anderen Weisen Frau gestatten, sie die Haltung verlieren zu sehen. Alarys hörte auch auf, über ihr Haar zu streichen, das sie über die Schulter gelegt hatte. Offensichtlich erkannte keine von ihnen den Mann. Sevanna aber glaubte ihn zu erkennen.
Er betrachtete sie ernst mit seinen grünen Augen, die weitaus älter wirkten als sein glattes Gesicht. Er besaß volle Lippen, aber um seinen Mund lag ein Zug, als hätte er vergessen, wie man lächelt. »Ich bin Kinhuin von den Meradin. Die Jumai sagen, wir dürften diesen Platz nicht gleichermaßen benutzen, weil wir keine Jumai sind, aber der wahre Grund ist, daß nur halb so viele Jumai wie Algai d'siswai hier sind. Die Bruderlosen bitten um Eure Meinung, Weise Frauen.«
Jetzt, da sie wußten, wer er war, konnten einige ihr Mißfallen über die Männer, die Clan und Septime aufgaben, um lieber zu den Shaido zu gehen als zu Rand al'Thor — ein Feuchtländer und kein wahrer Car'a'carn, wie sie glaubten —, nicht verbergen. Tions Gesicht wurde einfach ausdruckslos, aber Rhiales Augen funkelten, und Meira wollte die Stirn runzeln. Nur Modarra zeigte Anteilnahme, aber sie hätte andererseits auch versucht, einen Streit zwischen Baummördern zu schlichten.
»Diese sechs Weisen Frauen werden ein Urteil fällen, nachdem sie beide Seiten gehört haben«, belehrte Sevanna Kinhuin mit ebenbürtigem Ernst.
Die anderen Frauen sahen sie an und verbargen ihre Überraschung darüber, daß sie auf eine Entscheidung verzichten wollte, nur ungenügend. Sie hatte es arrangiert, daß zehnmal so viele Mera'din die Jumai begleiteten, wie mit jeder anderen Septime gezogen waren. Sie hatte tatsächlich Caddar im Verdacht gehabt, wenn auch nicht für das, was er getan hatte, und sie hatte so viele Speere bei sich haben wollen wie möglich. Außerdem konnten sie jederzeit statt der Jumai sterben.
Sie heuchelte Überraschung über die Überraschung der anderen. »Es wäre nicht gerecht, wenn ich Partei ergriffe, da meine eigene Septime darin verwickelt ist«, belehrte sie die anderen Frauen, bevor sie sich wieder dem grünäugigen Mann zuwandte. »Sie werden gerecht urteilen, Kinhuin. Und ich bin sicher, daß sie für die Mera'din sprechen werden.«
Die anderen Frauen sahen sie finster an, bevor Tion Kinhuin jäh bedeutete vorauszugehen. Er mußte seinen Blick von Sevanna losreißen, um der Aufforderung nachzukommen. Sie beobachtete mit leisem Lächeln — er hatte sie angesehen, nicht Someryn —, wie sie in der Menge der Leute auf dem Gelände des Gutshauses verschwanden. Auch wenn sie die Bruderlosen nicht mochten und sie dem Mann gegenüber Voraussagen über ihre Entscheidung äußerte, bestand die Möglichkeit, daß sie tatsächlich so entscheiden würden. Wie auch immer — Kinhuin würde sich erinnern und es den anderen seiner sogenannten Gemeinschaft mitteilen. Sie hatte die Jumai bereits in der Tasche, aber alles, was die Mera'din an sie band, war ebenfalls willkommen.
Sevanna wandte sich um und schritt wieder auf den Wald zu, nicht auf die Stallungen. Jetzt, da sie allein war, konnte sie sich um etwas weitaus Wichtigeres kümmern als um die Bruderlosen. Sie tastete nach etwas, das sie unten in ihre Bluse gesteckt hatte, wo ihre Stola es verbarg. Sie hätte es gespürt, wenn es auch nur um Haaresbreite verrutscht wäre, aber sie wollte seine glatte Länge mit den Fingern spüren. Keine Weise Frau würde es mehr wagen, sie niedriger einzustufen als sich selbst, wenn sie dies erst benutzt hatte — vielleicht schon heute. Und eines Tages würde es ihr Rand al'Thor verschaffen. Immerhin könnte Caddar, wenn er einmal gelogen hatte, auch in anderer Hinsicht gelogen haben.
Galina Casban sah die Weise Frau, die sie abschirmte, durch einen Tränenschleier an. Als wäre der Schild der schlanken Frau nötig gewesen. Im Moment hätte sie nicht einmal die Quelle umarmen können. Zwischen zwei Töchtern des Speers mit gekreuzten Beinen auf dem Boden sitzend, richtete Belinde ihre Stola und lächelte dünn, als kenne sie Galinas Gedanken. Sie hatte ein schmales, fuchsähnliches Gesicht, und ihr Haar und die Augenbrauen waren von der Sonne fast weiß gebleicht. Galina wünschte, sie hätte ihren Schädel zerschmettert, anstatt sie nur geschlagen zu haben.
Es war kein Fluchtversuch gewesen, nur Ausdruck größerer Enttäuschung, als sie ertragen konnte. Ihre Tage begannen und endeten mit zunehmender Erschöpfung. Sie konnte sich nicht erinnern, wie lange es her war, daß man sie in dieses rauhe schwarze Gewand gesteckt hatte. Die Tage verschmolzen wie ein endloser Strom. Eine Woche? Ein Monat? Vielleicht nicht so lange. Sicherlich nicht länger. Sie wünschte, sie hätte Belinde niemals berührt. Wenn die Frau ihr nicht Tücher in den Mund gestopft hätte, um ihr Schluchzen zu unterdrücken, hätte sie darum gebeten, wieder Steine tragen zu dürfen oder einen Haufen Kiesel Stein für Stein abzutragen oder irgendeine der anderen Qualen auf sich zu nehmen, mit denen sie ihre Zeit ausfüllten. Alles lieber als das.
Nur Galinas Kopf ragte aus dem Ledersack hervor, der von dem knorrigen Ast einer Eiche herabhing. Direkt unter dem Sack glühten in einer bronzenen Kohlenpfanne Kohlen, glühten langsam und erhitzten die Luft in dem Sack. Sie kauerte mit an ihre Zehen gebundenen Daumen in dieser schwelenden Hitze, und Schweiß überzog ihre Nacktheit. Das Haar klebte ihr feucht am Gesicht, und sie keuchte, rang mit bebenden Nasenflügeln nach Luft, wenn sie nicht schluchzte. Dennoch wäre dies immer noch besser gewesen als die endlose, sinnlose, sehr harte Arbeit, der sie sie unterworfen hatten, wenn nicht eines gewesen wäre. Bevor Belinde den Sack unter ihrem Kinn zuzog, hatte sie einen Beutel voll irgendeines feinen Pulvers über sie gestäubt, und als sie zu schwitzen anfing, hatte dieses Pulver wie in die Augen gestreuter Pfeffer zu brennen begonnen und schien sie von den Schultern abwärts zu bedecken. Oh, Licht, es brannte!
Es offenbarte ihre Verzweiflung, daß sie das Licht anrief, aber sie hatten sie trotz all ihrer Bemühungen nicht gebrochen. Sie würde freikommen — das würde sie! —, und wenn das geschähe, würde sie diese Wilden mit Blut bezahlen lassen! Ströme von Blut! Ozeane! Sie würde sie alle lebendig häuten lassen! Sie würde...! Sie warf den Kopf zurück und heulte. Die zusammengerollten Tücher in ihrem Mund dämpften den Laut, aber sie heulte, und sie wußte nicht, ob sie ihren Zorn herausschrie oder um Gnade flehte.
Als ihr Heulen erstarb und ihr Kopf vornüber sank, sprangen Belinde und die Töchter des Speers auf. Sevanna trat hinzu. Galina bemühte sich, ihr Schluchzen vor der blonden Frau zu unterdrücken, aber sie hätte ebensogut versuchen können, die Sonne mit bloßen Fingern vom Himmel zu pflücken. »Hört, wie sie winselt und plärrt«, höhnte Sevanna, die unter sie getreten war. Galina versuchte, Sevannas verächtlichen Blick gleichermaßen zu erwidern. Sevanna behängte sich mit Schmuck, der für zehn Frauen genügt hätte! Sie trug eine so weit geöffnete Bluse, daß ihr Busen fast bloßlag, wären nicht all diese nicht zusammenpassenden Halsketten gewesen, und sie atmete tief ein, wann immer Männer sie ansahen! Galina versuchte es, aber es war schwer, Verachtung zu zeigen, wenn zusammen mit dem Schweiß Tränen die Wangen hinabliefen. Sie bebte vor Schluchzen, so daß der Sack schwang.
»Diese Da'tsang ist zäh wie ein altes Mutterschaf«, kicherte Belinde, »aber ich fand immer, daß selbst das zäheste alte Mutterschaf durch langsames Kochen mit den richtigen Kräutern zart wird. Als ich eine Tochter des Speers war, bekam ich sogar Steinsoldaten durch stundenlanges Kochen weich.« Galina schloß die Augen. Sie würden mit Ozeanen von Blut bezahlen...
Der Sack wankte, und Galina öffnete ruckartig die Augen, als er herabzusinken begann. Die Töchter des Speers hatten das Seil über dem Ast gelöst, und zwei von ihnen ließen sie langsam herab. Sie schlug wild um sich, versuchte hinabzublicken und begann vor Erleichterung fast erneut zu schluchzen, als sie sah, daß die Kohlenpfanne beiseite geschoben worden war. Als Belinde vom Kochen sprach... Etwas Derartiges würde Belindes Schicksal sein, beschloß Galina. An einen Spieß gebunden und über einem Feuer gedreht, bis ihre Lebenssäfte herabtropften! Das als Anfang!
Der Ledersack landete mit einem Ruck, der Galina aufstöhnen ließ, auf dem Boden und kippte um. Die Töchter des Speers schüttelten sie so unbekümmert, als wäre es ein Sack Kartoffeln, auf das braune Unkraut, durchschnitten die Fesseln um ihre Daumen und Zehen und nahmen ihr den Knebel aus dem Mund. Schmutz und totes Laub blieben an dem sie bedeckenden Schweiß kleben.
Sie wollte so gern aufstehen, um ihnen allen offenen Blickes zu begegnen. Statt dessen richtete sie sich nur auf Hände und Knie auf und grub ihre Finger und Zehen in die Laubdecke des Waldbodens. Hätte sie sich noch weiter erhoben, hätte sie ihre Hände nicht daran hindern können, ihre rote, brennende Haut zu besänftigen. Der Schweiß brannte wie Pfeffer. Sie konnte nur am Boden kauern, zittern, versuchen, ihren Mund wieder zu befeuchten und ihren Träumen nachhängen, was sie diesen Wilden antun würde.
»Ich hätte Euch für stärker gehalten«, sagte Sevanna über ihr nachdenklich, »aber womöglich hat Belinde recht. Vielleicht seid ihr jetzt weich genug. Wenn Ihr schwört, mir zu gehorchen, könnt Ihr aufhören, eine Datsang zu sein. Vielleicht werdet Ihr nicht einmal eine Gai'schain sein müssen. Schwört Ihr, mir in allem zu gehorchen?«
»Ja!« Das rauh ausgestoßene Wort erklang ohne Zögern von Galinas Zunge, obwohl sie schlucken mußte, bevor sie mehr sagen konnte. »Ich werde gehorchen! Ich schwöre es!« Also würde sie gehorchen, bis sie ihr die Gelegenheit gaben, die sie brauchte. Mehr war nicht nötig? Nur ein Schwur, den sie schon am ersten Tag geleistet, hätte? Sevanna würde erfahren, was es hieß, über heißen Kohlen zu hängen. O ja, sie...
»Dann werdet Ihr nichts dagegen haben, den Schwur hierauf zu leisten«, sagte Sevanna und warf etwas vor ihr auf den Boden.
Galinas Kopfhaut kribbelte, als sie darauf schaute. Eine weiße Rute wie poliertes Elfenbein, einen Fuß lang und nicht dicker als ihr Handgelenk. Dann sah sie die in das ihr zugewandte Ende eingeritzten fließenden Markierungen, Zahlzeichen, die im Zeitalter der Legenden benutzt wurden. Einhundertelf. Sie glaubte zuerst, es sei die Eidesrute, irgendwie aus der Weißen Burg entwendet. Sie war ebenfalls markiert, aber mit dem Zahlzeichen Drei, und einige glaubten, daß es für die Drei Eide stünde. Vielleicht war dies nicht, was es schien. Vielleicht. Und doch hätte keine dort zusammengerollte Natter aus den Versunkenen Landen sie so vollkommen erstarren lassen können.
»Ein hübscher Schwur, Sevanna. Wann wolltet Ihr es uns anderen erzählen?«
Diese Stimme ließ Galina ruckartig den Kopf heben. Sie hätte ihren Blick auch von einer Kobra losgelöst.
Zwischen den Bäumen erschien Therava an der Spitze von zwölf Weisen Frauen mit kalten Mienen. Sie blieben hinter ihr stehen und stellten sich Sevanna gegenüber. Jede der jetzt anwesenden Frauen außer den Töchtern des Speers war dabeigewesen, als man Galina dazu verurteilt hatte, das schwarze Gewand zu tragen. Ein Wort von Therava, ein kurzes Nicken von Sevanna, und die Töchter des Speers verschwanden rasch. Galina schwitzte noch immer, aber plötzlich erschien ihr die Luft kühl.
Sevanna schaute zu Belinde, die ihren Blick mied. Sie schürzte die Lippen, halbwegs höhnisch, halbwegs zornig, und stemmte die Fäuste in die Hüften. Galina verstand nicht, woher sie den Mut nahm, da sie die Macht überhaupt nicht lenken konnte. Einige dieser Frauen besaßen nicht unerhebliche Stärke. Nein, sie konnte es sich nicht leisten, an sie nur als an Wilde zu denken, wenn sie entkommen und Rache üben wollte. Therava und Someryn waren stärker als jede andere Frau in der Burg, und jede von ihnen hätte ohne weiteres eine Aes Sedai sein können.
Aber Sevanna stand ihnen herausfordernd gegenüber. »Ihr habt anscheinend schnell Recht gesprochen«, sagte sie mit staubtrockener Stimme.
»Es war eine einfache Angelegenheit«, erwiderte Tion ruhig. »Die Mera'din erfuhren gerechte Behandlung.«
»Und man hat ihnen gesagt, sie erführen sie trotz Eures Versuches, uns zu beeinflussen«, fügte Rhiale beinahe hitzig hinzu. Sevannas Zorn wurde deutlicher.
Therava wollte sich von ihrem Vorhaben jedoch nicht ablenken lassen. Sie erreichte Galina mit einem schnellen Schritt, ergriff eine Handvoll ihres Haars, zog sie mit einem Ruck auf die Knie und bog ihren Kopf zurück. Therava war beileibe nicht die größte dieser Frauen, und doch ragte sie höher auf als die meisten Männer und blickte mit den Augen eines Falken herab, vertrieb jeglichen Gedanken an Rache oder Widerstand. Die weißen Strähnen in ihrem dunkelroten Haar ließen ihr Gesicht nur noch herrischer wirken. Galina ballte die Hände auf den Oberschenkeln zu Fäusten, und ihre Nägel bohrten sich in die Handflächen. Selbst das Brennen ihrer Haut wurde unter diesem Blick abgeschwächt. Sie hatte davon geträumt, jede einzelne dieser Frauen zu zerbrechen, sie um den Tod flehen zu lassen und ihnen ihre Bitte lachend zu verweigern. Alle außer Therava. Sie erfüllte nachts ihre Träume, und Galina konnte nur zu fliehen versuchen. Aber die einzige Flucht bestand darin, schreiend aufzuwachen. Galina hatte starke Männer und starke Frauen zerbrochen, aber jetzt starrte sie mit geweiteten Augen zu Therava hoch und wimmerte.
»Sie besitzt keine Ehre, welche beschämt werden könnte.« Therava spie diese Worte fast aus, »Wenn Ihr wollt, daß sie gebrochen wird, Sevanna, dann überlaßt sie mir. Wenn ich mit ihr fertig bin, wird sie auch ohne das Spielzeug Eures Freundes Caddar gehorchen.«
Sevanna leugnete empört die Freundschaft mit diesem Caddar, wer immer er war. Rhiale fauchte, Sevanna hätte ihn zu den anderen gebracht, und die anderen Frauen begannen darüber zu streiten, ob der ›Binder‹ besser funktionieren würde als die ›Reisekammer‹.
Ein kleiner Teil von Galinas Verstand klammerte sich an die Erwähnung der Reisekammer. Sie hatte schon zuvor davon sprechen hören und sehnte sich danach, sie nur einen Moment in die Hände zu bekommen. Mit solch einem Ter'angreal würde sie befähigt zu Reisen, wie unzuverlässig es anscheinend auch war. Sie könnte... Keinerlei Hoffnung auf Flucht vermochte den Gedanken darüber standzuhalten, was Therava ihr antun würde, wenn die anderen beschlossen, der Bitte der Frau nachzukommen. Als die Weise Frau mit den Falkenaugen ihr Haar losließ, um sich an dem Gespräch zu beteiligen, warf sich Galina auf die Rute. Alles, selbst Sevanna gehorchen zu müssen, war besser, als Therava übergeben zu werden. Wäre sie nicht abgeschirmt gewesen, hätte sie die Macht gelenkt, um die Rute zu aktivieren.
Kaum umschlossen ihre Finger das glatte Material, als Therava einen Fuß darauf setzte und ihre Hände schmerzhaft auf dem Boden festhielt. Keine der Weisen Frauen blickte auch nur zu Galina hin, die sich windend dalag und nutzlos freizukommen versuchte. Sie konnte sich nicht dazu bringen, allzu fest an ihrer Hand zu ziehen. Sie konnte sich dunkel daran erinnern, daß Herrscher ängstlich vor ihr erblaßt waren, aber sie wagte es nicht, den Fuß dieser Frau zu bewegen.
»Wenn sie schwören soll«, sagte Therava und sah Sevanna streng an, »sollte sie schwören, uns allen hier zu gehorchen.« Alle außer Belinde, die nachdenklich die Lippen schürzte, äußerten Zustimmung.
Sevanna erwiderte Theravas Blick ebenso streng. »Gut«, pflichtete sie ihr schließlich bei. »Aber mir zuerst. Ich bin nicht nur eine Weise Frau, ich spreche auch als Clanhäuptling.«
Therava lächelte dünn. »Das stimmt. Zweien unter uns zuerst, Sevanna. Euch und mir.« Sevannas Miene wurde keinen Deut weniger herausfordernd, aber sie nickte widerwillig. Erst da nahm Therava ihren Fuß fort. Das Licht Saidars umgab sie, und ein Strang Geist berührte die Zahlzeichen am Ende der Rute in Galinas Händen, genau wie es mit der Eidesrute gemacht wurde.
Galina zögerte einen Moment und krümmte die gequetschten Finger. Es fühlte sich auch genauso an wie bei der Eidesrute: nicht ganz wie Elfenbein, nicht ganz wie Glas, aber entschieden kühl an den Handflächen. Wenn es eine zweite Eidesrute war, konnte sie auch verwendet werden, um jeden Eid, den sie jetzt leistete, rückgängig zu machen, sofern sie die Gelegenheit bekäme. Sie wollte kein Wagnis eingehen, wollte auf jeden Fall Therava gegenüber keinen Eid leisten. In ihrem bisherigen Leben hatte stets sie befohlen. Das Leben seit ihrer Gefangennahme war elend gewesen, aber Therava konnte sie zum Schoßhund machen! Wenn sie den Eid jedoch nicht leistete —würden sie zulassen, daß Therava sie zerbrach? Sie hegte nicht den geringsten Zweifel, daß die Frau genau das tun würde.
»Unter dem Licht und bei meiner Hoffnung auf Erlösung und Wiedergeburt« — sie glaubte nicht mehr an das Licht oder an eine Hoffnung auf Erlösung, und es war nicht nötig, mehr als ein einfaches Versprechen zu geben, aber sie erwarteten einen starken Eid —»schwöre ich, jeder hier anwesenden Weisen Frau in allem zu gehorchen, insbesondere Therava und Sevanna,« Die letzte Hoffnung, daß dieser ›Binder‹ etwas anderes wäre, schwand, als Galina spürte, wie sich der Eid um sie legte, als trüge sie plötzlich ein Kleidungsstück, welches sie von Kopf bis Fuß viel zu fest bedeckte. Sie warf den Kopf zurück und schrie, weil es plötzlich schien, als würde ihr die brennende Haut tief ins Fleisch gedrückt, aber hauptsächlich aus purer Verzweiflung.
»Seid still!« befahl Therava scharf. »Ich will Euer Jammern nicht hören!« Galina biß geräuschvoll die Zähne zusammen, biß sich dabei auf die Zunge und kämpfte darum, ihr Schluchzen zu unterdrücken. Jetzt war nur noch Gehorsam möglich. Therava sah sie stirnrunzelnd an. »Dann wollen wir einmal sehen, ob es wahrhaftig wirkt«, murrte sie und beugte sich näher heran. »Habt Ihr eine Gewalttat gegen irgendeine der hier anwesenden Weisen Frauen geplant? Antwortet wahrheitsgemäß und bittet um Strafe, wenn dem so ist. Die Strafe für Gewalt gegen eine Weise Frau«, fügte sie wie als Nachgedanken hinzu, »mag darin bestehen, wie ein Tier getötet zu werden.« Sie zog einen Finger ausdrucksvoll über ihre Kehle und ergriff dann mit derselben Hand ihren Gürteldolch.
Galina rang in panischer Angst nach Luft und scheute vor der Frau zurück. Sie konnte ihren Blick jedoch nicht von Therava lösen, und sie konnte die Worte nicht aufhalten, die sie zitternd ausstieß. »D-d-das habe ich geplant, g-gegen Euch alle! B-bitte b-bestraft mich d-dafür!« Würde man sie jetzt töten? Sollte sie nach alledem hier sterben?
»Anscheinend wirkt der ›Binder‹ so, wie Euer Freund behauptet hat, Sevanna.« Therava nahm Galina die Rute aus den schlaffen Händen und steckte sie hinter ihren Gürtel, während sie sich aufrichtete. »Und anscheinend werdet Ihr nun doch Weiß tragen, Galina Casban.« Aus einem unbestimmten Grund lächelte sie darüber erfreut. Aber sie sprach noch weiter. »Ihr werdet Euch demütig verhalten, wie es einer Gai'schain geziemt. Wenn ein Kind Euch befiehlt zu springen, werdet Ihr springen, es sei denn, jemand von uns hat etwas anderes gesagt. Und Ihr werdet Saidar nicht berühren und nicht die Macht lenken, es sei denn, jemand von uns befiehlt es Euch. Laßt den Schild los, Belinde.«
Der Schild verschwand, und Galina kniete am Boden und blickte ins Leere. Die Quelle schimmerte quälend gerade außer Sicht. Sie hätte ebensogut versuchen können, Flügel zu entwickeln, wie sich danach auszustrecken.
Armbänder klirrten, als Sevanna zornig ihre Stola richtete. »Ihr nehmt Euch zuviel heraus, Therava. Es gehört mir; gebt es mir!« Sie streckte die Hand aus, aber Therava kreuzte nur die Arme unter der Brust.
»Es hat Treffen der Weisen Frauen gegeben«, belehrte die Frau mit dem unbeugsamen Blick Sevanna.
»Wir sind zu gewissen Entscheidungen gelangt.« Die Frauen, die mit ihr gekommen waren, versammelten sich hinter ihr und stellten sich Sevanna alle gegenüber. Belinde schloß sich ihnen eilig an.
»Ohne mich?« fauchte Sevanna. »Wagt eine von Euch, eine Entscheidung ohne mich zu treffen?« Ihr Tonfall blieb so fest wie je, aber ihr Blick zuckte zu der Rute hinter Theravas Gürtel, und Galina glaubte bei ihr Unbehagen zu bemerken. Zu einem anderen Zeitpunkt hätte sie es mit Freuden registriert.
»Eine Entscheidung mußte ohne Euch getroffen werden«, sagte Tion mit tonloser Stimme.
»Ihr sprecht als Clanhäuptling, wie Ihr so häufig betont«, fügte Emerys hinzu, ein spöttisches Funkeln in den großen grauen Augen. »Weise Frauen müssen manchmal miteinander sprechen, ohne daß ein Clanhäuptling zuhört. Oder jemand, der als Clanhäuptling spricht.«
»Wir haben beschlossen«, sagte Therava, »daß Ihr den Rat einer Weisen Frau ebenso braucht wie ein Clanhäuptling. Ich werde Euch beraten.«
Sevanna richtete ihre Stola und betrachtete die ihr gegenüberstehenden Frauen. Ihre Miene war unlesbar. Wie machte sie das? Sie konnten sie wie ein Ei unter einem Hammer zerschmettern. »Und welchen Rat gebt Ihr mir, Therava?« fragte sie schließlich mit eisiger Stimme.
»Mein dringender Rat lautet, unverzüglich aufzubrechen«, erwiderte Therava ebenso eisig. »Diese Seanchaner sind zu nahe und in der Überzahl. Wir sollten nach Norden in die Verschleierten Berge ziehen und ein Lager errichten. Von dort können wir Gruppen auf die Suche nach den anderen Septimen schicken. Es könnte lange dauern, die Shaido wieder zu vereinen, Sevanna. Euer Feuchtländer-Freund hat uns vielleicht in alle neun Ecken der Welt verstreut. Bis zur Wiedervereinigung sind wir verwundbar.«
»Wir werden morgen aufbrechen.« Wäre Galina sich nicht sicher gewesen, Sevanna in- und auswendig zu kennen, hätte sie geglaubt die Frau klänge sowohl verdrießlich als auch ärgerlich. Ihre grünen Augen blitzten. »Wir ziehen jedoch ostwärts. Auf diese Weise entfernen wir uns auch von den Seanchanern, und die Länder im Osten sind im Aufruhr, reif zum Pflücken.«
Es entstand ein langes Schweigen. Dann nickte Therava. »Ostwärts.« Sie sprach das Wort sanft aus, die Sanftheit von seidenverhülltem Stahl. »Aber denkt daran, daß Clanhäuptlinge stets bedauern mußten, wenn sie den Rat einer Weisen Frau zu häufig abwiesen. Das könnte auch Euch passieren.« Ihre Miene drückte gleichermaßen Drohung aus wie ihre Stimme, und doch lachte Sevanna!
»Denkt Ihr daran, Therava! Denkt Ihr alle daran! Wenn ich den Geiern überlassen werde, gilt das für Euch alle ebenfalls! Dafür habe ich gesorgt,«
Alle Frauen außer Therava wechselten besorgte Blicke, und Modarra und Norlea runzelten die Stirn.
Auf Knien zusammengesunken und wimmernd in dem vergeblichen Versuch, ihre brennende Haut mit den Händen zu besänftigen, fragte Galina sich, was diese Drohungen bedeuteten. Der Gedanke bahnte sich seinen Weg nur mühsam durch Verbitterung und Selbstmitleid. Alles, was sie gegen diese Frauen verwenden könnte, wäre willkommen. Wenn sie es zu benutzen wagte. Ein bitterer Gedanke.
Sie erkannte jäh, daß sich der Himmel verfinsterte. Wolken zogen von Norden heran, grau und schwarz gestreift, und verdunkelten die Sonne. Doch aus den Wolken fielen in der Luft umherwirbelnde Schneeschauer. Sie erreichten den Boden nicht, kamen kaum bis zu den Baumspitzen, aber Galina riß den Mund auf. Schnee! Hatte der Große Herr seinen Griff um die Welt aus einem unbestimmten Grund gelockert?
Die Weisen Frauen starrten ebenfalls mit offenem Mund in den Himmel, als hätten sie noch niemals Wolken, geschweige denn Schnee gesehen.
»Was ist das, Galina Casban?« verlangte Therava zu wissen. »Sprecht, wenn Ihr es wißt!« Sie wandte den Blick nicht vom Himmel ab, bis Galina ihr erklärte, es sei Schnee, und als sie sich abwandte, tat sie es lachend. »Ich habe bereits vermutet, daß die Männer, die Laman Baummörder niederstreckten, mit ihren Erzählungen über Schnee gelogen hätten. Dies könnte nicht einmal eine Maus behindern!«
Galina versagte es sich, sie über wahre Schneefälle aufzuklären, erschreckt, daß sie beinahe um Gunst gebuhlt hatte. Erschreckt auch über das geringe Vergnügen daran, ihr Wissen zurückgehalten zu haben. Ich bin die Höchste der Roten Ajah! mahnte sie sich selbst. Und ich bekleide einen hohen Rang der Schwarzen Ajah! Es klang wie Lügen. Es war nicht richtig!
»Da wir hier fertig sind«, sagte Sevanna, »werde ich die Gai'schain zurückbringen und dafür sorgen, daß sie weiße Kleidung bekommt. Ihr könnt hierbleiben und den Schnee anstarren, wenn Ihr wollt.« Ihre Stimme klang so butterweich, daß niemand geglaubt hätte, sie könnte nur Augenblicke früher schrill geklungen haben. Sie schlang sich ihre Stola über die Ellbogen und richtete einige ihrer Halsketten. Nichts auf der Welt kümmerte sie mehr.
»Wir werden uns um die Gai'schain kümmern«, erwiderte Therava ebenso weich. »Da Ihr als Clanhäuptling sprecht, habt Ihr noch einen langen Tag und den größten Teil der Nacht vor Euch, wenn wir morgen aufbrechen wollen.« Sevannas Augen blitzten noch einmal kurz auf, aber Therava schnippte nur mit den Fingern und vollführte eine scharfe Geste zu Galina, bevor sie sich zum Gehen wandte. »Kommt mit mir«, sagte sie. »Und hört auf zu schmollen.«
Galina erhob sich mühsam mit gesenktem Kopf und folgte eilig Therava und den anderen Frauen, welche die Macht lenken konnten. Schmollen? Sie hatte vielleicht die Stirn gerunzelt, aber niemals geschmollt! Ihre Gedanken rasten wie Ratten im Käfig, ohne eine Hoffnung auf Flucht zu entdecken. Es mußte Hoffnung geben! Es mußte eine geben! Ein Gedanke, der in all dem Tumult an die Oberfläche gelangte, ließ sie fast wieder in Tränen ausbrechen. Waren die Gewänder der Gai'schain weicher als das kratzige schwarze Tuch, das sie bisher hatte tragen müssen? Es mußte einen Ausweg geben! Ein schneller Blick zurück zum Wald zeigte ihr, daß Sevanna noch immer unbewegt dastand und ihnen nachsah. Über ihnen wirbelten die Wolken umher, aber der herabfallende Schnee schmolz wie Galinas Hoffnungen dahin.