29 Ein Becher Schlaf

Sei kein solcher Wollkopf, Rand!« Min zwang sich sitzen zu bleiben, schlug die Beine übereinander und wippte müßig mit einem Fuß, aber sie konnte die Verärgerung nicht aus ihrer Stimme verbannen. »Geh zu ihr! Sprich mit ihr!«

»Warum?« fauchte er. »Ich weiß jetzt, woran ich bin. Es ist besser so. Sie ist jetzt in Sicherheit. Vor jedermann, der mich angreifen will. Und sicher vor mir! Es ist besser so!« Aber er schritt in Hemdsärmeln zwischen den zwei Stuhlreihen vor dem Drachenthron auf und ab, die Fäuste so angespannt, daß die Knöchel weiß hervortraten, und finsterer dreinblickend als die schwarzen Wolken außerhalb der Fenster, die eine neue Schneedecke über Cairhien breiteten.

Min wechselte Blicke mit Fedwin Morr, der an den mit Sonnen verzierten Türen stand. Die Töchter des Speers ließen jetzt jedermann, der keine offensichtliche Bedrohung bedeutete, unangekündigt herein, aber jene, die Rand heute morgen nicht sehen wollte, würden von dem stämmigen Jungen fortgeschickt werden. Er trug den Drachen und das Schwert an seinem schwarzen Kragen, und Min wußte, daß er bereits mehr blutige Schlachten miterlebt hatte als die meisten Männer, die dreimal so alt waren wie er, und doch war er noch ein Junge. Heute wirkte er, während er Rand beklommene Blicke zuwarf, jünger denn je. Das Schwert an seiner Hüfte empfand Min noch immer als fehl am Platz.

»Der Wiedergeborene Drache ist ein Mann, Fedwin«, sagte sie. »Und wie alle Männer trotzt er, wenn er glaubt, eine Frau wollte ihn nicht wiedersehen.«

Rand blieb stehen und sah sie mürrisch an. Nur das Wissen, daß er sehr realen Schmerz verbarg, hielt sie davon ab zu lachen. Das und das genauso sichere Wissen, daß er ebenso verletzt gewesen wäre, wenn sie getan hätte, was getan worden war. Nicht daß sie jemals die Gelegenheit bekäme, seine Banner niederzureißen, aber der Vergleich stimmte. Rand war zunächst von den Neuigkeiten, die Taim in der Dämmerung aus Caemlyn brachte, wie benommen gewesen, aber bald nachdem der Mann gegangen war, hatte er aufgehört, schweigend vor sich hin zu brüten und hatte ... hiermit begonnen!

Sie stand auf, richtete ihre hellgrüne Jacke, kreuzte die Arme unter den Brüsten und stellte sich unmittelbar vor ihn. »Was sonst kann es sein?« fragte sie ruhig. Nun, sie versuchte, ruhig zu sein, und es gelang ihr beinahe. Sie liebte den Mann, aber nach diesem Morgen hätte sie ihn am liebsten kräftig geohrfeigt. »Du hast Mat nicht erwähnt, und du weißt nicht einmal, ob er überhaupt noch lebt.«

»Mat lebt«, murrte Rand. »Ich würde es wissen, wenn er tot wäre. Was meinst du damit, ich würde ...!« Er biß die Zähne zusammen, als könnte er sich nicht dazu bringen, das Wort auszusprechen.

»Trotzen«, half sie ihm. »Und bald wirst du schmollen. Einige Frauen finden Männer hübscher, wenn sie schmollen. Ich gehöre nicht dazu.« Nun, genug davon. Seine Miene hatte sich verdüstert, doch er errötete nicht. »Hast du nicht dafür gesorgt, daß sie den Thron von Andor bekam? Der rechtmäßig ihr gehört, könnte ich noch hinzufügen. Hast du nicht gesagt, du wolltest, daß sie Andor ganz bekommt und nicht zerrissen wie Cairhien oder Tear?«

»Das habe ich gesagt!« brüllte er. »Und jetzt gehört es ihr, und sie will, daß ich es verlasse. Ich würde sagen, das reicht! Und sag mir nicht wieder, ich solle aufhören zu brüllen! Ich brülle nicht...!« Er erkannte, daß er es doch tat, und schloß geräuschvoll den Mund. Ein lautes Grollen drang aus seiner Kehle. Morr betrachtete eingehend einen seiner Knöpfe und drehte ihn hin und her. Er hatte das heute morgen schon häufiger getan.

Min behielt eine ausdruckslose Miene bei. Sie würde ihn nicht schlagen, und er war zu groß, als daß sie ihm hätte den Hintern versohlen können. »Andor gehört ihr, genau wie du es wolltest«, sagte sie beinahe ruhig. »Keiner der Verlorenen wird sie jetzt noch behelligen, da sie dein Banner niedergerissen hat.« Ein gefährliches Leuchten trat in seine blaugrauen Augen, aber sie fuhr bestimmt fort. »Genau wie du es wolltest. Du kannst doch nicht wirklich glauben, daß sie sich auf die Seite deiner Feinde stellt? Andor wird dem Wiedergeborenen Drachen folgen, und das weißt du. Also bist du nur aus dem Grund verdrossen, weil du glaubst, sie wolle dich nicht sehen. Geh zu ihr, du Narr!« Die nächsten Worte fielen ihr am schwersten. »Sie wird dich küssen, bevor du auch nur zwei Worte gesagt hast.« Licht, sie liebte Elayne fast so sehr wie Rand — auf andere Weise vielleicht ebensosehr —, aber wie sollte eine Frau mit einer wunderschönen, blonden Königin konkurrieren, die auf Abruf eine mächtige Nation zur Verfügung hatte?

»Ich bin nicht... verdrossen«, sagte Rand mit angespannter Stimme und begann erneut, auf und ab zu gehen. Min erwog, ihn fest in den Hintern zu treten.

Eine der Türen öffnete sich, und die weißhaarige Sorilea trat ein. Sie fegte Morr beiseite, noch während er zu Rand schaute, um festzustellen, ob dieser ihr Eintreten erlaubte. Rand öffnete den Mund — verdrossen, was auch immer er sonst behauptete —, während fünf Frauen in dicken schwarzen Gewändern, die vom schmelzenden Schnee feucht waren, der Weisen Frau in den Raum folgten, die Hände gefaltet, die Blicke gesenkt und die Kapuzen einen Teil ihrer Gesichter verbergend. Ihre Füße waren in Lumpen gewickelt.

Mins Kopfhaut kribbelte. Sie sah Bilder und Auren um alle sechs Frauen wie auch um Rand tanzen, wieder verschwinden und ersetzt werden. Sie hatte gehofft, er hätte vergessen, daß jene fünf noch lebten. Was, im Namen des Lichts, tat diese unberechenbare alte Frau?

Sorilea vollführte mit klirrenden Gold- und Elfenbeinarmbändern eine Geste, und die fünf stellten sich hastig in einer Reihe auf der in den Steinboden eingelassenen goldenen Aufgehenden Sonne auf. Rand schritt diese Reihe entlang, streifte Kapuzen zurück und entblößte so Gesichter, die er mit kaltem Blick betrachtete. All die schwarzgewandeten Frauen waren ungewaschen und ihr Haar vor Schweiß glatt und schmutzig. Elza Penfell, eine Grüne Schwester, erwiderte seinen Blick ungeduldig, einen seltsam inbrünstigen Ausdruck auf dem Gesicht. Nesune Bihara, eine schlanke Braune, betrachtete ihn ebenso aufmerksam wie er sie. Sarene Nemdahl, selbst in ihrem schmutzigen Zustand so wunderschön, daß er glaubte, ihre Alterslosigkeit sei natürlich, schien ihre Weiße Ajah-Kühle nur mühsam beibehalten zu können. Beldeine Nyram, welche die Stola noch zu kurz trug, um die alterslosen Züge aufzuweisen, versuchte ein unsicheres Lächeln, das aber unter seinem Blick dahinschmolz. Erian Boroleos, blaß und fast so hübsch wie Sarene, zuckte zusammen und zwang sich dann deutlich sichtbar, diesem eisigen Blick standzuhalten. Die beiden letzteren waren ebenfalls Grüne, und alle fünf hatten zu den Schwestern gehört, die ihn auf Elaidas Befehl hin entführt hatten. Einige waren unter jenen gewesen, die ihn auf dem Weg nach Tar Valon gequält hatten. Rand wachte immer noch manchmal schweißgebadet und keuchend auf und murmelte etwas darüber, eingesperrt und geschlagen zu werden. Min hoffte, daß sie keine Mordgedanken in seinem Blick sah.

»Diese Frauen wurden zu Da'tsang gemacht, Rand al'Thor«, sagte Sorilea. »Ich glaube, sie empfinden jetzt zutiefste Schmach. Erian Boroleos bat als erste darum, so geschlagen zu werden, wie Ihr geschlagen wurdet, bei Sonnenaufgang und bei Sonnenuntergang, und inzwischen haben auch die anderen darum gebeten. Diese Bitte wurde gewährt. Sie haben auch alle darum gebeten, Euch nach besten Kräften dienen zu dürfen. Das Toh für ihren Verrat kann nicht erfüllt werden« — ihre Stimme klang einen Moment düsterer, denn für die Aiel war der Verrat der Entführung weitaus schlimmer als das, was sie danach getan hatten —, »aber sie wissen um ihre Schmach und möchten es zumindest versuchen. Wir haben beschlossen, Euch die Entscheidung zu überlassen.«

Min runzelte die Stirn. Rand die Entscheidung überlassen? Weise Frauen überließen Entscheidungen, die sie selbst treffen konnten, selten jemand anderem. Und Sorilea tat dies niemals. Die starke Weise Frau richtete sorgfältig die dunkle Stola um ihre Schultern und sah Rand an, als wäre diese Angelegenheit überhaupt nicht wichtig. Doch dann warf sie Min einen Blick aus kalten blauen Augen zu, und plötzlich war Min sich sicher, daß die harte alte Frau ihr das Fell über die Ohren ziehen würde, wenn sie hier das Falsche sagte. Es war keine Vision. Sie kannte Sorilea inzwischen einfach besser, als sie wollte.

Sie gab sich entschlossen der Betrachtung dessen hin, was rund um die Frauen erschien und wieder verschwand. Keine leichte Aufgabe, wenn sie so nahe beieinander standen, daß sie nicht sicher sein konnte, ob ein bestimmtes Bild zu dieser oder jener Frau gehörte. Zumindest waren die Auren einigermaßen beständig. Licht, mochte sie in der Lage sein, zumindest etwas von dem zu verstehen, was sie sah!

Rand nahm Sorileas Verkündigung kühl auf, wenn auch nur oberflächlich. Er rieb sich langsam die Hände und betrachtete nachdenklich die in seine Handflächen gebrannten Reiher. Dann betrachtete er nacheinander jedes der Aes Sedai-Gesichter und konzentrierte sich schließlich auf Erian.

»Warum?« fragte er sie mit sanfter Stimme. »Ich habe zwei Eurer Behüter getötet. Warum?« Min zuckte zusammen. Rand war vieles, aber selten sanft. Erian war eine jener wenigen, die ihn mehr als einmal geschlagen hatten.

Die blasse illianische Schwester richtete sich auf. Bilder tanzten, Auren flammten auf und erloschen, aber es war nichts, was Min lesen konnte. Mit schmutzigem Gesicht und langem, stumpfem schwarzem Haar nahm Erian all ihre Aes Sedai-Autorität zusammen und begegnete seinem Blick gleichmütig. Aber ihre Antwort war einfach und direkt. »Wir haben einen Fehler gemacht, als wir Euch gefangennahmen. Ich habe lange darüber nachgedacht. Ihr müßt in der Letzten Schlacht kämpfen, und wir müssen Euch helfen. Ich verstehe es, wenn Ihr mich nicht annehmt, aber ich werde Euch die nötige Hilfe zukommen lassen, wenn Ihr es erlaubt.«

Rand sah sie ausdruckslos an.

Er wiederholte seine aus einem Wort bestehende Frage vor jeder Schwester, und die Antworten waren so unterschiedlich wie die Frauen, die sie gaben.

»Die Grüne Ajah ist die Kampfajah«, belehrte Beldeine ihn stolz, und trotz der Flecken auf ihren Wangen und dunkler Schatten unter den Augen wirkte sie wie eine Königin der Schlachten. Aber andererseits schien dies die zweite Natur saldaeanischer Frauen zu sein. »Wenn Ihr nach Tarmon Gai'don zieht, muß die Grüne Ajah da sein. Ich werde Euch folgen, wenn Ihr mich annehmt.« Licht, sie würde einen Asha'man als Behüter binden! Wie...? Nein, das war jetzt nicht wichtig.

»Was wir getan haben, war zum damaligen Zeitpunkt folgerichtig.« Sarenes mühsam beibehaltene, kühle Klarheit wurde zu eindeutiger Sorge, und sie schüttelte den Kopf. »Ich sage das nur zur Erklärung, nicht als Entschuldigung. Die Umstände haben sich geändert. Für Euch mag der folgerichtige Verlauf vielleicht sein ...« Sie atmete zitternd ein. Bilder und Auren. Ausgerechnet eine stürmische Liebesaffäre! Die Frau war Eis, wie wunderschön sie auch war. Und es nützte nichts zu wissen, daß irgendein Mann sie dahinschmelzen lassen würde! »... uns wieder in die Gefangenschaft zurückzuschicken«, fuhr sie fort, »oder uns sogar töten zu lassen. Für mich ist es folgerichtig zu sagen, daß ich Euch dienen muß.«

Nesune neigte den Kopf, und ihre fast schwarzen Augen schienen fast jede Einzelheit Rands zu speichern. Eine rotgrüne Aura erzählte von Ehren und Ruhm. Ein großes Gebäude erschien über ihrem Kopf und verschwand wieder. Sie würde eine Bibliothek gründen. »Ich möchte mich um Euch bemühen«, sagte sie schlicht. »Und das kann ich wohl kaum tun, wenn ich Steine schleppe oder Löcher grabe. Diese Tätigkeiten lassen einem viel Zeit zum Nachdenken, aber Euch zu dienen scheint mir ein fairer Tausch für das, was ich vielleicht lernen kann.« Rand blinzelte bei der Direktheit ihrer Worte, aber seine Miene veränderte sich nicht.

Die überraschendste Antwort kam von Elza, mehr durch die Art, wie sie gegeben wurde, als durch die Worte selbst. Sie sank auf die Knie und schaute mit fiebrigen Augen zu Rand auf. Ihr ganzes Gesicht glühte vor Eifer. Auren flammten auf, und Bilder erschienen kaskadenförmig um sie herum, die aber nichts aussagten. »Ihr seid der Wiedergeborene Drache«, sagte sie atemlos. »Ihr müßt in die Letzte Schlacht ziehen. Und ich muß dabei helfen, daß Ihr in diese Schlacht ziehen könnt! Ich werde tun, was immer nötig ist!« Dann warf sie sich mit dem Gesicht auf den Boden und preßte die Lippen auf den blanken Stein vor seinen Stiefeln. Selbst Sorilea war überrascht, und Sarenes Mund stand offen. Morr starrte sie an und drehte dann rasch wieder an seinem Knopf. Min glaubte, ihn nervös kichern zu hören.

Rand wandte sich auf dem Absatz um und schritt auf den Drachenthron zu, auf dem sein Szepter und die Krone Illians auf seinem goldbestickten roten Umhang lagen. Sein Gesicht war so freudlos, daß Min zu ihm eilen wollte, gleichgültig, wer zusah, aber sie betrachtete dennoch weiterhin die Aes Sedai und Sorilea. Sie hatte noch niemals etwas wirklich Nützliches um diese weißhaarige alte Vettel herum gesehen.

Rand wandte sich jäh wieder um und schritt so rasch auf die Reihe der Frauen zu, daß Beldeine und Sarene zurückwichen. Eine scharfe Geste von Sorilea ließ sie ihren Platz augenblicklich wieder einnehmen.

»Würdet Ihr es akzeptieren, in eine Kiste eingesperrt zu werden?« Seine Stimme knirschte, Stein, der auf gefrorenem Fels mahlte. »Den ganzen Tag in einer Kiste eingeschlossen zu sein und geschlagen zu werden, bevor Ihr hineinsteigt und wenn Ihr wieder herauskommt?« Das hatten sie ihm angetan.

»Ja!« stöhnte Elza am Boden. »Ich werde tun, was immer nötig ist!«

»Wenn Ihr es verlangt«, gelang es Erian erschüttert zu antworten, und die anderen nickten mit entsetzten Mienen zögerlich.

Min betrachtete die Szene erstaunt und ballte die Hände in den Jackentaschen zu Fäusten. Es schien nur zu natürlich, daß er sich auf gleiche Weise rächen wollte, aber sie mußte dem irgendwie Einhalt gebieten. Sie kannte ihn besser als er sich selbst. Sie wußte, wo er hart wie eine Dolchklinge und wo er verletzlich war, wie sehr er es auch leugnete. Er würde sich dies niemals vergeben. Aber wie sollte sie es verhindern? Zorn verzerrte sein Gesicht, und er schüttelte den Kopf, wie er es stets tat, wenn er mit dieser Stimme in seinem Kopf stritt, die er hörte. Er murmelte ein Wort laut genug, daß sie es hören konnte: Ta'veren. Sorilea stand ruhig da und beobachtete ihn ebenso aufmerksam wie Nesune. Nicht einmal die drohende Kiste erschütterte die Braune. Bis auf Elza, die noch immer stöhnte und den Boden küßte, starrten die Frauen ihn hohläugig an, als sähen sie sich bereits vor Schmerz gekrümmt und gefesselt, wie er es gewesen war.

Unter all den um Rand und die Frauen auftauchenden Bildern flammte plötzlich eine Aura auf, blau und gelb mit Grün, die sie alle einschloß. Min erkannte ihre Bedeutung. Sie keuchte, halb überrascht, halb erleichtert.

»Sie werden dir dienen, jede auf ihre Art, Rand«, sagte sie hastig. »Ich habe es gesehen.« Sorilea würde ihm dienen? Min fragte sich jäh, was genau ›auf ihre Art‹ bedeutete. Die Worte kamen mit dem Wissen, aber sie wußte nicht immer, was die Worte selbst bedeuteten. Aber sie würden ihm dienen, soviel war sicher.

Der Zorn wich aus Rands Gesicht, während er die Aes Sedai schweigend betrachtete. Einige von ihnen sahen Min mit gewölbten Augenbrauen an und wunderten sich offensichtlich darüber, daß nur wenige Worte von ihr soviel Gewicht hatten, aber überwiegend beobachteten sie Rand, wobei sie kaum zu atmen schienen. Selbst Elza hob den Kopf, um zu ihm aufzuschauen. Sorilea warf Min einen raschen Blick zu und nickte kaum wahrnehmbar. Anerkennend, dachte Min. Also täuschte die alte Frau auf die eine oder andere Art nur vor, daß sie nichts kümmerte?

Schließlich sprach Rand. »Ihr könnt Euch mir verschwören, wie es auch Kiruna und die übrigen getan haben. Andernfalls müßt Ihr dorthin zurückgehen, wo die Weisen Frauen Euch festgehalten haben. Weniger werde ich nicht akzeptieren.« Obwohl seine Stimme fordernd klang, wirkte er, als wenn auch ihn nichts kümmerte, die Arme verschränkt, der Blick ungeduldig. Der von ihm geforderte Schwur wurde eiligst geleistet.

Min erwartete keine Ausflüchte, nicht nach ihrer Vision, und doch überraschte es sie, als sich Elza auf die Knie aufrichtete und die übrigen sich auf die Knie niederließen. In grobem Gleichklang schworen fünf weitere Aes Sedai unter dem Licht und bei der Hoffnung auf Erlösung, dem Wiedergeborenen Drachen treu zu dienen, bis die Letzte Schlacht geschlagen war. Nesune sprach die Worte aus, als erwöge sie jedes einzelne, Sarene so, als zitiere sie ein logisches Prinzip, Elza mit einem breiten, siegreichen Lächeln — aber sie alle leisteten den Schwur. Wie viele Aes Sedai würde er um sich versammeln?

Mit dem Eid schien Rand das Interesse zu verlieren. »Sucht Kleidung für sie und steckt sie zu Euren anderen ›Lehrlingen‹«, befahl er Sorilea geistesabwesend. Er runzelte die Stirn, was aber nicht ihr oder den Aes Sedai galt. »Wie viele wirst du letztendlich hinter dir haben?« Min zuckte beim Echo ihres eigenen Gedankens fast zusammen.

»Wie viele auch immer nötig sind«, sagte Sorilea trocken. »Ich glaube, es werden weitere kommen.« Sie klatschte einmal in die Hände und vollführte eine Geste, und die fünf Schwestern sprangen auf. Nur Nesune wirkte überrascht, wie bereitwillig sie gehorcht hatten. Sorilea lächelte, ein sehr zufriedenes Lächeln für eine Aiel, und Min glaubte nicht, daß es dem Gehorsam der Frauen galt.

Rand wandte sich ab. Er begann bereits wieder, auf und ab zu schreiten und wegen Elayne finster die Stirn zu runzeln. Min ließ sich erneut auf ihren Stuhl sinken und wünschte, sie hätte eines von Meister Fels Büchern zum Lesen. Oder um es auf Rand zu schleudern. Nun, eines von Meister Fei zum Lesen, und das eines anderen zum Werfen.

Sorilea trieb die schwarz gekleideten Schwestern aus dem Raum, hielt dann mit einer Hand an der Tür inne und schaute zu Rand zurück, der von ihr fort auf den vergoldeten Thron zuging. Sie schürzte nachdenklich die Lippen. »Diese Frau, Cadsuane Melaidhrin, verweilt heute wieder unter diesem Dach«, sagte sie schließlich an seinen Rücken gewandt. »Sie glaubt wahrscheinlich, ihr hättet Angst vor ihr, Rand al'Thor, so wie Ihr sie meidet.« Mit diesen Worten ging sie.

Rand stand einen langen Moment nur da und starrte auf den Thron. Oder vielleicht auf etwas Jenseitiges. Dann schüttelte er sich jäh und trat auf das Podest, um die Schwerterkrone aufzunehmen. Als er sie sich jedoch gerade aufsetzen wollte, zögerte er und legte sie auf den Thron zurück. Er zog seine Jacke an und beließ Krone und Szepter an ihrem Platz.

»Ich beabsichtige herauszufinden, was Cadsuane will«, verkündete er. »Sie kommt nicht jeden Tag zum Palast, weil sie gern durch den Schnee läuft. Kommst du mit mir, Min? Vielleicht hast du dort eine Vision.«

Sie war schneller aufgestanden als alle diese Aes Sedai. Ein Besuch bei Cadsuane wäre wahrscheinlich ebenso angenehm wie ein Besuch bei Sorilea, aber alles war besser, als allein hier zu sitzen. Außerdem hätte sie dort vielleicht wirklich eine Vision. Fedwin schloß sich ihnen mit wachsamem Blick an.

Die sechs Töchter des Speers draußen in dem hohen gewölbten Gang erhoben sich, aber sie folgten ihnen nicht. Min kannte nur Somara, die Min kurz zulächelte und Rand einen mißbilligenden Blick zuwarf. Die übrigen blickten lediglich finster drein. Die Töchter des Speers hatten seine Erklärung zunächst akzeptiert, daß er ohne sie gegangen war, um mögliche Beobachter zu der Annahme zu verleiten, er befinde sich noch in Cairhien, aber sie verlangten noch immer zu wissen, warum er nicht im nachhinein nach ihnen geschickt hatte, und Rand hatte keine Antwort gewußt. Er murrte leise etwas und beschleunigte seinen Schritt, so daß Min Mühe hatte mitzuhalten.

»Beobachte Cadsuane genau, Min«, sagte er. »Und Ihr ebenfalls, Morr. Sie verfolgt irgendeinen Aes Sedai-Plan, aber ich sei verdammt, wenn ich erkennen kann, worum es geht. Ich weiß es nicht...«

Eine Steinmauer traf Min anscheinend von hinten. Sie glaubte ein Brüllen, ein Krachen zu hören. Und dann drehte Rand sie um — sie lag auf dem Boden? —und blickte das erste Mal, seit sie sich erinnern konnte, mit Angst in diesen morgenblauen Augen auf sie herab. Sie schwand erst, als sie sich hustend aufsetzte. Die Luft war voller Staub! Und dann sah sie den Gang.

Die Töchter des Speers waren von ihrem Platz vor Rands Türen verschwunden, und auch die Türen selbst waren verschwunden, zusammen mit dem größten Teil der Wand. Eine fast ebenso große, gezackte Öffnung klaffte in der gegenüberliegenden Wand. Trotz des Staubs konnte Min genau in seine Räume schauen, die verheert waren. Überall lagen große Haufen Schutt, und durch ein gähnendes Loch in der darüberliegenden Decke sah man den Himmel. Schnee wirbelte auf die im Schutt tanzenden Flammen herab. Einer der wuchtigen Schwarzholzpfosten von Rands Bett stak brennend in den Trümmern, und sie erkannte, daß sie bis ganz hinaus zu den Stufentürmen blicken konnte, die vom herabfallenden Schnee verschleiert waren. Es war, als hätte ein riesiger Hammer in den Sonnenpalast eingeschlagen. Wenn sie dort drinnen gewesen wären anstatt auf dem Weg zu Cadsuane ... Min erschauderte.

»Was ...?« begann sie unsicher und tat die nutzlose Frage dann ab. Jeder Narr konnte sehen, was geschehen war. »Wer?« fragte sie statt dessen.

Staubbedeckt, das Haar vollkommen wirr und mit Rissen in ihren Jacken, erweckten die beiden Männer den Eindruck, als wären sie den Gang entlang gerollt worden, und vielleicht war dem auch so. Sie befanden sich alle drei gute zehn Schritt weiter als zuvor von der Stelle entfernt, wo die Türen gewesen waren. In der Ferne erklangen besorgte Rufe, die durch die Gänge hallten. Keiner der Männer antwortete ihr.

»Kann ich Euch vertrauen, Morr?« fragte Rand.

Fedwin erwiderte seinen Blick offen. »Ihr könnt mir Euer Leben anvertrauen«, sagte er schlicht.

»Genau das vertraue ich Euch auch an«, sagte Rand. Er strich mit den Fingern über Mins Wange und erhob sich dann jäh. »Beschützt sie mit Eurem Leben, Morr.« Seine Stimme klang stahlhart. Grimmig wie der Tod. »Wenn sie noch immer im Palast sind, werden sie spüren, wenn Ihr ein Wegetor zu gestalten versucht, und Euch angreifen, bevor Ihr es beenden könnt. Lenkt die Macht nicht, wenn es nicht sein muß, aber haltet Euch bereit. Bringt Min zu den Dienstbotenquartieren hinunter und tötet jeden, der zu ihr zu gelangen versucht. Jeden!«

Mit einem letzten Blick zu ihr — oh, Licht, zu jedem anderen Zeitpunkt hätte sie gedacht, sie könnte glücklich sterben, wenn sie diesen Blick in seinen Augen sah! — eilte er im Laufschritt davon, fort vom Ort der Verwüstung. Fort von ihr. Wer auch immer ihn zu töten versucht hatte, würde ihn jagen.

Morr tätschelte mit einer staubigen Hand ihren Arm und grinste sie jungenhaft an. »Macht Euch keine Sorgen, Min. Ich werde auf Euch aufpassen.«

Aber wer würde auf Rand aufpassen? Kann ich Euch vertrauen? hatte er diesen Jungen gefragt, der als einer der ersten gekommen war und darum gebeten hatte, lernen zu dürfen. Licht, wer würde auf ihn aufpassen?

Rand umrundete eine Ecke und blieb dann mit einer Hand an der Wand stehen, um die Quelle zu ergreifen. Es war töricht, daß er nicht wollte, daß Min ihn taumeln sah, wenn jemand ihn zu töten versuchte, aber es war so. Nicht einfach irgend jemand. Ein Mann, Demadred, oder vielleicht Asmodean, der doch noch zurückgekehrt war. Vielleicht auch beide. Es war seltsam gewesen, als wäre das Gewebe aus verschiedenen Richtungen entstanden. Er hatte das Lenken der Macht zu spät gespürt, um etwas dagegen zu unternehmen. In seinen Räumen wäre er gestorben. Er war bereit zu sterben. Aber Min nicht, nein, Min nicht. Elayne sollte sich besser gegen ihn wenden. Oh, Licht, das tat sie!

Er ergriff die Quelle, und Saidin durchströmte ihn mit geschmolzener Kälte und gefrorener Hitze, mit Leben und Sanftheit, Schmutz und Tod. Sein Magen rebellierte, und der Gang vor ihm krümmte sich. Er glaubte einen Moment, ein Gesicht zu sehen. Nicht mit seinen Augen. In seinem Kopf. Einen Mann, schimmernd und unscharf, und dann fort. Er schwebte voller Macht im leeren Nichts.

Du wirst nicht siegen, belehrte er Lews Therin. Wenn ich sterbe, sterbe ich selbst!

Ich hätte llyena fortschicken sollen, flüsterte Lews Therin zurück. Sie hätte überlebt.

Rand stieß die Stimme von sich, wie er sich von der Wand abstieß, und huschte mit aller ihm möglichen Verstohlenheit die Palastgänge entlang, trat vorsichtig auf, glitt nahe an den mit Gobelins behangenen Wänden entlang, um goldverzierte Truhen und vergoldete Vitrinen mit zerbrechlichem Porzellan und Elfenbeinstatuetten herum. Sein Blick suchte seine Angreifer. Sie würden nicht eher ruhen, bis sie seine Leiche vor sich hätten, aber sie würden sich seinen Räumen sehr vorsichtig nähern, falls er durch irgendeinen Ta'veren-Wirbel überlebt hätte. Sie würden abwarten, um zu sehen, ob er sich regte. Im Nichts war er so sehr verbunden mit der Macht, wie ein Mann es nur ertragen konnte. Im Nichts war er, wie mit einem Schwert, eins mit seiner Umgebung.

Wilde Schreie und Lärm erklangen aus allen Richtungen, wobei einige lauthals wissen wollten, was geschehen war, und andere riefen, der Wiedergeborene Drache sei gewiß wahnsinnig geworden. Das Knäuel Enttäuschung in seinem Kopf, das Alanna war, bot einen kleinen Trost. Sie befand sich außerhalb des Palasts, wie schon den ganzen Morgen, vielleicht sogar außerhalb der Stadtmauern. Er wünschte, das gälte auch für Min. Manchmal sah er Männer und Frauen in den Gängen, hauptsächlich schwarz livrierte Diener, die rannten, hinfielen, sich wieder aufrappelten und weiterrannten. Sie sahen ihn nicht. Mit der ihm innewohnenden Macht konnte er auch das leiseste Geräusch hören. Einschließlich des Geräuschs weicher Stiefel in leichtfüßigem Lauf.

Er lehnte sich gegen eine Wand neben einem langen, mit Porzellan bestandenen Tisch, wob rasch Feuer und Luft um sich und hielt sich in dem Umhüllenden Licht sehr still.

Ein ganzer Strom verschleierter Töchter des Speers erschien und lief, ohne ihn zu sehen, an ihm vorbei auf seine Räume zu. Er durfte nicht zulassen, daß sie ihn begleiteten. Er hatte es versprochen, aber nur, um sie kämpfen zu lassen, und nicht, um sie zur Schlachtbank zu führen. Wenn er Demandred und Asmodean fand, würden die Töchter des Speers sterben, und er mußte seiner Liste bereits fünf weitere Namen hinzufügen. Sorama von den Geneigte Bergspitze-Daryne befand sich bereits darauf. Es war ein notwendiges Versprechen gewesen, eines, das er halten mußte. Er verdiente schon für dieses Versprechen allein zu sterben!

Adler und Frauen können nur in Käfigen sicher gehalten werden, zitierte Lews Therin eine feststehende Redewendung und begann dann jäh zu weinen, als die letzte der Töchter des Speers verschwand.

Rand ging weiter und durchstreifte den Palast in weiten, sich langsam von seinen Räumen entfernenden Bögen. Das ihn Umhüllende Licht benötigte nur sehr wenig der Macht — so wenig, daß niemand die Benutzung Saidins hätte spüren können, der nicht unmittelbar darauf stieß —, und er benutzte es, wann immer jemand ihn womöglich sehen konnte. Seine Angreifer hatten den Anschlag auf seine Räume nicht zufällig ausgeführt. Sie hatten Augen-und-Ohren im Palast. Vielleicht war es sein Wirken als Ta'veren gewesen, das ihn aus seinen Räumen getrieben hatte, wenn ein Ta'veren auf sich selbst wirken konnte, und vielleicht war es auch nur ein Zufall, aber vielleicht konnte sein Zerren am Muster seine Angreifer in seine Reichweite führen, während sie ihn tot oder verletzt glaubten. Lews Therin kicherte bei dem Gedanken. Rand konnte fast spüren, wie sich der Mann erwartungsvoll die Hände rieb.

Er mußte sich noch drei Mal hinter der Macht verbergen, als verschleierte Töchter des Speers vorübereilten, und einmal, als er Cadsuane mit nicht weniger als sechs Aes Sedai auf den Fersen, von denen er keine erkannte, vor ihm den Gang entlang eilen sah. Sie schienen auf der Jagd zu sein. Eigentlich hatte er keine Angst vor der grauhaarigen Schwester. Nein, natürlich hatte er keine Angst! Aber er wartete, bis sie und ihre Freundinnen weit außer Sicht gelangt waren, bevor er sein ihn verbergendes Gewebe losließ. Lews Therin kicherte bei Cadsuane nicht. Er war totenstill, bis sie fort war.

Rand trat von der Wand fort, als sich unmittelbar neben ihm eine Tür öffnete und Ailil herausspähte. Er hatte nicht bemerkt, daß er sich in der Nähe ihrer Räume befand. Hinter ihrer Schulter tauchte eine dunkle Frau auf, mit breiten goldenen Ohrringen und einer mit Medaillons behangenen Goldkette, die über ihre linke Wange zu einem Nasenring verlief. Shalon, Windsucherin Harine din Togaras, die Gesandte der Atha'an Miere, die schon fast in dem Moment mit ihrem Gefolge in den Palast eingezogen war, als Merana ihm von der Übereinkunft berichtet hatte. Und sie traf sich mit einer Frau, die ihn vielleicht tot sehen wollte. Ihrer beider Augen traten bei seinem Anblick hervor.

Er war so freundlich wie möglich, aber er mußte sich beeilen. Nur wenige Momente, nachdem sich die Tür geöffnet hatte, versteckte er eine einigermaßen überrumpelte Ailil neben Shalon unter ihrem Bett. Vielleicht hatten sie keinen Anteil an dem, was geschah. Vielleicht. Es war jedoch besser sicherzugehen, als hinterher zu bereuen. Sie starrten ihn an, mit Knebeln im Mund, und wehrten sich gegen die Streifen Bettlaken, mit denen er sie an Händen und Füßen gefesselt hatte. Den Schild, der Shalon abschirmte, hatte er abgebunden. Es würde ungefähr einen Tag lang dauern, bevor sich der Knoten löste, aber bis dahin würde sie auch jemand finden und ihre übrigen Fesseln durchschneiden.

Da Rand sich wegen dieses Schildes sorgte, öffnete er die Tür einen Spaltbreit, so daß er den Gang überprüfen konnte, und eilte dann hinaus und den leeren Flur entlang. Er hatte der Windsucherin nicht die Möglichkeit lassen dürfen, die Macht zu lenken, aber eine Frau abzuschirmen erforderte mehr als nur ein Quentchen der Macht. Wenn einer seiner Angreifer ausreichend nahe gewesen war ... Doch er erblickte ebensowenig in den Quergängen irgend jemanden.

Fünfzig Schritt hinter Ailils Räumen öffnete sich der Gang zu einer quadratischen, mit Balustern versehenen, blauen Marmorgalerie mit breiten Treppen an beiden Enden, die auf einen quadratischen Raum mit einer hohen gewölbten Decke und derselben Galerie auf der anderen Seite hinausführte. Zehn Fuß hohe Wandteppiche mit in strengen Mustern dargestellten, dem Himmel entgegen strebenden Vögeln hingen an den Wänden. Unten stand Dashiva und sah sich um, wobei er sich unsicher die Lippen leckte. Gedwyn und Rochaid waren bei ihm! Lews Therin schwatzte vom Töten.

»... habe Euch gesagt, daß ich nichts gespürt habe«, sagte Gedwyn gerade. »Er ist tot!«

Dann erblickte ihn Dashiva oben an der Treppe.

Als einzige Warnung registrierte Rand, wie sich Dashivas Gesicht jäh boshaft verzerrte. Dashiva lenkte die Macht, und ohne Zeit zum Nachdenken zu haben, wob Rand etwas. Wie so oft, wußte er nicht was, denn etwas drang aus Lews Therins Erinnerungen empor. Rand war sich nicht einmal sicher, ob er das Gewebe vollkommen selbst gestaltete oder ob Lews Therin

Saidin ergriffen hatte, aber dennoch wob er mit Luft und Feuer und Erde einen Schild um sich. Feuer brach von Dashiva auf, zerschmetterte Marmor, schleuderte Rand in den Gang zurück und ließ ihn in seinen Kokon beschränkt umherrollen.

Dieser Kokon würde alles außer Baalsfeuer abhalten. Einschließlich der Luft zum Atmen. Rand ließ ihn keuchend los, während das Krachen der Explosionen noch immer nachklang, Staub in der Luft hing und geborstene Marmorstücke herabfielen. Außer wegen der Atemluft ließ er den Kokon auch los, weil das, was die Macht abhalten konnte, sie auch darin festhielt. Bevor er noch zum Stillstand gelangt war, lenkte er Feuer und Luft, wob sie aber vollkommen anders als für das Umhüllende Licht nötig. Dünne rote Drähte entsprangen seiner linken Hand und breiteten sich fächerförmig aus, während sie durch das sich dazwischen auftürmende Gestein zu der Stelle hindurch schnitten, an der Dashiva und die übrigen gestanden hatten. Aus seiner Linken schnellten Flammenkugeln, mit Luft verwobenes Feuer, schneller als er zählen konnte, und brannten sich durch das Gestein, bevor sie in jenem Raum explodierten. Ein beständiges, ohrenbetäubendes Brüllen ließ den Palast erbeben. Herabgesunkener Staub erhob sich abermals, und neue Steinsplitter stürzten herab.

Rand sprang jedoch fast augenblicklich auf und lief an Ailils Räumen vorbei wieder zurück. Ein Mann, der angriff und am Fleck verweilte, forderte seinen Tod heraus. Er war bereit zu sterben, aber noch nicht jetzt. Er knurrte lautlos, eilte einen weiteren Gang entlang, stieg eine enge Dienstbotentreppe hinab und landete im darunterliegenden Stockwerk.

Er arbeitete sich vorsichtig zu der Stelle vor, wo er Dashiva gesehen hatte, bereit, auch nur bei seinem flüchtigen Anblick tödliche Gewebe zu schleudern.

Ich hätte sie alle gleich zu Anfang töten sollen, schnaubte Lews Therin. Ich hätte sie alle töten sollen!

Rand ließ ihn wüten.

Der große Raum war vom Feuer verheert worden. Nur verkohlte Überreste, an denen noch Flammen züngelten, waren von den Wandteppichen geblieben, und gewaltige Vertiefungen von einem Schritt Durchmesser klafften im Boden und in den Wänden. Die Treppe, die Rand hatte hinabsteigen wollen, endete auf halber Höhe an einer zehn Fuß hohen Lücke. Aber es war kein Anzeichen von den drei Männern zu sehen. Sie würden nicht vollständig verbrannt sein. Etwas würde übriggeblieben sein.

Ein Diener in einer schwarzen Jacke streckte vorsichtig den Kopf aus einer kleinen Tür neben der Treppe an der anderen Seite des Raums. Als sein Blick auf Rand fiel, rollte er mit den Augen und sank vornüber. Eine Dienerin lugte aus einem Gang hervor, raffte dann ihre Röcke und rannte den Weg zurück, den sie gekommen war, wobei sie lauthals schrie, der Wiedergeborene Drache töte jedermann im Palast.

Rand verließ den Raum mit verzerrter Miene. Er war sehr gut darin, Menschen zu ängstigen, die ihm keinen Schaden zufügen konnten. Sehr gut im Zerstören.

Zerstören oder zerstört werden, sagte Lews Therin lachend. Wenn das deine Wahl ist — gibt es dann einen Unterschied?

Irgendwo im Palast lenkte ein Mann genug Macht, um ein Wegetor zu gestalten. Dashiva und seine Leute, die fliehen wollten? Oder die ihn dies glauben machen wollten?

Er durchschritt die Gänge des Palasts, ohne sich noch um Deckung zu kümmern, auch wenn jedermann sonst darum bemüht schien. Die wenigen Diener, die er sah, flohen schreiend. Er durchforschte jeden Gang, fast bis zum Bersten von Saidin erfüllt, voller Feuer und Eis, die ihn ebenso sicher vernichten wollten, wie Dashiva es gewollt hatte, voll des Makels, der sich den Weg in seine Seele wand. Er brauchte Lews Therins irres Lachen und seine Fieberphantasien nicht, um von dem Verlangen zu töten erfüllt zu sein.

Ein flüchtiger Blick auf eine schwarze Jacke vor ihm, und seine Hand schoß hoch, Feuer flammte auf, explodierte und riß die Ecke fort, an der zwei Gänge aufeinander trafen. Rand ließ das Gewebe verblassen, aber er ließ es nicht los. Hatte er ihn getötet?

»Mein Lord Drache«, rief eine Stimme jenseits des geborstenen Mauerwerks, »ich bin es, Narishma! Und Flinn!«

»Ich habe Euch nicht erkannt«, log Rand. »Kommt her.«

»Ihr seid wohl erzürnt«, rief Flinns Stimme. »Wir sollten vielleicht noch eine Weile warten, bis sich alle wieder beruhigt haben.«

»Ja«, sagte Rand zögernd. Hatte er wirklich versucht, Narishma zu töten? Er glaubte nicht, Lews Therin die Schuld geben zu können. »Ja, das ist vielleicht das beste. Noch eine Weile.« Es erfolgte keine Antwort. Hörte er sich entfernende Stiefelschritte? Er zwang seine Hände nach unten und wandte sich in eine andere Richtung.

Er durchsuchte den Palast stundenlang, ohne ein Zeichen von Dashiva und den anderen zu finden. Die Gänge und großen Säle, sogar die Küchen waren menschenleer. Er fand nichts und erfuhr nichts. Nein. Er erkannte, daß er etwas sehr wohl erfahren hatte. Vertrauen war ein Dolch, und das Heft war ebenso scharf wie die Klinge.

Dann fand er zum Schmerz.

Der kleine Raum mit dem gemauerten Gewölbe lag tief unter dem Sonnenpalast verborgen und war warm, obwohl kein Kamin vorhanden war, aber Min fror dennoch. Drei vergoldete Lampen auf dem kleinen Holztisch gaben ausreichendes Licht. Rand hatte gesagt, daß er sie von hier fortschaffen könnte, auch wenn jemand den Palast aus dem Boden zu reißen versuchte. Er hatte nicht geklungen, als hätte er gescherzt.

Min hielt die Krone Illians auf dem Schoß und beobachtete Rand, wie er Fedwin beobachtete. Ihre Hände legten sich fester um die Krone und lösten sich sofort wieder, als die kleinen, unter den Lorbeerblättern verborgenen Schwerter sie stachen. Seltsam, daß die Krone und das Szepter überlebt haben sollten, obwohl der Drachenthron selbst nur noch ein Haufen unter Schutt begrabener, vergoldeter Splitter war. Eine große Ledertasche neben ihrem Stuhl, an der Rands Schwertgürtel und das in der Scheide steckende Schwert lehnten, enthielt, was er noch hatte retten können. Ihrer Einschätzung nach eine überwiegend seltsame Auswahl.

Du gedankenloser Tolpatsch, dachte sie. Nicht über das nachzudenken, was unmittelbar vor dir ist, wird es nicht vertreiben.

Rand saß mit gekreuzten Beinen auf dem blanken Steinboden, noch immer von Staub und Splittern bedeckt und die Jacke zerrissen. Sein Gesicht war versteinert. Er beobachtete Fedwin, ohne einmal zu blinzeln. Der Junge saß ebenfalls auf dem Boden, die Beine von sich gestreckt. Die Zunge zwischen den Zähnen, konzentrierte er sich darauf, aus Holzklötzen einen Turm zu bauen. Min schluckte schwer.

Sie konnte sich noch immer an den Schrecken erinnern, als sie erkannte, daß der Junge, der sie ›beschützte‹, jetzt den Geist eines Kleinkinds besaß. Auch die Traurigkeit war geblieben — Licht, er war nur ein Junge! Es war nicht richtig! —, aber sie hoffte, daß Rand ihn noch immer abschirmte. Es war nicht leicht gewesen, Fedwin dazu zu bringen, mit diesen Holzklötzen zu spielen, anstatt mit der Macht Steine aus den Wänden zu ziehen, um einen › großen Turm zu Eurem Schutz‹ zu bauen. Und dann hatte sie dagesessen und ihn beschützt, bis Rand kam. Oh, Licht, sie verspürte das Verlangen zu weinen. Noch mehr um Rand als um Fedwin.

»Ihr verbergt Euch anscheinend in den Tiefen.«

Die dunkle Stimme im Eingang hatte noch nicht geendet, als Rand auch schon aufgesprungen war und Mazrim Taim gegenüberstand. Der Mann mit der Hakennase trug wie stets eine schwarze Jacke mit blaugoldenen Drachen auf den Ärmeln. Anders als die Asha'man wies er weder Schwert noch Drachen an seinem hohen Kragen auf. Sein dunkles Gesicht war fast ebenso ausdruckslos wie Rands. Als Rand ihn ansah, schien er mit den Zähnen zu knirschen. Min befreite verstohlen einen Dolch aus ihrem Ärmel. Um beide Männer tanzten gleich viele Bilder und Auren, aber es war keine Vision, die sie plötzlich vorsichtig werden ließ. Sie hatte schon früher gesehen, wie ein Mann zu entscheiden versuchte, ob er einen anderen Mann töten sollte, und jetzt sah sie es wieder.

»Ihr kommt hierher und haltet Saidin fest, Taim?« fragte Rand viel zu sanft. Taim spreizte die Hände, und Rand sagte: »So ist es besser.« Aber er entspannte sich nicht.

»Ich befürchtete nur, ich könnte versehentlich erstochen werden«, sagte Taim entschuldigend, »wenn ich durch Gänge hier herabsteige, die voller Aielfrauen sind. Sie scheinen ziemlich aufgeregt.« Sein Blick ließ Rand nicht los, aber Min war sich sicher, daß er bemerkt hatte, wie sie ihren Dolch berührte. »Was natürlich verständlich ist«, fuhr er glatt fort. »Ich kann gar nicht sagen, wie sehr ich mich freue, Euch lebend vorzufinden, nachdem ich gesehen habe, was oben geschehen ist. Ich bin gekommen, um Abtrünnige zu melden. Normalerweise hätte ich mir die Mühe nicht gemacht, aber es handelt sich um Gedwyn, Rochaid, Torval und Kisman. Sie waren wohl wegen der Ereignisse in Altara verstimmt, aber ich hätte niemals gedacht, daß sie so weit gehen würden. Ich habe keinen der Männer gesehen, die ich bei Euch ließ.« Sein Blick zuckte einen Moment zu Fedwin. Nur einen Moment. »Es gab noch ... andere ... Verluste? Ich nehme den da mit, wenn Ihr wollt.«

»Ich habe den Männern befohlen, außer Sicht zu bleiben«, sagte Rand barsch. »Und ich werde mich selbst um Fedwin kümmern. Sein Name ist Fedwin Morr, Taim — nicht ›der da‹.« Er ging rückwärts zum Tisch und nahm den zwischen den Lampen stehenden Silberbecher auf. Min hielt den Atem an.

»Die Weise Frau in meinem Dorf konnte alles heilen«, sagte Rand, während er sich neben Fedwin kniete. Irgendwie gelang es ihm, dem Jungen zuzulächeln, ohne Taim aus den Augen zu lassen. Fedwin erwiderte sein Lächeln glücklich und wollte den Becher nehmen, aber Rand hielt ihn ihm selbst an die Lippen. »Sie weiß mehr über Krauter als sonst jemand, dem ich jemals begegnet bin. Ich habe ein wenig darüber von ihr gelernt — welche Krauter giftig sind und welche nicht.« Fedwin seufzte, als Rand den Becher fortnahm und den Jungen an seiner Brust barg. »Schlaf, Fedwin«, murmelte Rand.

Es schien, als schliefe der Junge wirklich ein. Seine Augen fielen zu, und seine Brust hob und senkte sich langsamer. Noch langsamer. Bis es aufhörte. Sein Lächeln verweilte.

»Es war etwas im Wein«, sagte Rand sanft, während er Fedwin hinlegte. Mins Augen brannten, aber sie würde nicht weinen. Sie würde es nicht tun!

»Ihr seid härter, als ich dachte«, murrte Tairn.

Rand lächelte ihn mit festem, wildem Blick an. »Fügt Corlan Dashiva Eurer Liste der Abtrünnigen hinzu, Taim. Wenn ich die Schwarze Burg das nächste Mal besuche, erwarte ich, seinen Kopf an Eurem Verräterbaum zu sehen.«

»Dashiva?« wiederholte Taim mit überrascht geweiteten Augen. »Es wird Euren Wünschen gemäß geschehen. Wenn Ihr die Schwarze Burg das nächste Mal besucht.« So rasch erholte er sich, erneut aalglatt und gelassen. Wie sehr sie wünschte, sie könnte ihre Visionen von ihm entschlüsseln.

»Kehrt zur Schwarzen Burg zurück und kommt nicht wieder hierher.« Rand erhob sich und sah den anderen Mann über Fedwins Körper hinweg an. »Ich ziehe vielleicht eine Weile umher.«

Taim verbeugte sich kaum sichtbar. »Wie Ihr befehlt.«

Als sich die Tür hinter ihm schloß, atmete Min tief aus.

»Es hat keinen Sinn, Zeit zu verschwenden, und wir haben auch keine Zeit zu verschwenden.« Rand kniete sich vor sie hin, nahm die Krone und ließ sie zu den anderen Gegenständen in die Tasche gleiten. »Min, ich dachte, ich wäre das ganze Rudel Jagdhunde, das einen Wolf nach dem anderen zu Tode hetzt, aber anscheinend bin ich der Wolf.«

»Verdammt seist du«, flüsterte sie. Min verschränkte beide Hände in seinem Haar und sah ihm in die Augen. Jetzt blau, jetzt grau, jetzt ein Morgenhimmel unmittelbar vor Sonnenaufgang. Und trocken. »Du kannst weinen, Rand al'Thor. Du wirst nicht dahinschmelzen, wenn du weinst!«

»Ich habe auch keine Zeit für Tränen, Min«, sagte er sanft. »Manchmal fangen die Jagdhunde den Wolf und wünschten, es wäre ihnen nicht gelungen. Manchmal greift er sie an oder wartet im Hinterhalt. Aber zunächst muß der Wolf davonlaufen.«

»Wann brechen wir auf?« Sie ließ sein Haar nicht los. Sie würde ihn niemals loslassen. Niemals.

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