28 Rotdorn

Es schien kaum der geeignete Schauplatz für die von Elayne befürchtete Explosion. Harlon Brücke war ein stattliches Dorf mit drei Gasthäusern und ausreichend vielen Gebäuden, daß niemand auf einem Heuboden schlafen mußte. Als Elayne und Birgitte an diesem Morgen in den Schankraum hinabgingen, lächelte die Gastwirtin, Herrin Dill, ihnen herzlich zu und vollführte einen ihrem Umfang angemessenen Hofknicks. Dies geschah nicht nur, weil Elayne eine Aes Sedai war. Herrin Dill freute sich so darüber, daß ihr Gasthaus voll belegt war, obwohl die Straßen verschneit waren, daß sie vor fast jedermann knickste. Bei ihrem Eintreten verschlang Aviendha rasch das restliche Brot und den Käse ihres Frühstücks, wischte einige Krümel von ihrem grünen Gewand und langte nach ihrem dunklen Urnhang, um ihnen nach draußen zu folgen.

Die Sonne stieg gerade als niedrige, hellgelbe Scheibe über den Horizont. Nur wenige weiße, flaumige Wolken beeinträchtigten einen klaren blauen Himmel. Es war ein idealer Tag zum Reisen.

Adeleas kam die verschneite Straße herauf und zog Garenia Rosoinde, eine Frau der Schwesternschaft, am Arm mit sich. Garenia war eine Saldaeanerin mit schmalen Hüften, welche die letzten zwanzig Jahre als Krämerin verbracht hatte, obwohl sie nur wenige Jahre älter zu sein schien als Nynaeve. Ihre stark hakenförmige Nase machte sie normalerweise zu einer eindrucksvollen Erscheinung, eine Frau, die hart verhandeln konnte und keinen Deut zurückwich. Aber jetzt waren ihre dunklen, schrägstehenden Augen geweitet und ihr Mund zu lautloser Klage geöffnet. Immer mehr Frauen der Schwesternschaft folgten ihr miteinander flüsternd, die Röcke über den Schnee gerafft, und weitere schlössen sich ihnen aus allen Richtungen an. Reanne und die übrigen Frauen des Zirkels liefen mit grimmigen Mienen an der Spitze, alle außer Kirstian, die noch blasser als sonst wirkte. Auch Alise war da — mit äußerst unbewegtem Gesicht.

Adeleas blieb vor Elayne stehen und schob Garenia so grob vorwärts, daß die Frau auf Hände und Knie in den Schnee fiel, wo sie jammernd liegenblieb. Die Frauen der Schwesternschaft versammelten sich hinter ihr, während immer noch weitere herbeiströmten.

»Ich komme in dieser Angelegenheit zu Euch, weil Nynaeve beschäftigt ist«, wandte sich die Braune Schwester an Elayne. Sie meinte damit, daß Nynaeve sich irgendwo ein wenig mit Lan vergnügte, aber nicht einmal ein Lächeln erschien um Adeleas' Lippen. »Seid ruhig, Kind!« fauchte sie Garenia an, die prompt still wurde. Adeleas nickte zufrieden. »Dies ist nicht Garenia Rosoinde«, sagte sie. »Ich habe sie letztendlich erkannt. Sie ist Zarya Alkaese, eine Novizin, die unmittelbar bevor Vandene und ich beschlossen, uns zurückzuziehen und unsere Geschichte der Welt aufzuschreiben, davonlief. Sie hat es zugegeben, als ich sie zur Rede stellte. Es überrascht mich, daß Careane sie nicht vorher erkannt hat. Sie waren zwei Jahre lang zusammen Novizinnen. Das Gesetz ist hierin eindeutig, Elayne. Eine Davongelaufene muß sobald wie möglich wieder Weiß tragen und streng diszipliniert werden, bis sie zu einer angemessenen

Bestrafung zur Burg zurückgeschickt werden kann. Danach wird sie niemals wieder ans Davonlaufen denken!«

Elayne nickte gemächlich und bemühte sich, eine Antwort zu ersinnen. Ob Garenia — Zarya — erneut an Flucht dachte oder nicht, sie würde keine Gelegenheit mehr dazu bekommen. Zarya war zu stark in der Macht. Die Burg würde sie nicht gehen lassen, und wenn sie ihr ganzes restliches Leben dafür brauchte, die Stola zu erlangen. Aber Elayne erinnerte sich an etwas, das sie diese Frau hatte sagen hören, als sie ihr zum ersten Mal begegnet war. Sie hatte die Bedeutung dessen damals nicht erkannt, aber jetzt tat sie es. Wie würde Zarya das Novizinnenweiß verkraften, nachdem sie siebzig Jahre lang eigenständig gelebt hatte? Schlimmer noch, das Flüstern der Frauen der Schwesternschaft klang allmählich bedrohlich.

Sie mußte nicht lange nachdenken. Kirstian sank plötzlich auf die Knie und umklammerte mit einer Hand Adeleas' Röcke. »Ich bekenne ebenfalls«, sagte sie leise, und es war ein Wunder, daß über diese blutleeren Lippen überhaupt noch ein Laut kam. »Ich wurde vor fast dreihundert Jahren in das Novizinnenbuch eingeschrieben und bin weniger als ein Jahr später davongelaufen. Ich füge mich und ... bitte um Gnade.«

Jetzt weiteten sich Adeleas' Augen. Kirstian behauptete, aus der Weißen Burg davongelaufen zu sein, als sie selbst noch ein Kind war, wenn nicht vor ihrer Geburt! Die meisten der Schwestern glaubten die von den Frauen der Schwesternschaft angegebenen Alter noch immer nicht. Dem Anschein nach war Kirstian gerade erst in mittlerem Alter.

Dennoch erholte Adeleas sich rasch wieder. Wie alt die andere Frau auch immer war — Adeleas war ungefähr ebenso lange Aes Sedai wie jede andere der ältesten. Eine Aura von Alter und Autorität umgab sie. »Wenn das so ist, Kind«, sagte sie, wobei ihre Stimme nur leicht schwankte, »fürchte ich, daß wir auch Euch in Weiß kleiden müssen. Ihr werdet natürlich bestraft werden, aber die Strafe wird milder ausfallen, weil Ihr Euch bekannt habt.«

»Aus diesem Grund habe ich es getan.« Kirstians feste Stimme wurde durch ein schweres Schlucken etwas erschüttert. Sie war fast ebenso stark wie Zarya — keine Frau des Zirkels war schwach —, und sie würde sehr streng beaufsichtigt werden. »Ich wußte, daß Ihr mich früher oder später aufspüren würdet.«

Adeleas nickte, als wäre das nur allzu offensichtlich, obwohl Elayne sich nicht vorstellen konnte, wie man die Frau hätte ausfindig machen sollen. Sie bezweifelte sehr, daß Kirstian Chalwin der Name war, mit dem die Frau getauft worden war. Die meisten Mitglieder der Schwesternschaft glaubten jedoch an die Allwissenheit der Aes Sedai. Zumindest hatten sie daran geglaubt.

»Unsinn!« Sarainya Vostovans heisere Stimme durchschnitt das Gemurmel der Schwesternschaft. Weder ausreichend stark, um eine Aes Sedai werden zu können, noch auch nur annähernd alt genug, um einen sehr hohen Rang innerhalb der Schwesternschaft zu bekleiden, setzte sie sich dennoch trotzig von der Masse ab. »Warum sollten wir sie der Weißen Burg überlassen? Wir haben Frauen bei der Flucht geholfen, und das ist richtig so! Es gehört nicht zu den Regeln, sie zurückzubringen!«

»Beherrscht Euch!« sagte Reanne scharf. »Alise, nehmt Sarainya in Eure Obhut. Anscheinend vergißt sie zu viele der Regeln, die sie zu kennen behauptet.«

Alise sah Reanne mit noch immer unlesbarer Miene an. Alise, welche die Regeln der Schwesternschaft mit fester Hand durchsetzte. »Es gehört wirklich nicht zu unseren Regeln, Davongelaufene zurückzubringen, Reanne«, sagte sie.

Reanne zuckte zusammen, als wäre sie geschlagen worden. »Und wie sollen wir sie Eurer Ansicht nach festhalten?« fragte sie schließlich. »Wir haben Davongelaufene stets verborgen gehalten, bis wir sicher waren, daß sie nicht mehr gejagt wurden, und wenn sie vorher gefunden wurden, haben wir die Schwestern sie mitnehmen lassen. Das ist die Regel, Alise. Welche andere Regel sollen wir denn noch verletzen? Wollt Ihr vorschlagen, wir sollten uns tatsächlich gegen die Aes Sedai stellen?« Ihre Stimme verdeutlichte die Lächerlichkeit einer solchen Vorstellung, und dennoch stand Alise da und sah sie schweigend an.

»Ja!« rief jemand von den Frauen der Schwesternschaft. »Wir sind viele, und sie sind nur wenige!« Adeleas starrte ungläubig in die Menge. Elayne umarmte Saidar, obwohl sie wußte, daß die Stimme recht hatte — die Schwesternschaft hatte zu viele Mitglieder. Sie spürte, daß Aviendha die Macht ebenfalls ergriff und Birgitte sich dazu bereitmachte.

Alise schüttelte sich, als käme sie gerade zu sich, und tat dann etwas weitaus Vernünftigeres und gewiß weitaus Wirkungsvolleres. »Sarainya«, sagte sie laut, »Ihr werdet Euch bei mir melden, wenn wir heute abend rasten, mit einer Gerte, die Ihr selbst schneiden werdet, bevor wir aufbrechen!« Und dann sagte sie ebenso laut zu Reanne: »Ich werde mich Eurem Urteil stellen, wenn wir abends rasten. Ansonsten sehe ich nicht, daß sich irgend jemand bereitmacht!«

Daraufhin brachen die Frauen der Schwesternschaft rasch auf und eilten davon, um ihre Habe zusammenzuraffen, aber Elayne sah einige von ihnen dabei leise miteinander tuscheln. Als sie über die Brücke über den zugefrorenen Fluß ritten, der sich neben dem Dorf entlang wand, während Nynaeve ungläubig darüber nachsann, was sie verpaßt hatte, und nach jemandem suchte, den sie zur Verantwortung ziehen konnte, trugen Sarainya, Asra und auch Alise Gerten bei sich, während Zarya und Kirstian eiligst beschaffte weiße Gewänder unter ihren dunklen Umhängen trugen. Die Windsucherinnen zeigten auf sie und lachten schallend. Viele der Frauen der Schwesternschaft sprachen noch immer in Gruppen miteinander und schwiegen augenblicklich, wann immer eine Schwester oder ein Mitglied des Frauenzirkels sie ansah. Und sie blickten finster drein, wenn sie wiederum Aes Sedai ansahen.

Acht weitere Tage mühevollen Vorankommens durch den Schnee, wenn es aufgehört hatte zu schneien, und zähneknirschenden Abwartens in Gasthäusern, wenn es weiterhin schneite. Acht weitere Tage finsteren Brütens bei der Schwesternschaft und kalter Blicke zu den Schwestern, Tage, in denen Windsucherinnen um die Schwesternschaft und die Aes Sedai gleichermaßen herumstolzierten. Am Morgen des neunten Tages wünschte sich Elayne allmählich, alle würden einander einfach an die Kehle gehen.

Sie fragte sich, ob sie die letzten zehn Meilen nach Caemlyn ohne Mord überstünden, als Kirstian an ihre Tür klopfte und hereinfegte, ohne eine Antwort abzuwarten. Das einfache Tuchgewand der Frau war für eine Novizin nicht einmal annähernd weiß genug, und sie hatte tatsächlich einen Großteil ihrer Würde zurückerlangt, als wisse sie, daß ihre Zukunft ihre Gegenwart aufwog, aber jetzt vollführte sie einen hastigen Hofknicks und stolperte dabei fast über ihren Umhang, während ihre beinahe schwarzen Augen sie angstvoll ansahen. »Nynaeve Sedai, Elayne Sedai, Lord Lan sagt, Ihr sollt sofort zu ihm kommen«, richtete sie atemlos aus. »Er hat mir aufgetragen, mit niemandem sonst zu sprechen, und auch Ihr sollt mit niemandem sprechen.«

Elayne und Nynaeve wechselten Blicke mit Aviendha und Birgitte. Nynaeve grollte leise etwas über den Mann, der Privates nicht von Offiziellem trennen konnte, aber schon bevor sie errötete, war klar, daß sie es nicht so meinte. Elayne spürte, wie Birgitte sich konzentrierte, ein aufgelegter Pfeil, der auf ein Ziel gerichtet ist.

Kirstian wußte nicht, was Lan wollte, nur wo sie sie hinführen sollte. Es ging zu der kleinen Hütte außerhalb des Dorfes, wohin Adeleas Ispan in der Nacht zuvor gebracht hatte. Lan stand davor, sein Blick ebenso kalt wie die Luft, und wollte Kirstian nicht eintreten lassen. Als Elayne hineinging, sah sie den Grund dafür.

Adeleas lag auf der Seite neben einem umgestürzten Stuhl, und ein Becher lag nicht weit von ihrer ausgestreckten Hand auf dem rauhen Holzboden. Ihre Augen waren starr, und eine Pfütze geronnenen Blutes breitete sich von dem tiefen Schnitt in ihrer Kehle aus. Ispan lag auf einem schmalen Feldbett, die Augen starr zur Decke gerichtet. Der weit geöffnete Mund gab ihre Zähne frei, und ihre hervorstehenden Augen schienen voller Entsetzen. Es mußte Entsetzen sein, denn ein armdicker Holzpfahl ragte zwischen ihren Brüsten hervor. Der Hammer, der eindeutig dazu benutzt worden war, den Pfahl einzutreiben, lag neben dem Feldbett nahe einem dunklen Fleck, der sich bis unter das Feldbett erstreckte.

Elayne unterdrückte den starken Drang, sich zu übergeben. »Licht«, flüsterte sie. »Licht! Wer kann das getan haben? Wie konnte jemand so etwas tun?« Aviendha schüttelte verwundert den Kopf, und Lan tat nicht einmal das. Er schaute einfach in neun Richtungen gleichzeitig, als erwarte er, daß derjenige oder dasjenige, wer oder was auch immer diese Morde begangen hatte, durch eines der zwei winzigen Fenster käme, wenn nicht sogar durch die Wände. Birgitte zog ihren Gürteldolch, und ihrer Miene nach zu urteilen wünschte sie sich zutiefst, ihren Bogen mitgebracht zu haben. Dieser aufgelegte Pfeil war stärker denn je in Elaynes Kopf zu spüren.

Nynaeve blieb zunächst stehen, wo sie war, und betrachtete das Innere der Hütte. Abgesehen vom Offensichtlichen war wenig erkennbar. Ein zweiter dreibeiniger Stuhl, ein grobgezimmerter Tisch mit einer flackernden Lampe, eine grüne Teekanne und ein zweiter Becher, ein Kamin aus Feldsteinen mit erkalteter Asche — das war alles. Die Hütte war so klein, daß Nynaeve bereits mit einem Schritt am Tisch war. Sie tauchte ihren Finger in die Teekanne, führte ihn an die Zungenspitze, spie dann heftig aus und schüttete den ganzen, aus Tee und Teeblättern bestehenden Inhalt der Kanne über den Tisch. Elayne blinzelte verwundert.

»Was ist geschehen?« fragte Vandene schließlich kühl von der Tür her. Lan wollte ihr in den Weg treten, aber sie hielt ihn mit einer kleinen Geste auf. Elayne wollte einen Arm um sie legen und wurde mit einer weiteren Geste ebenfalls gehindert. Vandenes Blick blieb auf ihre Schwester gerichtet, ein ruhiger Blick aus einem gelassenen Aes Sedai-Gesicht. Die tote Frau auf dem Feldbett hätte ebensogut nicht dasein können. »Als ich Euch alle hierher eilen sah, dachte ich ... Wir wußten, daß uns nicht mehr viele Jahre blieben, aber ...« Ihre Stimme klang völlig ruhig, allerdings war kaum verwunderlich, daß es Verstellung war. »Was habt Ihr gefunden, Nynaeve?«

Mitleid wirkte an Nynaeve seltsam. Sie räusperte sich und deutete auf die Teeblätter, ohne sie zu berühren. Zwei weiße Schnitzel lagen unter den mattschwarzen Blättern. »Das ist Rotdornwurz«, sagte sie und versuchte, sachlich zu klingen. »Sie schmeckt süß, so daß man sie im Tee vielleicht nur bemerkt, wenn man weiß, was es ist, besonders wenn man viel Honig nimmt.«

Vandene nickte, ohne den Blick von ihrer Schwester abzuwenden. »Adeleas hat in Ebou Dar Gefallen an süßem Tee gefunden.«

»Ein wenig davon lindert Schmerz«, sagte Nynaeve. »So viel davon ... so viel davon tötet, wenn auch langsam. Schon ein paar Schlucke genügen.« Sie atmete tief durch und fügte hinzu: »Sie waren vielleicht noch Stunden bei Bewußtsein. Unfähig, sich zu bewegen, aber bei Bewußtsein. Entweder wollte derjenige, der dies getan hat, nicht riskieren, daß zu rasch jemand mit einem Gegenmittel käme — obwohl ich gegen ein solch starkes Gebräu keines kenne —, oder er wollte, daß eine von ihnen oder beide wüß-ten, wer sie getötet hat.« Elayne war entsetzt über die Brutalität, aber Vandene nickte nur.

»Es war vermutlich Ispan, da man mit ihr die meiste Zeit verbracht hat.« Es schien fast, als würde die weißhaarige Grüne laut nachdenken, um einem Rätsel auf die Spur zu kommen. Es beanspruchte weniger Zeit, jemandem die Kehle durchzuschneiden, als jemandem einen Pfahl durchs Herz zu treiben. Ihre Ruhe verursachte Elayne eine Gänsehaut. »Adeleas hätte niemals von jemandem etwas zu trinken angenommen, den sie nicht kannte, nicht hier draußen mit Ispan. Diese beiden Tatsachen entlarven ihre Mörderin in gewisser Weise — eine Schattenfreundin, eine aus unserer Gruppe. Eine von uns.« Elayne spürte ihr eigenes und Birgittes Entsetzen.

»Eine von uns«, stimmte Nynaeve traurig zu. Aviendha fuhr mit dem Daumen über ihre Dolchklinge, was Elayne dieses eine Mal als angemessen empfand.

Vandene bat darum, einige Augenblicke mit ihrer Schwester allein gelassen zu werden, dann setzte sie sich auf den Boden und barg Adeleas in ihren Armen, noch bevor die anderen draußen waren. Jaem, Vandenes alter Behüter, erwartete sie bereits mit einer zitternden Kirstian.

Plötzlich erklang aus der Hütte heftiges Wehklagen, der lauthals ausgestoßene Schrei einer Frau, die alles verloren zu haben glaubte. Ausgerechnet Nynaeve wandte sich um und wollte wieder hineingehen, aber Lan legte ihr eine Hand auf den Arm, und Jaem pflanzte sich mit nicht wesentlich freundlicherem Blick als Lan vor der Tür auf. Sie konnten nichts anderes tun als Vandene ihrem Schmerz zu überlassen. Und den Schmerz zu teilen, wie Elayne erkannte, als sie das Gewirr von Empfindungen in ihrem Kopf spürte, das Birgitte war. Sie erschauderte, und Birgitte legte ihr einen Arm um die Schultern. Aviendha tat es ihr von der anderen Seite gleich und bedeutete Nynaeve, sich ihnen anzuschließen, was sie nach kurzem Zögern tat. Der Mord, an den Elayne so leichthin gedacht hatte, war eingetreten. Eine ihrer Gefährtinnen war eine Schattenfreundin, und der Tag fühlte sich plötzlich unsagbar kalt an, aber die Nähe ihrer Freundinnen wärmte sie.

Obwohl sich die Windsucherinnen bescheiden unterordneten, brauchten sie für die letzten zehn düsteren Meilen nach Caemlyn durch den Schnee zwei Tage. Nicht daß sie Merilille auch nur annähernd weniger hart bedrängten. Nicht daß die Frauen der

Schwesternschaft aufhörten, miteinander zu sprechen, und nicht weiterhin in Schweigen verfielen, wann immer eine Schwester oder eines der Mitglieder des Frauenzirkels in ihre Nähe kam. Vandene, die ihrem Pferd den silberbeschlagenen Sattel ihrer Schwester aufgelegt hatte, schien fast noch ebenso gelassen wie an Adeleas' Grab, aber Jaems Blicke trugen das stille Versprechen des Todes in die Welt, das gewiß auch Vandene im Herzen trug. Elayne hätte auch dann nicht glücklicher sein können, der Mauern und Türme Caemlyns ansichtig zu werden, wenn der bloße Anblick ihr die Rosenkrone beschert und Adeleas zurückgebracht hätte.

Sogar Caemlyn, eine der großen Städte der Welt, hatte niemals zuvor eine Gruppe wie die ihre beherbergt, und als sie erst innerhalb der wuchtigen Stadtmauern aus grauem Stein gelangt waren und die Neustadt entlang breiter, schlammiger, von Menschen und Karren und Wagen bevölkerter Straßen durchquerten, erregten sie Aufmerksamkeit. Ladenbesitzer standen in ihren Eingängen und gafften. Kutscher zügelten ihre Gespanne, um sie anzustarren. Hoch aufragende Aielmänner und große Töchter des Speers beobachteten sie anscheinend von jeder Ecke aus. Die meisten Leute schienen die Aiel nicht zu bemerken, aber Elayne tat es durchaus. Sie liebte Aviendha ebenso sehr wie sich selbst, vielleicht sogar mehr, aber sie konnte keinen Gefallen an einem Heer bewaffneter Aiel finden, das durch Caemlyns Straßen zog.

Elayne verspürte allmählich das Gefühl, nach Hause zu kommen. Die Straßen folgten den Windungen der Hügel, und jede Erhebung bot eine neue Aussicht auf schneebedeckte Parks, Monumente und bunt gedeckte Türme, die in der Nachmittagssonne in hundert Farben schillerten. Schließlich befanden sie sich vor dem Königlichen Palast selbst, eine Ansammlung von hellen Erkern, goldenen Kuppeln und kunstvoll durchbrochenen Steinmetzarbeiten. Das Banner Anders, der Weiße Löwe auf rotem Feld, wehte von fast jeder Spitze, und von den übrigen wehten das Drachenbanner und das Banner des Lichts.

An den hohen, vergoldeten Palasttoren ritt Elayne in ihrem von der Reise verschmutzten grauen Reitgewand voraus. Tradition und Legende besagten, daß Frauen, die sich dem Palast beim ersten Mal in Prunk näherten, stets scheiterten. Sie hatte deutlich gemacht, daß sie dies allein tun mußte, und doch wünschte sie fast, Aviendha und Birgitte wäre es gelungen, sie umzustimmen. Die Hälfte der zwei Dutzend Wächter vor den Toren waren Töchter des Speers der Aiel, die übrigen Männer mit Helmen und blauen Jacken mit einem rotgoldenen Drachen über der Brust.

»Ich bin Elayne Trakand«, verkündete sie laut und überrascht darüber, wie ruhig sie klang. Ihre Stimme war weit zu hören, und überall auf dem großen Platz wandten sich Menschen von ihren Begleitern ab und ihr zu. Die uralte Formel ging ihr leicht von den Lippen. »Im Namen des Hauses Trakand, nach dem Recht der Abstammung von Ishara, bin ich gekommen, um den Löwenthron von Andor zu beanspruchen, wenn das Licht es will.«

Die Tore wurden weit geöffnet.

Aber es würde natürlich nicht so leicht werden. Selbst der Besitz des Palasts genügte nicht, um den Thron Anders unangefochten innezuhaben. Sie übergab ihre Begleiter der Obhut einer erstaunten Reene Harfor — sie war sehr erfreut zu sehen, daß die bereits ergrauende Haushofmeisterin, rundlich und herrschaftlich wie jede Königin, den Palast noch immer in ihren fähigen Händen hatte — und eines erlesenen Kreises von Dienern in rotweißer Livree und eilte zum Großen Saal, dem Thronsaal Andors. Dies war jedoch noch nicht Teil des Rituals. Sie hätte sich eigentlich umziehen und ihr rotes Seidengewand mit dem perlenverzierten Leibchen und den weißen Löwen auf den Ärmeln anlegen sollen, aber sie fühlte sich getrieben. Dieses Mal erhob nicht einmal Nynaeve Einwände.

Weiße, zwanzig Fuß hohe Säulen säumten die Seiten des Großen Saals. Der Raum war leer und still, aber das würde nicht lange vorhalten. Das klare Nachmittagslicht, das durch die hohen Fenster entlang den Wänden fiel, vermischte sich mit dem farbigen Licht von den in die Decke eingelassenen Fenstern, auf denen sich der Weiße Löwe von Andor mit Szenen andoranischer Siege und den frühesten Königinnen abwechselte, beginnend mit Ishara selbst, so dunkel wie jede Atha'an Miere und mit der ganzen Autorität jeder Aes Sedai. Keine Herrscherin Andors konnte ihren Status vergessen, wenn die Vorgänger, welche diese Nation gestaltet hatten, auf sie herabsahen.

Vor dem Anblick eines bestimmten Gegenstands fürchtete Elayne sich — vor der gewaltigen Ungeheuerlichkeit des ganz aus vergoldeten Drachen bestehenden Throns, den sie in Tel'amn'rhiod am Ende des Saals auf dem Podest hatte stehen sehen. Er war, dem Licht sei Dank, nicht da. Der Löwenthron stand auch nicht mehr wie eine Trophäe auf einem hohen Sockel, sondern auf seinem rechtmäßigen Platz auf dem Podest, ein wuchtiger Sessel, geschnitzt und vergoldet, aber für eine Frau gemacht. Der Weiße Löwe, mit Mondsteinen auf einem Feld aus Rubinen gestaltet, würde über dem Kopf jeder Frau aufragen, die sich auf den Thron setzte. Kein Mann konnte sich darauf wohl fühlen, weil er, wie die Legende behauptete, dann wüßte, daß er sein Schicksal besiegelt hätte. Elayne hielt es für wahrscheinlicher, daß die Erbauer einfach sichergestellt hatten, daß ein Mann nicht darauf paßte.

Sie erklomm die weißen Marmorstufen des Podests und legte eine Hand auf die Armlehne des Throns. Sie hatte kein Recht, sich darauf niederzulassen, noch nicht. So lange nicht, bis sie als Königin anerkannt würde. Aber Eide auf den Löwenthron zu schwören war ein Brauch, der so alt wie Andor selbst war. Sie mußte dem Verlangen widerstehen, einfach auf die Knie zu sinken und den Thronsitz mit Tränen zu benetzen. Sie war vielleicht mit dem Tod ihrer Mutter ausgesöhnt, aber diese Umgebung brachte dennoch allen Schmerz zurück. Sie durfte jetzt nicht zusammenbrechen.

»Unter dem Licht, ich werde dein Andenken ehren, Mutter«, sagte sie leise. »Ich werde den Namen Morgase Trakand ehren und versuchen, dem Hause Trakand nur Ehre zu machen.«

»Ich habe den Wachen befohlen, die Neugierigen fernzuhalten. Ich dachte, daß Ihr hier vielleicht eine Weile allein sein wolltet.«

Elayne wandte sich langsam zu Dyelin Taravin um, während die blonde Frau den Großen Saal herabschritt. Dyelin war eine der ersten gewesen, die ihre Mutter bei ihrem Anspruch auf den Thron unterstützt hatten. Ihr Haar war grauer, als Elayne es in Erinnerung hatte, und es waren mehr Falten um ihre Augenwinkel zu sehen als früher. Aber sie war noch immer recht hübsch, eine starke Frau. Und als Freundin oder Gegnerin gleichermaßen mächtig.

Sie blieb am Fuß des Podests stehen und schaute hinauf. »Ich höre seit zwei Tagen, daß Ihr am Leben wärt, aber ich habe es bis jetzt nicht wirklich geglaubt. Also seid Ihr gekommen, um den Thron vom Wiedergeborenen Drachen entgegenzunehmen?«

»Ich beanspruche den Thron nach meinem eigenen Recht, Dyelin, mit eigener Hand. Der Löwenthron ist kein Tand, den man von einem Mann empfängt.« Dyelin nickte, als sei dies eine selbstverständliche Wahrheit. Was es für jeden Andoraner auch war. »Wie ist Eure Position, Dyelin? Für Trakand — oder dagegen? Ich habe Euren Namen auf meinem Weg hierher oft nennen hören.«

»Da Ihr den Thron nach Eurem eigenen Recht beansprucht, bin ich dafür.« Nur wenigen Menschen gelang es, so nüchtern zu klingen wie sie. Elayne setzte sich auf die oberste Stufe des Podests und bedeutete der älteren Frau, sich ihr anzuschließen. »Es gibt natürlich einige Hindernisse«, fuhr Dyelin fort, während sie ihre blauen Röcke raffte, um sich hinzusetzen. »Es gab bereits einige Anwärter, wie Ihr vielleicht wißt. Naean und Elenia habe ich unter der Anschuldigung des Verrats sicher eingesperrt, was die meisten Leute im Moment anscheinend bereitwillig akzeptieren. Elenias Ehemann ist noch immer rege für sie tätig, wenn auch im stillen, und Arymilla, die alberne Gans, hat ebenfalls ihren Anspruch angemeldet. Sie wird von irgend jemandem unterstützt, aber nicht in dem Maße, daß es Euch bekümmern müßte. Wirklich beunruhigt sein solltet Ihr — abgesehen von den Aiel überall in der Stadt, die auf die Rückkehr des Wiedergeborenen Drachen warten — über Aemlyn, Arathelle und Pelivar. Im Moment stehen Luan und Ellorien noch hinter Euch, aber sie könnten zu jenen dreien überlaufen.«

Eine recht kurze Liste und nüchtern vorgetragen. Elayne hatte von Naean und Elenia gehört, wenn sie auch nicht gewußt hatte, daß Jarid noch immer glaubte, seine Frau habe Aussichten auf den Thron.

Arymilla war tatsächlich eine Gans, wenn sie glaubte, sie würde akzeptiert, wer auch immer sie unterstützte. Die letzten fünf Namen beunruhigten Elayne jedoch ernstlich. Jeder dieser Menschen hatte ihre Mutter ebenso stark unterstützt wie Dyelin, und jeder stand einem starken Haus vor.

»Also wollen auch Arathelle und Aemlyn den Thron einnehmen«, murmelte Elayne. »Von Ellorien kann ich es nicht glauben, nicht für sich selbst.« Pelivar handelte vielleicht für eine seiner Töchter, aber Luan hatte nur Enkelinnen, von denen keine auch nur annähernd alt genug war. »Ihr glaubt anscheinend, es könnten sich alle fünf Häuser verbünden. Unter wem?« Das bedeutete eine ernsthafte Bedrohung.

Dyelin stützte lächelnd das Kinn in die Hand. »Sie sind wohl der Meinung, ich sollte den Thron innehaben. Nun, was beabsichtigt Ihr hinsichtlich des Wiedergeborenen Drachen zu tun? Er ist schon einige Zeit nicht mehr hiergewesen, aber er kann anscheinend unverhofft aus der Luft auftauchen.«

Elayne schloß einen Moment fest die Augen, aber als sie sie wieder öffnete, saß sie noch immer auf den Stufen des Podests im Großen Saal, und Dyelin lächelte sie noch immer an. Ihr Bruder kämpfte für Elaida, und ihr Halbbruder war ein Weißmantel. Sie hatte Frauen in den Palast geholt, die sich jeden Moment gegeneinander stellen könnten, ganz zu schweigen von der Tatsache, daß eine davon eine Schattenfreundin, vielleicht sogar eine der Schwarzen Ajah war. Und diejenigen, die ihren Anspruch auf den Thron am stärksten bedrohten, standen hinter einer Frau, die behauptete, sie unterstütze Elayne. Die Welt war ziemlich verrückt. Sie könnte ebensogut ihr Scherflein dazu beitragen.

»Ich will ihn als meinen Behüter an mich binden«, sagte sie und fuhr fort, bevor die andere Frau mehr tun konnte, als erstaunt zu blinzeln. »Ich hoffe außerdem, ihn heiraten zu können. Diese Dinge haben jedoch nichts mit dem Löwenthron zu tun. Als erstes beabsichtige ich ...«

Während sie fortfuhr, begann Dyelin zu lachen. Elayne wünschte, sie wüßte, ob es vor Freude über ihre Pläne geschah, oder weil Dyelin erkannte, daß ihr selbst der Weg zum Löwenthron geebnet wurde. Zumindest wußte sie jetzt, was ihr bevorstand.

Als Daved Hanion in Caemlyn einritt, konnte er nicht umhin festzustellen, welch eine überaus für Plünderungen geeignete Stadt es doch wäre. Er hatte in seiner Zeit als Soldat viele Plünderungen in Dörfern und Städten gesehen, und einmal, vor zwanzig Jahren, auch in der großen Stadt Cairhien, nachdem die Aiel sie verlassen hatten. Seltsam, daß all diese Aiel Caemlyn so offensichtlich unberührt gelassen hatten, aber andererseits könnte man, wenn die höchsten Türme Cairhiens nicht gebrannt hätten, vielleicht kaum erkennen, daß sie dagewesen waren. Viel Gold — unter anderem —, das zum Aufheben bereitlag, und viele Menschen, die dies besorgten. Er konnte sich die breiten Straßen voller Reiter und flüchtender Menschen vorstellen, voller dicker Händler, die ihr Gold hergaben, bevor der Dolch sie berührte, in der Hoffnung, daß ihr Leben verschont bliebe, voller schlanker Mädchen und rundlicher Frauen, die so schrecklich verängstigt waren, daß sie kaum schreien und sich noch viel weniger wehren würden, wenn sie in eine Ecke gezerrt wurden. Er hatte jene Dinge gesehen und sie auch selbst getan und hoffte, sie erneut tun zu können. Aber nicht in Caemlyn, wie er seufzend einräumte. Hätte er die Befehle, die ihn hierher geführt hatten, mißachten können, wäre er vielleicht dorthin gegangen, wo es nicht soviel zu holen gab, was aber entschieden leichter zu erlangen war.

Seine Anweisungen waren jedoch eindeutig gewesen. Er stellte sein Pferd im Roten Bullen in der Neustadt unter und wanderte eine Meile bis zu einem hohen Steinhaus in einer Seitenstraße, das Haus einer reichen Händlerin, die mit ihrem Gold besonnen umging. Auf die Türen war ein kleines Siegel, ein rotes Herz auf einer goldenen Hand darstellend, aufgemalt. Der ungeschlachte Bursche, der ihn einließ, war mit seinem unfreundlichen Blick kein typischer Diener eines Händlers. Der große Mann führte ihn schweigend tiefer in das Haus und dann ins Kellergeschoß hinab. Hanion tastete nach dem Schwert in seiner Scheide. Zu all dem, was er schon gesehen hatte, hatten auch Männer und Frauen gehört, die zu ihrer eigenen Vollstreckung geführt wurden. Er hielt sich nicht für einen Versager, aber andererseits hatte er auch kaum Erfolge aufzuweisen. Er hatte jedoch Befehle befolgt. Was aber nicht immer genügte.

In dem von ringsum befindlichen, vergoldeten Lampen beleuchteten Kellergeschoß wanderte sein Blick zuerst zu einer hübschen Frau in einem spitzenbesetzten, scharlachroten Seidengewand, deren Haar von einem Spitzennetz bedeckt war. Er wußte nicht, wer diese Lady Shiaine war, aber seine Befehle hatten gelautet, daß er ihr gehorchen sollte. Er verbeugte sich gekonnt mit einem Lächeln. Sie sah ihn nur an, als warte sie darauf, daß er bemerkte, was der Keller noch enthielt.

Er hätte es kaum übersehen können, da in dem Raum außer einigen Fässern nur ein großer, schwerer Tisch stand, der auf sehr seltsame Art gedeckt war. Zwei Ovale waren in die Tischplatte geschnitten worden, und aus einem Oval ragten Kopf und Schultern eines Mannes heraus, dessen Kopf auf die hölzerne Oberfläche zurückgezerrt war und dort mit auf die Tischplatte genagelten Riemen an einem zwischen seine Zähne gerammten Holzklotz festgehalten wurde. Eine auf gleiche Art festgebundene Frau bildete den übrigen Tischschmuck. Unter dem Tisch war zu sehen, daß sie mit an die Knöchel gebundenen Handgelenken knieten. Für jegliche Art Vergnügungen recht gut gesichert. Der Mann wies ein wenig Grau im Haar auf und hatte das Gesicht eines Lords, aber seine tiefliegenden Augen rollten wild umher, was wenig überraschte. Das auf dem Tisch ausgebreitete Haar der Frau war dunkel und glänzend, aber ihr Gesicht war für Hanions Geschmack ein wenig zu länglich.

Plötzlich sah er ihr Gesicht wirklich, und seine Hand zuckte zu seinem Schwert, bevor er es verhindern konnte. Es kostete ihn einige Mühe, das Schwertheft wieder loszulassen, was er sorgfältig verbarg. Es war das Gesicht einer Aes Sedai, aber eine Aes Sedai, die sich auf diese Art fesseln ließ, war keine Bedrohung.

»Also besitzt Ihr Verstand.« Ihrem Akzent nach zu urteilen, war Shiaine eine Adlige, und sie hatte gewiß etwas Gebieterisches an sich, als sie um den Tisch herumwirbelte und in das festgehaltene Gesicht des Mannes blickte. »Ich habe den Großen Meister Moridin gebeten, mir einen Mann mit Verstand zu schicken. Der arme Jaichim hier besitzt sehr wenig davon.«

Hanion runzelte die Stirn und glättete sie augenblicklich wieder. Er hatte seine Befehle von Moghedien persönlich erhalten. Wer, im Krater des Verderbens, war Moridin? Aber es war unwichtig. Seine Befehle kamen von Moghedien, das genügte.

Der ungeschlachte Bursche reichte Shiaine einen Trichter, den sie in ein durch den Holzklotz zwischen Jaichims Zähnen gebohrtes Loch steckte. Die Augen des Mannes standen weit hervor. »Der arme Jaichim hat zutiefst versagt«, bemerkte Shiaine mit einem Lächeln wie das eines Fuchses, der ein Huhn beobachtet. »Moridin wünscht, daß er bestraft wird. Der arme Jaichim mag seinen Branntwein.«

Sie trat zurück, jedoch nur so weit, daß sie alles deutlich sehen konnte, und Hanion zuckte zusammen, als der ungeschlachte Mann mit einem der Fässer zum Tisch trat. Hanion glaubte nicht, daß er das Faß ohne Hilfe hätte anheben können, aber der große Bursche neigte es mühelos. Der festgebundene Mann schrie einmal auf, und dann ergoß sich ein Strom einer dunklen Flüssigkeit aus dem Faß in den Trichter und verwandelte seinen Schrei in ein Gurgeln. Der herbe Geruch des Branntweins erfüllte die Luft. Der Mann kämpfte trotz seiner Fesseln, schlug um sich und schaffte es sogar, den Tisch seitlich anzuheben, aber der Branntwein floß weiterhin. Luftblasen stiegen in dem Trichter auf, als er zu schreien versuchte, aber der beständige Strom hörte nicht auf. Und dann erlahmte der Widerstand des Mannes und endete schließlich. Weite, glasige Augen starrten zur Decke, und Branntwein rann aus seiner Nase. Der große Bursche hörte noch immer nicht auf, bis die letzten Tropfen aus dem leeren Faß liefen.

»Ich glaube, der arme Jaichim hat letztendlich genug Branntwein gehabt.« Shiaine lachte erfreut.

Hanion nickte. Vermutlich hatte sie recht. Er fragte sich, wer er gewesen war.

Shiaine war noch nicht ganz fertig. Auf eine Geste von ihr riß der ungeschlachte Mann einen der Riemen vom Nagel, welche den Knebel der Aes Sedai hielten. Hanion dachte, der Knebel hätte vielleicht einige Zähne in ihrem Mund gelockert, aber wenn dem so war, verschwendete sie keine Zeit damit. Sie sprach, noch bevor der Bursche den Riemen losgelassen hatte.

»Ich werde Euch gehorchen!« jammerte sie. »Ich werde den Befehlen des Großen Herrn gehorchen! Er hat meinen Schild aufgelöst, damit ich gehorchen kann! Das hat er mir gesagt! Laßt es mich beweisen! Ich werde kriechen! Ich bin ein Wurm, und Ihr seid die Sonne! Oh, bitte! Bitte! Bitte!«

Shiaine erstickte die Worte, das flehentliche Wimmern, indem sie eine Hand über den Mund der Aes Sedai legte. »Woher soll ich wissen, daß Ihr nicht wieder versagt, Falion? Ihr habt zuvor versagt, und Moridin hat mir Eure Bestrafung überlassen. Er hat mir eine andere Aes Sedai zugeteilt —brauche ich zwei von Euch? Vielleicht gebe ich Euch eine zweite Chance, Euren Fall zu vertreten, Falion —vielleicht —, aber wenn ich es tue, werdet Ihr mich überzeugen müssen. Ich werde wahre Begeisterung erwarten.«

Falion begann erneut zu flehen, machte übertriebene Versprechungen, sobald Shiaine ihre Hand fortnahm, aber sie wurde nur allzu bald wieder auf wortlose Schreie und Tränen beschränkt, als ihr der Knebel wieder angelegt, der Nagel wieder durch den Riemen getrieben und Jaichims Trichter über ihrer weit geöffneten Kehle angebracht wurde. Der ungeschlachte Mann stellte ein weiteres Faß neben ihrem Kopf auf den Tisch. Die Aes Sedai schien wahnsinnig zu werden, die hervorstehenden Augen rollten wild umher; sie zappelte unter dem Tisch, bis er wackelte.

Hanion war beeindruckt. Eine Aes Sedai mußte schwerer zu brechen sein als ein fetter Händler oder seine pausbackige Tochter. Aber Shiaine hatte offenbar die Hilfe einer der Auserwählten gehabt. Als er merkte, daß sie ihn ansah, unterließ er es, auf Falion hinab zu lächeln. Seine erste Lebensregel lautete, niemals jene zu beleidigen, welche die Auserwählten ihm voranstellten.

»Sagt mir, Hanion«, bemerkte Shiaine, »wie würdet Ihr Hand an eine Königin legen?«

Er leckte sich wider Willen die Lippen. An eine Königin? Das hatte er niemals getan.

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