Elaida saß hinter ihrem vergoldeten Schreibtisch und betastete die vom Alter nachgedunkelte Elfenbeinschnitzerei eines fremdartigen Vogels mit einem ebenso langen Schnabel wie sein Körper. Einigermaßen belustigt hörte sie den sechs Frauen zu, die auf der anderen Seite des Tisches standen und alle Sitzende ihrer Ajahs waren. Sie sahen einander finster von der Seite an, scharrten mit ihren Samtpantoffeln auf dem hell gemusterten Teppich, der den größten Teil der rotbraunen Bodenfliesen bedeckte, zupften an mit Ranken versehenen Stolen, daß die farbigen Fransen tanzten, und erweckten den Eindruck einer Schar verstockter Dienerinnen, die wünschten, sie hätten den Mut, einander vor ihrer Herrin an die Kehle zu gehen. Eisblumen bedeckten die Fensterscheiben, so daß man den Schnee kaum sehen konnte, den der Wind in eisigem Zorn umherwirbelte. Elaida war es recht warm, und das nicht nur aufgrund der dicken Holzscheite, die in dem weißen Marmorkamin loderten. Ob diese Frauen sich dessen bewußt waren oder nicht — nun, Duhara wußte es gewiß, und die übrigen vielleicht auch —, sie war ihre Herrin. Die kunstvolle goldene Kastenuhr, die Cemaile aufgestellt hatte, zeigte die verstreichende Zeit an. Cemailes verschwundener Traum würde wahr werden. Die Burg würde ihren Ruhm zurückerlangen und wäre fest in der Hand Elaida do Avriny a'Roihans.
»Es wurde noch nie ein Ter'angreal gefunden, mit dem das Machtlenken einer Frau »kontrolliert werden‹ kann«, sagte Velina gerade mit kühler und klarer, aber fast mädchenhaft hoher Stimme, die überhaupt nicht zu ihrer Adlerhakennase und den stechenden, schrägstehenden Augen paßte. Sie saß für die Weißen und war abgesehen von ihrer lebhaften Erscheinung auch das genaue Abbild einer Weißen. Selbst ihr einfaches, makelloses Gewand schien starr und kalt. »Nur sehr wenige wurden jemals gefunden, die auch nur annähernd die gleiche Funktion erfüllen. Daher könnte es logischerweise, wenn solch ein Ter'angreal gefunden würde, oder auch mehr als eines, so unwahrscheinlich das auch sein mag, nicht genügend viele davon geben, um mehr als höchstens zwei oder drei Frauen zu kontrollieren. Daraus folgt, daß die Berichte über diese sogenannten Seanchaner vollkommen übertrieben sind. Wenn es Frauen an ›Koppeln‹ gibt, können sie unmöglich die Macht lenken. Ich leugne nicht, daß diese Leute Ebou Dar besetzt haben und auch Amador und vielleicht noch weitere Länder, aber diese Berichte sind eindeutig nur eine Schöpfung Rand al'Thors, vielleicht um die Menschen zu ängstigen, damit sie ihm scharenweise zuströmen wie sein Prophet. Es ist einfache Logik.«
»Ich bin sehr froh, daß Ihr zumindest die Nachrichten aus Amador und Ebou Dar nicht leugnet, Velina«, sagte Shevan trocken, und sie konnte tatsächlich sehr trocken sein. Die Braune Sitzende war so groß wie die meisten Männer und dazu klapperdürr, und ihr kantiges Gesicht und das lange Kinn machte ihre Lockenpracht nicht vorteilhafter. Sie richtete mit spinnenartigen Fingern ihre Stola und glättete die Röcke aus dunkelgoldenem Samt; ihre Stimme wurde betont belustigt. »Ich fühle mich nicht wohl dabei, Vermutungen anzustellen, was sein kann und was nicht sein kann. Beispielsweise ›wußte‹ vor noch nicht allzu langer Zeit jedermann, daß nur ein von einer Schwester gewobener Schild eine Frau am Lenken der Macht hindern konnte. Dann kommt ein einfaches Kraut, Gabelwurz — und absolut jedermann kann Euch einen Tee einflößen, der Euch über Stunden der Fähigkeit beraubt, die Macht zu lenken. Das ist vermutlich bei störrischen Wilden und ähnlichen nützlich, aber eine üble kleine Überraschung für jene, die alles zu wissen glauben. Vielleicht lernt als nächstes jemand, wieder Ter'angreale zu fertigen.«
Elaida preßte die Lippen zusammen. Sie beschäftigte sich nicht mit Unmöglichem, und wenn es in dreitausend Jahren keiner Schwester gelungen war, das Wissen um die Fertigung von Ter'angrealen wiederzuentdecken, würde man es niemals wiederentdecken. Wissen, das ihr durch die Finger rann, wenn sie es festhalten wollte, grämte sie. Trotz all ihrer Bemühungen hatte inzwischen jede letzte Anfängerin in der Burg von der Gabelwurz erfahren, auch wenn niemandem dieses Wissen letztendlich gefiel. Niemandem gefiel es auch, plötzlich jedermann gegenüber verletzlich zu sein, der von den Krautern wußte und ein wenig heißes Wasser besaß. Das Wissen war schlimmer als Gift, wie die Sitzenden hier deutlich machten.
Bei der Erwähnung des Krautes zeigten Duharas große dunkle Augen in ihrem kupferfarbenen Gesicht Unbehagen, und sie wirkte starrer als üblich. Sedore schluckte tatsächlich, und ihre Finger verkrampften sich um die Ledermappe, die Elaida ihr gereicht hatte, obwohl die rundgesichtige Gelbe normalerweise kühle Eleganz ausstrahlte. Andaya zitterte! Sie zog wahrhaftig ihre mit grauen Fransen versehene Stola krampfhaft um sich.
Elaida fragte sich, was sie wohl täten, wenn sie erführen, daß die Asha'man das Schnelle Reisen wiederentdeckt hatten. Im Moment waren sie kaum in der Lage, überhaupt von ihnen zu sprechen. Es war ihr zumindest gelungen, dieses Wissen auf eine Handvoll Menschen zu beschränken.
»Ich denke, wir sollten uns lieber mit dem beschäftigen, was unzweifelhaft feststeht«, sagte Andaya bestimmt, nachdem sie sich wieder unter Kontrolle hatte. Ihr hellbraunes Haar, das sie glänzend gebürstet hatte, fiel ihren Rücken hinab, und ihr mit silbernen Schlitzen versehenes blaues Gewand war in andoranischem Stil geschnitten, aber ihre Sprache war noch immer stark tarabonisch gefärbt. Obwohl sie weder klein noch sonderlich schlank war, erinnerte sie Elaida immer irgendwie an einen Spatz, der gerade auf einen Ast hüpfen will. Eine höchst untypische Unterhändlerin, obwohl sie sich einen guten Ruf erworben hatte. Sie lächelte nicht sehr erfreut in die Runde, und auch das erinnerte an einen Spatz. Vielleicht lag es an der Art, wie sie ihren Kopf hielt. »Reine Spekulation, mit der wertvolle Zeit verschwendet wird. Die Welt hängt an einem seidenen Faden, und ich will keine kostbare Zeit damit verlieren, über Logik zu plaudern oder darüber, was jeder Narr und jede Novizin weiß. Hat jemand etwas Nützliches zu sagen?« Sie konnte für einen Spatz recht bissig werden. Velina wurde rot, und Shevans Gesicht verdüsterte sich.
Rubinde betrachtete die Graue mit geschürzten Lippen. Vielleicht sollte es ein Lächeln sein, aber es war nur verzerrt. Die Mayenerin wirkte mit ihrem rabenschwarzen Haar und den Augen wie Saphiren üblicherweise, als wolle sie eine Steinmauer durchschreiten, und so, wie sie jetzt die Fäuste in die Hüften stemmte, schien sie dazu überaus bereit. »Wir haben uns um alles in unserer Macht Stehende gekümmert, Andaya, zumindest um das meiste. Die Aufständischen werden in Murandy vom Schnee aufgehalten, und wir werden ihnen den Winter über so stark zusetzen, daß sie im Frühjahr zurückgekrochen kommen und um Entschuldigung und Buße bitten. Um Tear werden wir uns kümmern, sobald wir herausfinden, wohin der Hochlord Darlin verschwunden ist, und um Cairhien, wenn wir erst Caraline Damodred und Toram Riatin in ihren Verstecken aufgestöbert haben. Al'Thor besitzt im Moment die Krone von Illian, aber auch daran wird gearbeitet. Wenn Ihr also keinen Plan habt, wie man den Mann in die Burg locken oder diese sogenannten ›Asha'man‹ aus der Welt schaffen kann, muß ich mich um die Angelegenheiten meiner Ajah kümmern.«
Andaya richtete sich mit wahrhaft zerzaustem Gefieder auf. Duhara verengte die Augen, denn die Erwähnung von Männern, welche die Macht lenken konnten, erzürnte sie stets. Shevan schnalzte mit der Zunge, als schelte sie unartige Kinder, und Velina runzelte aus einem unbestimmten Grund die Stirn, den ihr gewiß Shevan eingegeben hatte. Es war belustigend, geriet aber außer Kontrolle.
»Die Angelegenheiten der Ajahs sind wichtig, Töchter.« Elaida hob ihre Stimme nicht an, aber aller Köpfe wandten sich ihr ruckartig zu. Sie legte die Elfenbeinschnitzerei zu ihrer restlichen Sammlung in die große, mit Rosen und goldenen Schneckenornamenten verzierte Schachtel und richtete sorgfältig ihre Schreibmappe und den Schreibkasten aus, so daß die lackierte Schachtel die Reihe vollendete, und als die Frauen vollkommen still waren, fuhr sie fort. »Die Angelegenheiten der Burg sind jedoch wichtiger. Ich vertraue darauf, daß Ihr meine Erlasse umgehend befolgt. Ich bemerke in der Burg zuviel Trägheit. Ich fürchte, Silviana wird sehr beschäftigt sein, wenn die Angelegenheiten nicht bald bereinigt sind.« Sie sprach keine weitere Drohung aus. Sie lächelte nur.
»Wie Ihr befehlt, Mutter«, murmelten sechs Stimmen nicht so fest, wie die Schwestern es sich vielleicht gewünscht hätten. Selbst Duharas Gesicht war kränklich bleich, als sie ihren Hofknicks vollführte. Zwei Sitzende hatten ihre Plätze eingebüßt, und ein halbes Dutzend hatte zur Buße tagelangen Arbeitsdienst geleistet, was in ihrer Position erniedrigend war und zudem eine Demütigung des Geistes darstellte. Shevan und Sedore konnten sich gewiß nur allzu gut an das Schrubben der Böden und an die Arbeit in den Wäschereien erinnern, aber keine war bisher zur Demütigung des Fleisches zu Silviana geschickt worden. Niemand wollte das. Die Herrin der Novizinnen erhielt jede Woche zwei oder drei Besuche von Schwestern, denen von ihren Ajahs Buße auferlegt worden war oder die selbst eine Buße auf sich genommen hatten — einige Schläge mit dem Riemen, wie schmerzhaft sie auch sein mochten, waren weitaus schneller vergessen, als wenn man einen Monat lang Gartenwege rechen mußte —, aber Silviana hatte erheblich weniger Mitleid mit den Schwestern als mit den Novizinnen und Aufgenommenen, die ihr unterstanden. Mehr als eine Schwester mußte sich tagelang gefragt haben, ob ein Monat Gartenarbeit nicht doch vorzuziehen gewesen wäre.
Sie hasteten auf die Türen zu in dem Bestreben, rasch fortzukommen. Ob sie nun Sitzende waren oder nicht — keine von ihnen hätte diese Höhen der Burg betreten, ohne von Elaida gerufen worden zu sein. Elaida betastete ihre gestreifte Stola und lächelte überaus erfreut. Ja, sie war die Herrin in der Weißen Burg, wie es für den Amyrlin-Sitz angemessen war.
Bevor die Sitzenden die Türen erreichten, öffnete sich die Tür zur Linken, und Alviarin trat ein. Die schmale weiße Stola der Behüterin der Chroniken über einem Seidengewand, das Velinas fast schmuddelig erscheinen ließ, war fast nicht zu sehen.
Elaida spürte, wie ihr Lächeln schief geriet und zu schwinden begann. Alviarin hielt ein Blatt Pergament in einer schlanken Hand. Seltsam, was man zu einem Zeitpunkt wie diesem bemerkte. Die Frau war seit fast zwei Wochen ohne Nachricht aus der Burg verschwunden. Niemand hatte sie auch nur gehen gesehen, und Elaida hatte begonnen, sich erfreuliche Dinge auszumalen, wie beispielsweise Alviarin in einer Schneeverwehung oder von einem Fluß mitgerissen und zwischen Eisschollen treibend.
Die sechs Sitzenden blieben unsicher stehen, als Alviarin ihnen nicht aus dem Weg ging. Selbst eine Behüterin mit Alviarins Einfluß hielt Sitzende nicht auf, obwohl Velina, für gewöhnlich die selbstbewußteste Frau in der Burg, aus einem unbestimmten Grund zusammenzuckte. Alviarin schaute einmal kühl zu Elaida, betrachtete dann die Sitzenden einen Moment und verstand alles.
»Ich denke, Ihr solltet das mir überlassen«, sagte sie in kühlem Tonfall zu Sedora. »Die Mutter erwägt ihre Erlasse gern sorgfältig, wie Ihr wißt. Dies wäre nicht das erste Mal, daß sie ihre Meinung nach der Unterzeichnung ändert.« Sie streckte eine schlanke Hand aus.
Sedore, deren Hochmütigkeit selbst unter Gelben bemerkenswert war, zögerte kaum, bevor sie ihr die Ledermappe reichte.
Elaida knirschte wütend mit den Zähnen. Sedore haßte sie, seit sie fünf Tage lang bis zu den Ellbogen in heißem Wasser gesteckt und Geschirr geschrubbt hatte. Elaida würde beim nächsten Mal etwas noch Unerfreulicheres für sie finden. Vielleicht doch Silviana. Oder die Reinigung der Abtrittgruben!
Alviarin trat schweigend beiseite, und die Sitzenden gingen davon, während sie ihre Stolen richteten, vor sich hin murrten und mühsam die Würde des Saals wieder annahmen. Alviarin schloß rasch die Tür hinter ihnen und trat zu Elaida, während sie die Papiere in der Mappe durchblätterte. Die Erlasse, die Elaida in der Hoffnung unterzeichnet hatte, daß Alviarin tot sei. Natürlich hatte sie nicht zu sehr darauf vertraut. Sie hatte nicht mit Seaine gesprochen, falls jemand es vielleicht sähe und Alviarin bei ihrer Rückkehr erzählte, aber Seaine war gewiß eifrig bei der Arbeit und folgte dem Pfad des Verrats, der mit Sicherheit zu Alviarin Freidhen führte. Aber Elaida hatte gehofft. Oh, und wie sie gehofft hatte!
Alviarin murmelte vor sich hin, während sie die Mappe durchsah. »Dies kann vermutlich ausgeführt werden. Aber dies nicht. Und dies auch nicht. Und dies gewiß nicht!« Sie zerknüllte einen vom Amyrlin-Sitz unterzeichneten und besiegelten Erlaß und warf ihn verächtlich zu Boden. Sie blieb neben Elaidas vergoldetem Stuhl stehen, in dessen hoher Rückenlehne mit Mondsteinen die Flamme Tar Valons eingelegt war, knallte die Mappe zu und das Pergament auf den Tisch. Und dann schlug sie Elaida so hart ins Gesicht, daß diese schwarze Flecken sah.
»Ich dachte, wir hätten das geklärt, Elaida.« Die Stimme der schrecklichen Frau ließ den Schneesturm draußen noch warm erscheinen. »Ich weiß, wie ich die Burg vor Euren Fehlern bewahren kann, und werde nicht zulassen, daß Ihr hinter meinem Rücken neue Fehler begeht. Wenn Ihr darauf beharrt, seid versichert, daß ich Euch absetzen, dämpfen und vor jedem Neuling und sogar den Dienern unter der Birkenrute jammern lassen werde!«
Elaida gelang es nur mühsam, nicht die Hand an ihre Wange zu heben. Sie brauchte keinen Spiegel, um zu erkennen, daß sie gerötet war. Sie mußte vorsichtig sein. Seaine hatte noch nichts gefunden, sonst wäre sie bereits gekommen. Aber Alviarin könnte vor den Saal treten und die ganze unglückselige Entführung des al'Thor-Jungen enthüllen. Das allein würde schon ausreichen, daß sie abgesetzt, gedämpft und ausgepeitscht würde, Alviarin hatte jedoch noch etwas anderes in der Hand. Toveine Gazal führte fünfzig Schwestern und zweihundert Burgwächter gegen die Schwarze Burg, in der — und dessen war Elaida sich sicher gewesen, als sie die Befehle ausgegeben hatte —vielleicht zwei oder drei Männer die Macht lenken konnten. Aber selbst bei Hunderten dieser Asha'man setzte sie noch Hoffnungen auf Toveine. Die Schwarze Burg würde in Feuer und Blut versinken, hatte sie vorhergesagt, und Schwestern würden auf ihrem Boden wandeln. Das bedeutete gewiß, daß Toveine triumphieren würde. Mehr noch — die übrige Prophezeiung ließ vermuten, daß die Burg unter ihr all ihren früheren Ruhm wiedererlangen und daß al'Thor selbst vor ihrem Zorn erzittern würde. Alviarin hatte die Worte aus Elaidas Mund dringen hören, als die Vorhersage sie übermannte. Doch später hatte sie sich nicht daran erinnert, als sie mit ihrer Erpressung begann, hatte ihr eigenes Verhängnis nicht erkannt. Elaida wartete geduldig. Sie würde es der Frau dreifach heimzahlen! Aber sie konnte warten. Im Moment.
Alviarin versuchte nicht, ihren Hohn zu verbergen. Sie schob die Mappe beiseite und das Blatt Pergament vor Elaida, öffnete den grüngoldenen Schreibkasten, tauchte Elaidas Feder ins Tintenfaß und hielt sie ihr hin. »Unterzeichnet.«
Elaida nahm die Feder und fragte sich, welcher Wahnsinn es wäre, unter den sie ihren Namen setzen sollte. Eine weitere Verstärkung der Burgwache, obwohl die Aufstände niedergeschlagen wären, bevor Soldaten Nutzen brächten? Ein weiterer Versuch, die Ajahs zu zwingen, der Burg zu offenbaren, wer ihnen vorstand? Das war gewiß fehlgeschlagen. Sie las rasch und spürte die eisige Kälte in ihrem Magen.
Die Welt weiß jetzt, daß Rand al'Thor der Wiedergeborene Drache ist. Die Welt weiß, daß er ein Mann ist, der die Eine Macht berühren kann. Solche Männer unterstehen schon seit undenklichen Zeiten der Burg. Dem Wiedergeborenen Drachen wird der Schutz der Burg gewährt, und wer auch immer sich ihm außer durch die Weiße Burg zu nähern versucht, macht sich des Verrats am Licht schuldig und wird jetzt und für immer verbannt. Die Welt möge in dem Wissen Ruhe finden, daß die Burg den Wiedergeborenen Drachen sicher in die Letzte Schlacht und den unvermeidlichen Triumph geleiten wird.
Sie fügte mechanisch und wie benommen ›des Lichts‹ hinter ›Triumph‹ ein, aber dann erstarrte ihre Hand. Es könnte noch angehen, al'Thor als den Wiedergeborenen Drachen anzuerkennen, da er es war, und das könnte wiederum dazu führen, daß viele die Gerüchte glaubten, er habe bereits vor ihr niedergekniet, was sich vielleicht als nützlich erweisen würde, aber was das übrige betraf, konnte sie kaum glauben, daß so viel Unheil in so wenigen Worten enthalten sein konnte.
»Das Licht lasse Gnade walten«, hauchte sie inbrünstig. »Wenn dies verkündet wird, dann wird al'Thor unmöglich davon zu überzeugen sein, daß seine Entführung von uns nicht gutgeheißen war.« Es wäre auch so schon schwer genug, aber sie hatte schon früher erlebt, daß man Menschen davon überzeugen konnte, daß Geschehenes nicht geschehen war, obwohl sie mitten in diesem Geschehen standen. »Und er wird zehnmal wachsamer auf einen weiteren Versuch achten. Alviarin, dies wird bestenfalls einige seiner Gefolgsleute abschrecken. Bestenfalls!« Viele waren wahrscheinlich schon so tief verstrickt, daß sie den Versuch nicht wagen würden, sich zurückzuziehen. Und gewiß nicht, wenn sie glaubten, ihnen drohe bereits die Verbannung! »Ich könnte ebensogut die Burg mit meinen eigenen Händen anzünden wie dies unterschreiben!«
Alviarin seufzte ungeduldig. »Ihr habt doch Euren Katechismus nicht vergessen? Sagt ihn für mich auf, wie ich es Euch gelehrt habe.«
Elaidas Lippen preßten sich von selbst zusammen. Ein Vergnügen in Abwesenheit der Frau — nicht das größte, aber wahrhaft ein Vergnügen — war es gewesen, nicht gezwungen zu sein, jeden Tag diese widerwärtige Litanei zu wiederholen. »Ich werde tun, was mir befohlen wird«, sagte sie schließlich mit tonloser Stimme. Sie war der Amyrlin-Sitz! »Ich werde die Worte aussprechen, die Ihr mir zu sagen befehlt, und nicht mehr.« Ihre Vorhersage verhieß ihren Triumph, aber beim Licht, möge er bald kommen! »Ich werde unterzeichnen, was Ihr mir zu unterzeichnen befehlt, und nichts sonst. Ich gehorche ...« Sie erstickte fast an diesen Worten. »Ich gehorche Eurem Willen.«
»Ihr klingt, als müßtet Ihr an die Wahrhaftigkeit dieser Worte erinnert werden«, sagte Alviarin mit einem weiteren Seufzer. »Ich habe Euch vermutlich zu lange allein gelassen.« Sie tippte mit einem Finger gebieterisch auf das Pergament. »Unterzeichnet.«
Elaida führte die Feder über das Pergament. Sie konnte nicht anders.
Alviarin wartete kaum ab, bis die Federspitze wieder angehoben wurde, bevor sie den Erlaß an sich riß. »Ich werde ihn selbst versiegeln«, sagte sie und eilte zur Tür. »Ich hätte das Siegel der Amyrlin nicht dort belassen sollen, wo Ihr es finden konntet. Ich werde später noch mit Euch sprechen. Ich habe Euch zu lange Euch selbst überlassen. Seid hier, wenn ich zurückkomme.«
»Später?« fragte Elaida. »Wann? Alviarin? Alviarin?«
Die Tür schloß sich hinter der Frau, und Elaida blieb wütend zurück. Hier sein, wenn Alviarin zurückkam! Auf ihre Räume beschränkt wie eine Novizin in der Strafzelle!
Sie spielte eine Zeitlang mit ihrem Schreibkasten, auf dem goldene Falken unter weißen Wolken am blauen Himmel kämpften, konnte sich aber nicht dazu überwinden, ihn zu öffnen. Als Alviarin fort war, hatte sich der Kasten erneut mit wichtigen Briefen und Berichten gefüllt, nicht nur mit den Krumen, die Alviarin ihr sonst zukommen ließ, und doch hätte er nach Rückkehr der Frau ebensogut wieder leer sein können. Elaida erhob sich und richtete die Rosen in ihren weißen Vasen, die auf weißen Marmorsockeln in jeder Ecke des Raums standen. Blaue Rosen — die seltensten.
Sie erkannte jäh, daß sie einen entzwei gebrochenen Rosenstiel in ihrer Hand anstarrte. Ein halbes Dutzend weitere lagen am Boden. Sie stieß einen überraschten Laut aus. Sie hatte sich vorgestellt, daß ihre Hände um Alviarins Kehle lägen. Es war nicht das erste Mal, daß sie daran gedacht hatte, die Frau zu töten, aber Alviarin würde gewiß Vorkehrungen getroffen haben. Es waren zweifellos versiegelte Dokumente, die geöffnet werden sollten, wenn etwas Unvorhergesehenes geschähe, die bei den Schwestern hinterlegt worden waren, an die Elaida als letzte dächte. Das war ihre eine wirkliche Sorge während Alviarins Abwesenheit gewesen, daß noch jemand glauben könnte, die Frau sei tot, und mit dem Beweis herausrücken würde, der ihr die Stola um ihre Schultern nähme. Früher oder später, auf die eine oder andere Art, würde Alviarin jedoch so sicher erledigt sein, wie diese Rosen es waren ...
»Ihr habt auf mein Klopfen nicht geantwortet, Mutter, also kam ich einfach herein«, sagte eine Frau hinter ihr barsch.
Elaida wandte sich um, bereit zu schelten, aber beim Anblick der stämmigen Frau mit dem viereckigen Gesicht und einer roten Stola, die unmittelbar hinter der Tür stehengeblieben war, wich alles Blut aus ihrem Gesicht.
»Die Behüterin sagte, Ihr wolltet mich sprechen«, äußerte Silviana verärgert. »Wegen einer geheimen Buße.« Sie bemühte sich nicht einmal dem Amyrlin-Sitz gegenüber, ihren Abscheu zu verbergen. Silviana hielt geheime Bußen für lächerliche Heuchelei. Buße war eine öffentliche Angelegenheit, nur die Bestrafung geschah im geheimen. »Sie hat mich auch gebeten, Euch an etwas zu erinnern, aber sie eilte davon, ohne mir zu sagen, worum es sich handelte.« Sie beendete ihre Worte mit einem Schnauben. Silviana sah alles, was ihr Zeit für ihre Novizinnen und Aufgenommene raubte, als unnötige Unterbrechung an.
»Ich glaube, ich erinnere mich«, sagte Elaida teilnahmslos.
Als Silviana schließlich ging — nach nur einer halben Stunde, dem Glockenschlag von Cemailes Uhr nach zu urteilen, und doch eine nicht enden wollende Ewigkeit —, hielt nur die Sicherheit der Vorhersage und der Gedanke daran, daß Seaine den Verrat zu Alviarin zurückverfolgen würde, Elaida davon ab, sofort den Saal der Sitzenden zusammenzurufen, um zu fordern, Alviarin die Stola der Behüterin der Chroniken abzunehmen — und die ebenso sichere Tatsache, daß sie selbst in dieser Konfrontation mit Bestimmtheit gestürzt würde, gleichgültig, ob dies auch für Alviarin galt oder nicht. Also lag Elaida do Avriny a'Roihan, die Wächterin der Siegel, die Flamme von Tar Valon, der Amyrlin-Sitz und gewiß die mächtigste Herrscherin der Welt, mit dem Gesicht nach unten auf ihrem Bett und weinte in die Kissen, zu geschwächt, um das Nachthemd anzuziehen, das vergessen auf dem Boden lag. Bei ihrer Rückkehr würde Alviarin gewiß darauf bestehen, daß sie die ganze Befragung über säße. Sie weinte und betete durch ihre Tränen hindurch, daß Alviarins Niedergang bald geschähe.
»Ich habe dir nicht aufgetragen, Elaida ... schlagen zu lassen«, sagte diese Stimme wie Kristallglocken. »Erhebst du dich über dich selbst?«
Alviarin warf sich vor der Frau, die aus Schatten und silbrigem Licht gemacht schien, von den Knien auf den Bauch. Sie ergriff den Saum von Mesaanas Gewand und überhäufte es mit Küssen. Das illusorische Gewebe — das mußte es sein, obwohl sie weder auch nur einen einzigen Faden Saidar sehen konnte noch die Fähigkeit, die Macht zu lenken, die sie bei der Frau spürte, die über ihr aufragte — hielt nicht vollständig stand, da sie den Saum des Gewandes hektisch bewegte. Bronzefarbene Seide mit einem schmalen Rand kunstvoll gestickter schwarzer Schneckenverzierungen schimmerten hindurch.
»Ich lebe, um Euch zu dienen und zu gehorchen, Große Herrin«, keuchte Alviarin zwischen Küssen. »Ich weiß, daß ich zu den Untersten der Unteren gehöre, in Eurer Gegenwart ein Nichts bin, und bete nur für Euer Lächeln.« Sie war schon einmal dafür bestraft worden, sich ›über sich selbst erhoben‹ zu haben — nicht für Ungehorsam, dem Großen Herrn der Dunkelheit sei Dank! —, und sie wußte, daß Elaida zu diesem Zeitpunkt nicht halb so laut wehklagen konnte wie sie damals.
Mesaana duldete die Küsse eine Weile und setzte ihnen schließlich ein Ende, indem sie Alviarins Gesicht mit einer Schuhspitze unter dem Kinn anhob. »Der Erlaß ist bekanntgegeben worden.« Es war keine Frage, aber Alviarin antwortete dennoch hastig.
»Ja, Große Herrin. Und Abschriften sind zum Nordhafen und Südhafen gesandt worden, noch bevor ich Elaida unterschreiben ließ. Die ersten Kuriere sind aufgebrochen, und kein Händler wird die Stadt verlassen, ohne Kopien zur Verteilung mitzunehmen.« Mesaana wußte das alles natürlich bereits. Sie wußte alles. Ein Krampf verhärtete Alviarins gekrümmten Nacken, aber sie regte sich nicht. Mesaana würde ihr sagen, wann sie sich bewegen durfte. »Große Herrin, Elaida ist nur eine leere Hülle. Darf ich demütig fragen, ob es nicht besser wäre, wenn wir ohne sie auskämen?« Sie hielt den Atem an. Fragen konnten bei den Auserwählten gefährlich sein.
Ein silbriger Finger mit einem Schattennagel tippte gegen zu einem belustigten Lächeln verzogene Silberlippen. »Wäre es besser, du würdest die Stola der Amyrlin tragen, Kind?« fragte Mesaana schließlich. »Ein geringer Ehrgeiz, der zu dir passen würde, aber alles zu seiner Zeit. Im Moment habe ich eine andere kleine Aufgabe für dich. Trotz all der Mauern, die zwischen den Ajahs entstanden sind, scheinen ihre Anführer sich erstaunlich regelmäßig zu treffen. Zufällig, wie sie vorgeben. Zumindest alle außer den Roten. Schade, daß Galina umkam, sonst könnte sie dir sagen, was sie vorhaben. Es ist wahrscheinlich nichts Wichtiges, aber du wirst herausbekommen, warum sie einander erst öffentlich angreifen und dann heimlich miteinander flüstern.«
»Ich höre und ich gehorche, Große Herrin«, erwiderte Alviarin prompt, dankbar, daß Mesaana es für unwichtig erachtete. Das große ›Geheimnis‹, wer den Ajahs vorstand, war für sie kein Geheimnis — jede Schwarze Schwester war gefordert, dem Obersten Konzil jedes Flüstern in ihrer Ajah weiterzugeben —, aber unter ihnen war nur Galina eine Schwarze gewesen. Das bedeutete, daß man die Schwarzen Schwestern unter den Sitzenden befragen mußte. Das erforderte Zeit und bot nicht die geringste Gewähr für einen Erfolg. Bis auf Ferane Neheran und Suana Dragand, die mit Sicherheit Vorsitzende ihrer Ajahs waren, schienen Sitzende nur selten zu wissen, was der Vorstand ihrer Ajah dachte, bis man es ihnen sagte. »Ich werde Euch Nachricht geben, sobald ich etwas erfahre, Große Herrin.«
Aber sie behielt eine Besonderheit für sich. Ob unwichtig oder nicht — Mesaana wußte nicht alles, was in der Weißen Burg geschah. Aber Alviarin würde für eine Schwester in bronzefarbenen Röcken mit einem Saum mit schwarzen Schneckenverzierungen die Augen offenhalten. Mesaana verbarg sich in der Burg, und Wissen war Macht.