30 Anfänge

Perrin hielt mit einer Hand seinen pelzverbrämten Umhang fest und überließ dem kastanienbraunen Steher das Tempo. Die Morgensonne spendete keine Wärme, und der von Furchen durchzogene Schnee auf der nach Abila führenden Straße machte das Vorankommen mühsam. Perrin und seine ein Dutzend Gefährten teilten sich den Weg mit nur zwei rumpelnden Ochsenkarren und einer Handvoll Bauern in einfachem dunklen Tuch. Sie alle schleppten sich mit gesenkten Köpfen voran, umklammerten Hut oder Mütze, wann immer sich Wind erhob, konzentrierten sich ansonsten aber auf den Boden unter ihren Füßen. Hinter ihm hörte Perrin Neald leise einen zotigen Witz reißen. Grady brummte als Antwort, und Balwer rümpfte zimperlich die Nase. Keiner der drei schien in irgendeiner Weise durch das beeinträchtigt, was sie während des letzten Monats gesehen und gehört hatten, seit sie die Grenze nach Amadicia überquert hatten — oder auch durch das, was vor ihnen lag. Edarra schalt Masuri heftig, weil sie ihre Kapuze abgenommen hatte. Edarra und Carelle trugen zusätzlich zu den Umhängen ihre Stolen um Kopf und Schultern geschlungen, aber selbst nachdem sie die Notwendigkeit, reiten zu müssen, eingesehen hatten, hatten sie sich noch geweigert, ihre sperrigen Röcke zu wechseln, so daß ihre mit dunklen Strümpfen bekleideten Beine bis über die Knie frei lagen. Die Kälte schien sie nicht im geringsten zu stören, nur die Fremdartigkeit des Schnees. Carelle mahnte Seonid leise, was geschähe, wenn sie ihr Gesicht nicht verborgen hielte.

Natürlich wäre eine Tracht Prügel das mindeste, was sie zu befürchten hätte, wenn sie ihr Gesicht zu früh zeigte, wie sie und die Weise Frau nur allzu gut wußten. Perrin brauchte nicht zurückzublicken, um zu wissen, daß die drei Behüter der Schwestern, die in gewöhnliche Umhänge gekleidet die Nachhut bildeten, jeden Moment mit der Notwendigkeit rechneten, die Schwerter ziehen und sich den Weg freikämpfen zu müssen. So verhielten sie sich bereits, seit sie das Lager in der Dämmerung verlassen hatten. Perrin fuhr mit einem behandschuhten Daumen über die Streitaxt an seinem Gürtel und umfaßte dann den Saum seines Umhangs, bevor ein plötzlicher Windstoß ihn aufblähen konnte. Wenn dies schlecht ausging, könnten die Behüter vielleicht recht haben.

Zur Linken, kurz vor der Stelle, wo eine Holzbrücke über den zugefrorenen Fluß führte, der sich am Stadtrand entlangwand, ragten auf einer großen quadratischen Plattform, um deren Fuß sich Schneeverwehungen angehäuft hatten, verkohlte Balken aus dem Schnee. Da der ortsansässige Lord gezögert hatte, dem Wiedergeborenen Drachen die Treue zu schwören, hatte er Glück gehabt, nur ausgepeitscht und all dessen entledigt zu werden, was er besaß. Eine Gruppe an der Brücke stehender Männer beobachtete, wie die Reiter näher kamen. Perrin sah keine Helme oder Rüstungen, aber alle Männer umklammerten Speere oder Armbruste fast ebenso angespannt wie er seinen Umhang. Sie sprachen nicht miteinander, statt dessen beobachteten sie nur, während sich der gefrorene Atem vor ihren Gesichtern kräuselte. Überall um die Stadt herum waren weitere Gruppen Wächter zu sehen, an jeder auswärts führenden Straße, an jedem Freiraum zwischen zwei Gebäuden. Dies war das Land des Propheten, aber die Weißmäntel und König Ailrons Heer hatten noch immer große Teile davon inne.

»Es war richtig, daß ich Falle nicht mitgenommen habe«, murmelte er, »aber ich werde dennoch dafür bezahlen müssen.«

»Natürlich werdet Ihr bezahlen«, schnaubte Elyas. Er kam für einen Mann, der den größten Teil der letzten fünfzehn Jahre zu Fuß verbracht hatte, gut mit seinem mausgrauen Wallach zurecht. Kürzlich hatte er bei einem Würfelspiel mit Gallenne einen mit schwarzem Fuchspelz gesäumten Umhang gewonnen. Aram, der an Perrins anderer Seite ritt, betrachtete Elyas finster, aber der bärtige Mann ignorierte ihn. Sie kamen nicht gut miteinander aus. »Ein Mann muß immer früher oder später bezahlen, bei jeder Frau, ob er es verdient oder nicht. Aber ich hatte doch recht?«

Perrin nickte zähneknirschend. Es schien noch immer nicht richtig, von einem anderen Mann Ratschläge für die eigene Frau anzunehmen, selbst wohlüberlegte, verstohlene Ratschläge, und doch halfen sie anscheinend. Natürlich war es ebenso schwer, Faile gegenüber die Stimme zu erheben, wie sie Berelain gegenüber nicht zu erheben, aber er hatte letzteres recht häufig und ersteres einige Male geschafft. Er war Elyas' Rat getreu gefolgt. Nun, überwiegend, so gut er konnte. Dieser stechende Geruch der Eifersucht bestand beim Anblick Berelains noch immer, aber der Geruch des Verletztseins war verschwunden, während sie langsam gen Süden zogen. Er fühlte sich dennoch unbehaglich. Als er Faile heute morgen fest erklärte, daß sie nicht mitkommen könne, hatte sie mit keinem Wort widersprochen! Sie roch sogar ... erfreut! Unter anderem, einschließlich Bestürztsein. Wie konnte sie jedoch gleichzeitig erfreut und bestürzt sein? Nichts davon war auf ihrem Gesicht zu lesen gewesen, aber seine Nase betrog ihn niemals. Es schien ihm, als begriffe er immer weniger, je mehr er über Frauen lernte.

Die Brückenwächter runzelten die Stirn und betasteten ihre Waffen, als Stehers Hufe mit hohlem Klang auf den Holzplanken auftrafen. Die Wächter bildeten die übliche seltsame Mischung von Gefolgsleuten des Propheten, Burschen mit schmutzigen Gesichtern in zu großen Seidenjacken, narbengesichtige Draufgänger und Neulinge mit rosigen Wangen sowie ehemalige Händler und Handwerker, die schon seit Monaten in ihrer ehemals edlen Kleidung zu schlafen schienen. Ihre Waffen machten jedoch einen gut gepflegten Eindruck. Einige der Männer hatten einen fiebrigen Glanz in den Augen. Die übrigen zeigten wachsame, hölzerne Mienen. Sie rochen nicht nur ungewaschen, sondern auch eifrig, besorgt, inbrünstig, ängstlich — alles gleichzeitig.

Sie machten keinerlei Anstalten, ihnen den Weg zu versperren, sondern beobachteten nur, wobei sie kaum blinzelten. Nach allem, was Perrin gehört hatte, kamen von Frauen in Seide bis zu Bettlern in Lumpen alle möglichen Menschen in der Hoffnung zum Propheten, zusätzlichen Segen zu erlangen, wenn sie sich ihm persönlich unterwarfen. Oder vielleicht zusätzlichen Schutz. Darum war er mit nur einer Handvoll Gefährten hierher gekommen. Er würde Masema in Furcht versetzen, wenn er es müßte und wenn Masema in Furcht versetzt werden konnte, aber es schien klüger, an den Mann heranzutreten, ohne eine Schlacht zu schlagen. Er konnte die Blicke der Wächter auf seinem Rücken spüren, bis sie die kurze Brücke überquert und die gepflasterten Straßen Abilas erreicht hatten. Perrin verspürte jedoch keine Erleichterung, als dieser Druck wich.

Abila war eine recht große Stadt mit mehreren hohen Wachtürmen und vielen vierstöckigen Gebäuden, deren Dächer alle schiefergedeckt waren. Hier und dort füllten Steinhaufen und Holzbalken eine Lücke zwischen zwei Gebäuden aus, wo ein Gasthaus oder das Haus eines Händlers abgerissen worden war. Der Prophet mißbilligte durch Handel erworbenen Reichtum ebenso sehr wie Zechgelage oder das, was seine Gefolgsleute unzüchtiges Benehmen nannten. Er mißbilligte viele Dinge und ließ seine Meinung durch anschauliche Beispiele bekannt werden.

Die Straßen waren stark bevölkert, aber Perrin und seine Gefährten waren die einzigen Reiter. Der Schnee war schon längst zu halbwegs gefrorenem, knöchelhohem Matsch zertreten worden. Viele Ochsenkarren, aber nur sehr wenige Wagen und keine einzige Kutsche bahnten sich langsam ihren Weg durch die Menge. Bis auf jene, die zerschlissene, abgetragene oder vielleicht gestohlene Kleidung trugen, war jedermann in eintöniges Tuch gekleidet. Die meisten Menschen waren in Eile, aber ebenso wie die Menschen auf der Landstraße mit gesenkten Köpfen. Weniger eilig hatten es verschiedene Gruppen bewaffneter Männer. Es roch in den Straßen überwiegend nach Schmutz und Angst, was Perrin die Haare zu Berge stehen ließ. Zumindest würde es sich, wenn es nötig würde, nicht als schwieriger erweisen, eine Stadt ohne Mauer zu verlassen, als sie zu betreten.

»Mein Lord«, murmelte Balwer, als sie vor einen jener Schutthaufen gelangten. Er wartete kaum ab, bis Perrin nickte, bevor er sein Pferd zur Seite führte und in eine andere Richtung lenkte, im Sattel zusammengekauert, den braunen Umhang fest um sich geschlungen. Es bereitete Perrin selbst hier keine Sorgen, daß der hagere kleine Mann allein davonritt. Er erfuhr auf seinen Alleingängen für einen Schreiber erstaunlich viel und schien zu wissen, was er tat.

Perrin verbannte Balwer aus seinen Gedanken und wandte sich dem zu, was er hier vorhatte.

Nur eine Frage war nötig, an einen schlaksigen jungen Mann mit schwärmerisch leuchtendem Gesicht gerichtet, um zu erfahren, wo sich der Prophet aufhielt, und drei weitere Fragen an andere Menschen auf den Straßen, um das Haus der Händlerin zu finden, vier Stockwerke grauen Steins mit weißen Marmorkanten und Fensterumrahmungen. Masema mißbilligte es, Geld zu scheffeln, aber er nahm bereitwillig Unterstützung von jenen an, die sie ihm gewährten. Andererseits sagte Balwer, Masema habe ebenso häufig auf einem zugigen Bauernhof übernachtet und sei genauso zufrieden gewesen. Masema trank nur Wasser, und wo auch immer er hinging, stellte er eine arme Witwe ein und aß das Essen, das sie kochte, ob gut oder schlecht, ohne sich zu beklagen.

Die überall sonst die Straßen bevölkernde Menge fehlte vor diesem hohen Haus, obwohl eine Anzahl bewaffneter Wächter wie jene an der Brücke dies fast wieder wettmachten. Jene, die nicht unverschämt grinsten, sahen Perrin verdrießlich an. Die beiden Aes Sedai hielten die Gesichter tief in den Kapuzen verborgen und die Köpfe gesenkt, wobei weißer Atem wie Dampf aus den Kapuzen aufstieg. Perrin sah Elyas aus den Augenwinkeln mit dem Daumen über das Heft seines langen Dolchs streichen. Es fiel ihm schwer, nicht auch seine Streitaxt zu betasten.

»Ich komme mit einer Nachricht des Wiedergeborenen Drachen für den Propheten«, verkündete er. Als sich keiner der Männer regte, fügte er hinzu: »Mein Name ist Perrin Aybara. Der Prophet kennt mich.« Balwer hatte ihn ermahnt, er solle weder Masemas Namen nennen noch Rand als etwas anderes als den Wiedergeborenen Drachen bezeichnen. Er wollte hier keinen Aufruhr bewirken.

Die Behauptung, Masema zu kennen, schien die Wächter zu beleben. Mehrere wechselten erstaunte Blicke, und einer lief in das Gebäude. Die übrigen sahen Perrin abschätzend an. Kurz darauf trat eine Frau in den Eingang. Hübsch, mit etwas Weiß an den Schläfen, in einem hochgeschlossenen blauen Tuchgewand, das edel, wenn auch schlicht war, hätte sie die Händlerin selbst sein können. Masema warf diejenigen, die ihm Gastfreundschaft gewährten, nicht auf die Straße, aber ihre Diener oder Knechte landeten üblicherweise bei einer der Banden, die ›den Ruhm des Wiedergeborenen Drachen‹ verbreiteten.

»Wenn Ihr mir folgen wollt, Meister Aybara«, sagte die Frau ruhig. »Ich werde Euch und Eure Freunde zum Propheten des Drachen bringen, möge das Licht seinen Namen erleuchten.« Sie klang vielleicht ruhig, aber sie roch bestürzt.

Perrin befahl Neald und den Behütern, die Pferde zu bewachen, bis sie zurückkehrten, dann folgte er der Frau mit den übrigen Gefährten ins Haus. Im Inneren war es düster, nur wenige Lampen waren entzündet, und es war nicht wesentlich wärmer als im Freien. Selbst die Weisen Frauen schienen bedrückt. Sie rochen nicht wirklich ängstlich, aber ebenso annähernd wie die Aes Sedai, und Grady und Elyas rochen wachsam, nach zu Berge stehenden Haaren und angelegten Ohren. Aram roch seltsamerweise begierig. Perrin hoffte, daß der Mann nicht versuchen würde, das Schwert auf seinem Rücken zu ziehen.

Der große, mit Teppichen ausgelegte Raum, in den die Frau sie führte und an dessen beiden Schmalseiten Kaminfeuer loderten, hätte das Arbeitszimmer eines Feldherrn sein können, da alle Tische und die Hälfte der Stühle mit Landkarten und Dokumenten bedeckt waren. Es war so warm, daß Perrin seinen Umhang zurückschlug und es bedauerte, zwei Hemden unter seiner Jacke zu tragen. Masema, der in der Mitte des Raums stand, zog seinen Blick sofort auf sich wie ein Magnet Eisenspäne, ein dunkler, düsterer Mann mit rasiertem Kopf und einer hellen, dreieckigen Narbe auf einer Wange, der eine zerknitterte graue Jacke und abgetragene Stiefel trug. In seinen tiefliegenden Augen brannte ein dunkles Feuer, und sein Geruch ... Die einzige Bezeichnung, die Perrin für diesen stahlharten, messerscharfen und heftig und angespannt bebenden Geruch einfiel, war Wahnsinn. Und Rand glaubte, diesen Mann anleinen zu können?

»Ihr seid es also«, grollte Masema. »Ich hätte nicht gedacht, daß Ihr hier aufzutauchen wagt. Ich weiß, was Ihr vorhattet! Hari hat es mir vor über einer Woche erzählt, und ich habe mich auch anderweitig erkundigt.« In einer Ecke des Raums regte sich jemand, ein Bursche mit schmalen Augen und einer großen Nase, und Perrin schalt sich, daß er ihn nicht eher bemerkt hatte. Haris grüne Seidenjacke war weitaus edler als seine Kleidung bei ihrer ersten Begegnung. Der Bursche rieb sich die Hände und grinste Perrin boshaft an, aber er schwieg, während Masema fortfuhr. Die Stimme des Propheten wurde mit jedem Wort hitziger, nicht vor Zorn, sondern in einer Weise, als wolle er Perrin jede Silbe tief in die Haut einbrennen. »Ich weiß, daß Ihr Männer getötet habt, die zum Wiedergeborenen Drachen kamen. Ich weiß, daß Ihr versucht, Euer eigenes Königreich zu errichten! Ja, ich weiß von Manetheren! Von Eurem Ehrgeiz! Eurer Gier nach Ruhm! Ihr habt demjenigen den Rücken gekehrt...!«

Masemas Augen traten plötzlich hervor, und er roch zum ersten Mal nach Zorn. Hari stieß einen erstickten Laut aus und versuchte gewissermaßen, durch die Wand zurückzuweichen. Seonid und Masuri hatten ihre Kapuzen abgenommen und standen mit ruhigen und kühlen Mienen da, für jedermann, der ihr Aussehen kannte, eindeutig Aes Sedai. Perrin fragte sich, ob sie die Macht festhielten. Er hätte gewettet, daß die Weisen Frauen es taten. Edarra und Carelle hielten schweigend nach allen Richtungen Ausschau, und obwohl ihre Gesichter ausdruckslos waren, waren sie eindeutig kampfbereit. Auch Grady war bereit. Vielleicht hielt er ebenfalls die Macht fest. Elyas lehnte neben den geöffneten Türen an der Wand, äußerlich ebenso gefaßt wie die Schwestern, aber er roch angriffsbereit. Aram stand da und starrte Masema mit offenem Mund an! Licht!

»Also entspricht dies ebenfalls der Wahrheit!« fauchte Masema geifernd. »Während schmutzige Gerüchte gegen den geheiligten Namen des Lord Drache verbreitet werden, wagt Ihr es, mit diesen ... diesen ...!«

»Sie haben dem Lord Drache die Treue geschworen, Masema«, unterbrach Perrin ihn. »Sie dienen ihm! Ihr auch? Er hat mich hierher gesandt, um das Töten zu unterbinden und um Euch zu ihm zu bringen.« Niemand bot ihm einen Platz an, so daß er selbst einen Stapel Papiere von einem Stuhl fegte und sich hinsetzte. Er wünschte, die anderen würden sich ebenfalls hinsetzen. Es war schwerer, sich anzuschreien, wenn man saß.

Hari stierte ihn an, und Masema bebte förmlich. Weil er ungefragt Platz genommen hatte? O ja.

»Ich habe menschliche Namen aufgegeben«, sagte Masema kalt. »Ich bin nur der Prophet des Lord Drache, möge das Licht ihn erleuchten und die Welt vor ihm niederknien.« Seinem Tonfall nach zu urteilen, würden die Welt und das Licht ein Versagen gleichermaßen bedauern. »Es gibt hier noch viel Großartiges zu tun. Alle müssen gehorchen, wenn der Lord Drache ruft, aber im Winter kommt man nur langsam voran. Eine Ver/ögerung von einigen Wochen wird kaum einen Unterschied machen.«

»Ich kann Euch noch heute nach Cairhien bringen«, sagte Perrin. »Wenn der Lord Drache mit Euch gesprochen hat, könnt Ihr auf gleichem Wege zurückkehren und in wenigen Tagen wieder hier sein.« Wenn Rand ihn gehen ließ.

Masema schrak tatsächlich zurück. Er entblößte die Zähne und schaute zu den Aes Sedai. »Hat die Macht irgend etwas damit zu tun? Ich will nicht mit der Macht in Berührung kommen! Es ist lästerlich, wenn Sterbliche sie berühren!«

Perrin hätte ihn fast mit offenem Mund angestarrt. »Der Wiedergeborene Drache lenkt die Macht, Mann!«

»Der gesegnete Wiedergeborene Drache ist nicht wie andere Menschen, Aybara!« knurrte Masema. »Er ist das fleischgewordene Licht! Ich werde seinem Ruf folgen, aber ich werde mich nicht von dem Schmutz berühren lassen, den diese Frauen handhaben!«

Perrin lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und seufzte. Wenn der Mann solche Furcht vor den Aes Sedai hatte — wie würde er sich dann erst verhalten, wenn er erfuhr, daß auch Grady und Neald die Macht lenken konnten? Er erwog einen Moment, Masema einfach niederzuschlagen und ... Männer gingen an dem Raum vorbei, hielten kurz inne und schauten herein, bevor sie weiter eilten. Es brauchte nur einer von ihnen einen Schrei auszustoßen, und Abila könnte zum Schlachtfeld werden. »Dann reiten wir, Prophet«, sagte er verärgert. Licht, Rand hatte ihn angewiesen, dies geheimzuhalten, bis Masema vor Rand stünde! Wie sollte er das bewerkstelligen, wenn sie den ganzen Weg nach Cairhien ritten? »Aber keine Verzögerungen. Der Lord Drache möchte dringend mit Euch sprechen.«

»Ich möchte auch dringend mit dem Lord Drache sprechen, möge sein Name vom Licht gesegnet sein.« Sein Blick zuckte zu den beiden Aes Sedai. Er versuchte, es zu verbergen, und lächelte Perrin tatsächlich an. Aber er roch ... grimmig. »Ich möchte ihn tatsächlich sehr dringend sprechen.«

»Möchte meine Lady, daß ich einen der Falkner bitte, ihr einen Habicht zu bringen?« fragte Maighdin Faile. Einer von Alliandres vier Falknern, ein Mann, der ebenso hager war wie ihre Vögel, drängte einen Habicht mit glänzendem Gefieder und einer Federkappe von der Holzstange vor seinem Sattel auf seinen schweren Handschuh und hob ihr den grauen Vogel entgegen. Der Falke, dessen Flügel blaue Spitzen aufwiesen, saß auf Alliandres grün behandschuhtem Handgelenk. Dieser Vogel war für sie reserviert, leider. Alliandre war sich ihres Platzes als Vasallin bewußt, aber Faile verstand, daß sie ihren Lieblingsvogel nicht aufgeben wollte.

Sie schüttelte nur den Kopf, und Maighdin verneigte sich im Sattel und führte ihre gescheckte Stute ausreichend weit von Schwalbe fort, um nicht aufdringlich zu wirken, blieb aber auch nahe genug, um zur Stelle zu sein, ohne daß Faile die Stimme erheben müßte. Die würdevolle blonde Frau hatte sich in jeder Beziehung als so verständige und fähige Dienerin einer Lady erwiesen, wie Faile es sich erhofft hatte. Zumindest war dem so gewesen, sobald sie merkte, daß Lini eine Vorrangstellung unter Failes Dienerinnen einnahm, welche vergleichbaren Positionen sie auch immer bei ihrer früheren Herrin innegehabt hatten.

Überraschenderweise war tatsächlich ein Zwischenspiel mit der Gerte nötig gewesen, aber Faile gab vor, nichts davon zu wissen. Nur eine ausgesprochene Närrin brachte ihre Diener in Verlegenheit. Aber da war auch noch die Angelegenheit mit Maighdin und Tallanvor. Sie war sich sicher, daß Maighdin seit geraumer Zeit mit ihm schlief, und wenn sie einen Beweis dafür fand, würden sie heiraten, und wenn sie Lini auf die beiden ansetzen mußte. Aber das war nur eine geringe Sorge und konnte ihr den Morgen nicht verderben.

Die Falkenjagd war Alliandres Idee gewesen, aber Faile hatte nichts gegen einen Ritt durch diesen spärlichen Wald einzuwenden gehabt, in dem der Schnee eine hohe Decke über alles gebreitet hatte und dick und weiß auf kahlen Zweigen lag. Das Grün der noch belaubten Bäume schien klarer. Die Luft war lebendig und roch sauber und frisch.

Bain und Chiad hatten darauf bestanden, sie zu begleiten. Die beiden hockten in der Nähe, die Shoufa um die Köpfe gewunden, und beobachteten sie mit verstimmten Mienen. Sulin hatte mit allen Töchtern des Speers mitkommen wollen, aber bei hundert überall in Umlauf befindlichen Geschichten von Aiel-Überfällen genügte der Anblick eines Aiel, damit die meisten Menschen in Amadicia davonliefen oder nach einem Schwert griffen. Es mußte etwas Wahres an diesen Geschichten sein, sonst würden nicht so viele Menschen einen Aiel erkennen, obwohl nur das Licht allein wußte, wer sie waren oder woher sie kamen.

Zwanzig von Alliandres Soldaten und ebenso viele mayenische Beflügelte Wächter bildeten so nahe an Abila gewiß eine ausreichende Eskorte. Die roten oder grünen Wimpel an ihren Lanzen hoben sich wie Bänder, wenn der Wind auffrischte. Der einzige Wermutstropfen war Berelains Anwesenheit, obwohl es belustigend war, die Frau in ihrem pelzbesetzten roten Umhang, der die Dicke zweier Decken hatte, zittern zu sehen, denn in Mayene gab es keinen richtigen Winter. Er entsprach allenfalls den letzten Herbsttagen. In Saldaea konnte der tiefste Winter entblößte Haut so hart wie Holz gefrieren. Faile atmete tief ein. Sie verspürte das Verlangen zu lachen.

Durch irgendein Wunder hatte ihr Ehemann, ihr geliebter Wolf, begonnen, sich so zu verhalten, wie er es sollte. Anstatt Berelain anzuschreien oder vor ihr davonzulaufen, tolerierte Perrin die Schmeicheleien des Weibsstücks jetzt, tolerierte sie eindeutig auf die Art, wie er ein um seine Knie spielendes Kind dulden würde. Und das beste von allem war, daß sie ihren Ärger nicht mehr unterdrücken mußte, wenn sie ihn herauslassen wollte. Wenn sie schrie, schrie er zurück. Sie wußte, daß er kein Saldaeaner war, aber das Gefühl, daß er sie für zu schwach gehalten hatte, sich gegen ihn zu behaupten, hatte sie schwer belastet. Sie hätte ihn vor wenigen Tagen beim Abendessen beinahe darauf aufmerksam gemacht, daß Berelain aus ihrem Gewand fallen würde, wenn sie sich noch weiter über den Tisch beugte. Nun, so weit würde sie nicht gehen, nicht bei Berelain. Die Hure glaubte noch immer, sie könnte ihn für sich gewinnen. Gerade heute morgen war er gebieterisch gewesen, hatte keinen Einwand gelten lassen, die Art Mann, bei dem eine Frau wußte, daß sie stark sein mußte, um ihn zu verdienen, um ihm gleichzukommen. Sie würde ihn deswegen natürlich noch zur Rechenschaft ziehen müssen. Ein gebieterischer Mann war wunderbar, solange er nicht zu glauben begann, er könne stets befehlen. Lachen? Sie hätte singen mögen!

»Maighdin, ich denke, ich werde nach allem...«

Maighdin stand sofort mit fragendem Lächeln an ihrer Seite, aber Falle brach beim Anblick von drei Reitern vor ihr ab, die so rasch, wie sie ihre Pferde antreiben konnten, durch den Schnee pflügten.

»Zumindest gibt es viele Hasen, meine Lady«, sagte Alliandre, während sie ihren großen weißen Wallach neben Schwalbe führte. »Aber ich hatte gehofft... Wer sind sie?« Ihr Falke regte sich auf ihrem dicken Handschuh, so daß die Glocken an seinen Fußriemen klangen. »Es sind anscheinend einige Eurer Leute, meine Lady.«

Falle nickte grimmig. Sie erkannte sie ebenfalls. Parelean, Arrela und Lacile. Aber was taten sie hier?

Die drei verhielten ihre Dampfwolken ausstoßenden Pferde vor Falle. Parelean wirkte ebenso verstört wie sein Schecke. Lacile, deren blasses Gesicht in der tiefen Kapuze ihres Umhangs fast verborgen war, schluckte ängstlich, und Arrelas dunkles Gesicht schien grau. »Meine Lady«, sagte Parelean hastig, »wir bringen schlechte Nachrichten! Der Prophet Masema hat sich mit den Seanchanern getroffen!«

»Mit den Seanchanern!« entfuhr es Alliandre. »Er kann doch wohl nicht glauben, sie würden sich dem Lord Drache anschließen!«

»Es ist vielleicht viel einfacher«, sagte Berelain und drängte ihre auffällige weiße Stute an Alliandres Seite. Da Perrin nicht da war, den es zu beeindrucken galt, trug sie ein dunkelblaues, recht sittsam geschnittenes Reitgewand, das bis zum Hals geschlossen war. Sie zitterte noch immer. »Masema mag die Aes Sedai nicht, und die Seanchaner halten Frauen, welche die Macht lenken können, als Gefangene.«

Falle schnalzte verärgert mit der Zunge. Das waren wirklich schlechte Nachrichten, wenn sie zutrafen. Sie konnte nur hoffen, daß Parelean und die übrigen sich noch genug Verstand bewahrt hatten, wenigstens vorzugeben, sie hätten nur zufällig darüber reden hören. Aber auch wenn dem so war, brauchte sie Gewiß-heit — und zwar rasch. Perrin könnte Masema bereits erreicht haben. »Welchen Beweis habt Ihr, Parelean?«

»Wir haben mit drei Bauern gesprochen, die vor vier Nächten ein großes Flugwesen landen sahen, meine Lady. Es brachte eine Frau heran, die zu Masema geführt wurde und drei Stunden bei ihm blieb.«

»Wir konnten ihrem Weg bis zu Masemas Aufenthaltsort in Abila folgen«, fügte Lacile hinzu.

»Die drei Männer hielten das Wesen für Schattengezücht«, warf Arrela ein, »aber sie schienen ziemlich zuverlässig.« Wenn sie sagte, daß irgend jemand, der nicht zur Cha Faile gehörte, ziemlich zuverlässig war, dann war das genauso, als wenn andere sagten, sie hielten ihn für grundehrlich.

»Ich muß unverzüglich nach Abila reiten«, sagte Faile und nahm Schwalbes Zügel auf. »Alliandre, nehmt Maighdin und Berelain mit Euch.« Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte es sie amüsiert, daß Berelain bei ihren Worten die Lippen zusammenpreßte. »Parelean, Arrela und Lacile werden mich begleiten ...« Ein Mann schrie, und alle zuckten zusammen.

Fünfzig Schritt entfernt stürzte einer von Alliandres mit grünen Jacken bekleideten Soldaten aus dem Sattel, und kurz darauf fiel auch ein Beflügelter Wächter, aus dessen Kehle ein Pfeil ragte. Aiel tauchten zwischen den Bäumen auf, verschleiert und im Lauf Bogen handhabend. Weitere Soldaten fielen. Bain und Chiad waren aufgesprungen, deren dunkle Schleier ihre Gesichter bis auf die Augen verbargen. Sie gingen geschickt mit ihren Bogen um, aber sie warfen Faile auch besorgte Blicke zu. Überall um sie herum waren Aiel, anscheinend Hunderte, eine große, sie umschließende Schlinge. Berittene Soldaten senkten ihre Lanzen und bildeten einen weiten Kreis um Faile und die übrigen, aber es entstanden sofort Lücken, als Aiel-Pfeile ihr Ziel trafen.

»Jemand muß diese Nachrichten über Masema Lord Perrin überbringen«, erklärte Faile Parelean und den beiden Frauen. »Jemand von Euch muß ihn erreichen! Reitet wie der Wind!« Ihr Blick schloß auch Alliandre und Maighdin ein. Und Berelain ebenfalls. »Ihr alle, reitet wie der Wind, oder sterbt hier!« Faile wartete kaum auf ihr bestätigendes Nicken, sondern ließ ihren Worten Taten folgen, indem sie Schwalbe die Fersen in die Flanken bohrte und den nutzlosen Kreis der Soldaten durchbrach. »Reitet!« schrie sie. Jemand mußte Perrin warnen. »Reitet!«

Sie beugte sich tief über Schwalbes Hals und trieb die schwarze Stute zu schnellem Lauf an. Flinke Hufe wirbelten Schnee auf, während Schwalbe leicht wie ihre Namensvetterin dahinschnellte. Hundert Schritt lang glaubte Faile, sie könnte entkommen. Doch dann schrie Schwalbe auf, stolperte und schlug mit dem scharfen Knacken eines gebrochenen Beins auf dem Boden auf. Faile flog durch die Luft und traf hart auf, wobei ihr der Atem aus den Lungen entwich, als sie mit dem Gesicht voran in den Schnee eintauchte. Sie rang nach Luft, kämpfte sich hoch und riß einen Dolch aus ihrem Gürtel. Schwalbe hatte geschrien, bevor sie gestolpert war, vor diesem schrecklichen Knacken.

Ein verschleierter Aiel ragte wie aus dem Nichts vor Faile auf und hieb mit starren Fingern auf ihr Handgelenk ein. Der Dolch entfiel ihren gefühllosen Fingern, und bevor sie mit der linken Hand einen weiteren Dolch zücken konnte, war der Mann schon über ihr.

Sie kämpfte, trat und schlug um sich, biß sogar, aber der Bursche war so breit wie Perrin und einen Kopf größer. Er schien ihr auch ebenso unerbittlich wie Perrin. Sie hätte vor Enttäuschung über die erniedrigende Leichtigkeit weinen können, mit der er sie überwältigte, indem er ihr zunächst alle ihre Dolche nahm und sie hinter seinen Gürtel steckte und dann eine ihrer eigenen Klingen benutzte, um ihr die Kleidung zu zerschneiden. Sie lag, fast bevor es ihr bewußt wurde, nackt im Schnee. Er hatte ihr die Hände mit einem ihrer Strümpfe auf dem Rücken gefesselt und den anderen Strumpf als Koppel um ihren Hals gebunden.

Sie hatte keine andere Wahl, als ihm zitternd und durch den Schnee stolpernd zu folgen. Sie bekam vor Kälte eine Gänsehaut. Licht, wie hatte sie diesen Tag jemals für etwas anderes als eiskalt halten können? Und Licht, wenn es nur jemandem gelungen war, mit den Nachrichten über Masema zu entkommen! Perrin würde natürlich auch von ihrer Gefangennahme erfahren, aber sie würde irgendwie entkommen können. Das andere war wichtiger.

Der erste Leichnam, den sie sah, war Pareleans; er lag auf dem Rücken, das Schwert in der ausgestreckten Hand, und überall auf seiner edlen Jacke mit den Satinstreifen an den Ärmeln war Blut. Es folgten noch viele Leichname, Beflügelte Wächter mit ihren roten Brustharnischen, Alliandres Soldaten mit den dunkelgrünen Helmen, einer der Falkner, wobei der Wanderfalke mit der Kappe vergeblich gegen die noch immer fest in der Faust des Mannes gefangenen Riemen anflatterte. Sie gab die Hoffnung jedoch nicht auf.

Die ersten anderen Gefangenen, die sie sah, zwischen einigen Aiel kniend, Männern und Töchtern des Speers, deren Schleier jetzt über ihre Brust herabhingen, waren Bain und Chiad, ebenfalls nackt, die ungefesselten Hände auf den Knien. Blut lief über Bains Gesicht und machte ihr flammendrotes Haar stumpf. Chiads linke Wange war blau und angeschwollen, und ihre grauen Augen wirkten ein wenig erstaunt. Sie knieten gerade aufgerichtet da, unbeteiligt und nicht beschämt, aber als der große Aiel Faile neben ihnen grob auf die Knie zwang, kamen sie wieder zu sich.

»Das ist nicht recht, Shaido«, murmelte Chiad verärgert.

»Sie folgt keinem Ji'e'toh«, erwiderte Bain barsch. »Man kann sie nicht zur Gai'shain machen.«

»Die Gai'shain werden friedlich sein«, sagte eine bereits ergrauende Tochter des Speers gedankenverloren. Bain und Chiad sahen Faile kummervoll an und verlegten sich dann wieder auf schweigendes Abwarten. Faile kauerte sich zusammen, versuchte ihre Nacktheit mit den Knien zu bedecken und wußte nicht, ob sie weinen oder lachen sollte. Dies waren die beiden Frauen, die ihr hätten helfen können zu entkommen, und keine würde es wegen Ji'e'toh auch nur versuchen.

»Ich sage es noch einmal, Efalin«, murrte der Mann, der sie gefangengenommen hatte, »dies ist töricht. Wir kommen auf diesem ... Schnee viel zu langsam voran.« Er sprach das Wort seltsam aus. »Es gibt hier zu viele bewaffnete Männer. Wir sollten nach Osten ziehen und nicht noch weitere Gai'shain gefangennehmen, die uns noch mehr behindern.«

»Sevanna will weitere Gai'shain, Rolan«, erwiderte die bereits ergrauende Tochter des Speers. Sie runzelte jedoch die Stirn, und ihre harten grauen Augen schienen einen Moment Mißbilligung auszudrücken.

Faile blinzelte zitternd, als ihr die Namen ins Bewußtsein drangen. Licht, die Kälte beeinträchtigte ihren Verstand. Sevanna. Shaido. Sie waren doch in Brudermörders Dolch, so weit von hier entfernt, wie man nur sein konnte, wenn man nicht das Rückgrat der Welt überquerte! Aber sie befanden sich eindeutig nicht dort. Das sollte Perrin ebenfalls wissen, ein weiterer Grund, warum sie bald entkommen mußte. Es bestand wohl kaum eine Chance darauf, da sie hier im Schnee kauerte und sich fragte, welche ihrer Körperteile zuerst erfrieren würden. Das Rad wog ihre Belustigung über Berelains Zittern mit dieser Rache auf. Tatsächlich freute sie sich auf die dicken Tuchgewänder der Gai'shain. Ihre Gefangenenwärter machten jedoch keinerlei Anstalten zum Aufbruch. Offenbar sollten noch weitere Gefangene herangebracht werden.

Die erste war Maighdin, ebenso wie Faile all ihrer Kleidung beraubt und gefesselt und jeden Schritt des Weges sich widersetzend. Bis die Tochter des Speers, die sie vorwärts stieß, ihr jäh die Füße wegtrat. Maighdin tauchte mit dem Gesäß in den Schnee ein, und ihre Augen weiteten sich so stark, daß Faile vielleicht gelacht hätte, wenn sie kein Mitleid für die Frau empfunden hätte. Als nächste kam Alliandre, in dem Versuch, sich zu schützen, stark vornübergebeugt, und dann Arrela, die durch ihre Nacktheit halbwegs gelähmt schien und von zwei Töchtern des Speers beinahe vorangezerrt werden mußte. Schließlich erschien ein weiterer großer Aiel mit einer wie ein Paket unter dem Arm geklemmten, wild um sich tretenden Lacile.

»Die übrigen sind tot oder entkommen«, sagte der Mann und ließ die kleine cairhienische Frau neben Faile fallen. »Sevanna wird sich mit diesen begnügen müssen, Efalin. Sie legt zuviel Wert auf Leute, die Seide tragen.«

Faile wehrte sich nicht, als man sie drängte aufzustehen und sie dann an der Spitze der übrigen Gefangenen mühsam durch den Schnee stapfen ließ. Sie war zu benommen, um sich zu wehren. Parelean tot, Arrela und Lacile gefangen, und Alliandre und Maighdin ebenfalls. Licht, jemand mußte Perrin vor Masema warnen. Irgend jemand. Es schien ein letzter Schlag zu sein. Doch sie war hier, zitternd und die Zähne zusammenbeißend, damit sie nicht klapperten, und bemühte sich nach besten Kräften vorzugeben, sie wäre nicht völlig nackt und gefesselt und auf dem Weg in eine Ungewisse Gefangenschaft. Obendrein mußte sie noch hoffen, daß es dieser hinterhältigen Katze — dieser schmollenden Hure! — Berelain gelungen war, zu entkommen, damit sie Perrin erreichen könnte. Abgesehen von allem anderen schien dies das schlimmste.

Egwene führte Daishar die Kolonne der Neulinge entlang, Schwestern auf ihren Pferden zwischen den Wagen und Aufgenommene und Novizinnen trotz des Schnees zu Fuß. Die Sonne schien hell, und es standen nur wenige Wolken am Himmel, aber es stieg dennoch Dampf aus den Nüstern ihres Wallachs. Sheriam und Siuan ritten hinter ihr und unterhielten sich leise über von Siuans Augen-und-Ohren erfahrene Neuigkeiten. Egwene hatte die Frau mit dem feuerroten Haar schon für eine tüchtige Behüterin der Chroniken gehalten, als sie sich damit abgefunden hatte, daß sie nicht die Amyrlin war, und Sheriam schien ihren Pflichten von Tag zu Tag emsiger nachzukommen. Chesa folgte auf ihrer stämmigen Stute, und sie murrte, was ihr nicht ähnlich sah, darüber, daß Meri und Selame davongelaufen waren, diese undankbaren Geschöpfe, und ihr die Arbeit für drei überließen. Sie ritten langsam voran, und Egwene mied es sehr sorgfältig, die Kolonne zu betrachten.

Ein Monat der Aushebungen, in dem das Novizinnenbuch jedermann offenstand, hatte eine erstaunliche Anzahl Frauen zu ihnen geführt, die danach strebten, Aes Sedai zu werden, Frauen jeden Alters, von denen einige Hunderte von Meilen weit gereist waren. Es befanden sich jetzt doppelt so viele Novizinnen in der Kolonne wie zuvor. Fast eintausend! Die weitaus meisten würden niemals die Stola tragen, und doch erregte ihre bloße Anzahl Aufsehen. Einige würden vielleicht hin und wieder Schwierigkeiten bereiten, und eine Frau, eine Großmutter namens Sharina mit einem noch größeren Potential als Nynaeve, hatte gewiß jedermann verblüfft, aber es war nicht der Anblick einer Mutter und einer Tochter, die miteinander stritten, weil die Tochter eines Tages die weitaus Stärkere sein würde, den Egwene zu meiden versuchte, oder adlige Frauen, die zu glauben begannen, sie hätten die falsche Wahl getroffen, als sie darum baten, geprüft zu werden, und auch nicht Sharinas beunruhigend direkte Blicke. Die grauhaarige Frau befolgte jede Regel und zeigte allen angemessenen Respekt, aber sie hatte ihre große Familie durch die reine Macht ihrer Anwesenheit geführt, und selbst einige der Schwestern behandelten sie mit Vorsicht. Was Egwene nicht sehen wollte, waren die jungen Frauen, die sich ihnen vor zwei Tagen angeschlossen hatten. Die beiden Schwestern, die sie hierher gebracht hatten, waren äußerst bestürzt gewesen, Egwene als Amyrlin vorzufinden, aber ihre Schützlinge konnten es schlichtweg nicht glauben, nicht Egwene al'Vere, die Tochter des Bürgermeisters von Emondsfelde. Sie wollte niemanden bestrafen lassen, aber sie würde es tun müssen, wenn noch jemand ihr die Zunge herausstreckte.

Gareth Bryne hatte sein Heer ebenfalls in einer langen Kolonne Aufstellung nehmen lassen, Kavallerie und Fußsoldaten alle in Reih und Glied und sich durch den Wald außer Sicht erstreckend. Die fahle Sonne schimmerte auf Brustharnischen, Helmen und den Spitzen der Langspieße. Pferde stampften im Schnee ungeduldig mit den Hufen.

Bryne führte seinen robusten Kastanienbraunen zu Egwene heran, bevor sie die Sitzenden erreichte, die auf einer großen Lichtung vor beiden Kolonnen auf ihren Pferden warteten. Er lächelte sie durch sein Visier an. Ein beruhigendes Lächeln, dachte sie. »Ein schöner Morgen für diesen Zweck, Mutter«, sagte er.

Sie nickte nur, und er ritt hinter sie neben Siuan, die ihn nicht sofort anfauchte. Egwene war sich nicht ganz sicher, welche Anpassung Siuan mit dem Mann erreicht hatte, aber sie grollte in Egwenes Hörweite nur noch selten über ihn und niemals, wenn er dabei war. Egwene war froh, daß er jetzt dabei war. Der Amyrlin-Sitz durfte ihrem Feldherrn nicht vermitteln, daß sie von ihm beruhigt werden wollte, aber sie spürte, daß es heute morgen nötig war.

Die Sitzenden hatten ihre Pferde am Waldrand in einer Linie aufgereiht, und dreizehn weitere Schwestern saßen ein Stück entfernt auf ihren Pferden und beobachteten die Sitzenden sorgfältig. Romanda und Lelaine trieben ihre Tiere fast gleichzeitig vorwärts, und Egwene konnte nur mühsam ein Seufzen unterdrücken, als sie auf sie zugaloppierten, wobei die Umhänge hinter ihnen herflatterten und die Pferdehufe wie bei einem Angriff Schnee versprühten. Der Saal gehorchte ihr, weil er keine andere Wahl hatte. Bei Angelegenheiten, die den Krieg gegen Elaida betrafen, gehorchten sie jedenfalls, aber Licht, wie sehr sie darüber streiten konnten, was den Krieg betraf oder was nicht. Wenn es ihn nicht betraf, war es sehr schwer, etwas aus ihnen herauszubekommen! Von Sharina abgesehen hätten sie vielleicht eine Möglichkeit gefunden, damit aufzuhören, Frauen jeden Alters aufzunehmen. Aber selbst Romanda war von Sharina beeindruckt.

Die beiden verhielten ihre Pferde vor ihr, aber bevor sie den Mund öffnen konnten, ergriff sie das Wort. »Es wird Zeit, daß wir weiterkommen, Töchter. Wir dürfen keine Zeit mit müßigem Geschwätz vergeuden. Beginnt also.« Romanda rümpfte die Nase, wenn auch kaum vernehmlich, und Lelaine wollte es ihr offensichtlich gleichtun.

Sie wirbelten ihre Pferde gleichzeitig herum und sahen einander dann einen Moment an. Die Ereignisse des vergangenen Monats hatten ihre gegenseitige Abneigung nur noch verstärkt. Lelaine warf verärgert den Kopf in den Nacken, und Romanda lächelte leicht. Egwene hätte beinahe ebenfalls gelächelt. Diese gegenseitige Feindseligkeit war noch immer ihre stärkste Kraft im Saal.

»Der Amyrlin-Sitz befiehlt Euch zu beginnen«, verkündete Romanda und hob mit einer theatralischen Geste eine Hand.

Das Licht Saidars flammte um die dreizehn in der Nähe der Sitzenden befindlichen Schwestern auf, um sie alle zusammen; ein breiter Silberschlitz erschien inmitten der Lichtung und wurde dann, sich drehend, zu einem zehn Schritt hohen und hundert Schritt breiten Wegetor. Schneeflocken schwebten von der anderen Seite heran. Laute Befehle erklangen unter den Soldaten, und die erste schwerbewaffnete Kavallerie ritt durch das Tor. Der Schnee wirbelte jenseits davon zu dicht umher, als daß man weit hätte sehen können, und doch bildete Egwene sich ein, die Leuchtenden Mauern Tar Valons und die Weiße Burg selbst zu erkennen.

»Es hat begonnen, Mutter«, sagte Sheriam und klang beinahe überrascht.

»Es hat begonnen«, stimmte Egwene ihr zu. Und wenn das Licht es wollte, würde Elaida bald gestürzt werden. Egwene sollte warten, bis Bryne der Meinung war, es seien genügend viele Soldaten durch das Wegetor hindurch gelangt, aber sie konnte sich nicht zurückhalten. Sie stieß Daishar die Fersen in die Flanken und ritt durch das Wegetor in herabfallenden Schnee auf die Ebene, über der schwarz und rauchend der Drachenberg vor einem weißen Himmel aufragte.

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