Kapitel 1

Auf der Südseite

Tartri flammis!«, fluchte Hector und die Angst schnürte ihm den Magen zusammen. Seine Brust hob und senkte sich bei jedem Herzschlag, er drehte sich langsam auf der Stelle und keuchte schwer nach der Verfolgungsjagd. Der beißende Gestank in der Luft stieg ihm in die Nase. Schon schmerzten ihm die Ohren von all den bedrohlichen Geräuschen rundum: Schreie und Geheul, Kratzen und Schlurfen und dann dieses fortwährende unheilvolle Stöhnen.

Das also ist Angst, dachte er. Ein Gefühl, das ihn auf eigenartige Weise berauschte.

Er stand mitten auf einem kopfsteingepflasterten Platz, auf dem fünf dunkle, enge Straßen zusammenliefen. Es war später Nachmittag, doch ungeachtet der Tageszeit ließ sich in dem seltsamen Dämmerlicht, das stets über diesem Teil der Stadt hing, kaum etwas deutlich erkennen. Hector war bisher erst einmal auf der anderen Seite des Flusses gewesen, aber so weit hatte er sich damals nicht vorgewagt. Er hatte den Fehler gemacht, einem Dieb und Herumtreiber nachzulaufen, der ihm seine Geldbörse gestohlen hatte. Blitzschnell war der junge Langfinger entwischt und hatte Hector dabei wie in einem ausgelassenen Tanz durch die unbeleuchteten Straßen und Gässchen geführt, bis er die Orientierung völlig verloren hatte.

»Na warte, wenn ich dich erwische!«, murmelte Hector. Aber er wusste, dass er ihn nie erwischen würde. Der Taschendieb war längst verschwunden.

Oder doch nicht?

Eine plötzliche Bewegung zu seiner Rechten ließ ihn herumfahren. Aus einer der Seitenstraßen tauchte eine kleine dunkle Gestalt auf, und Hector sah mit wachsendem Unbehagen, wie sie schweigend auf ihn zukam. Noch eine Gestalt wurde sichtbar und noch eine. Sie kamen aus allen Straßenmündungen, zehn Jungen insgesamt näherten sich von allen Seiten und umringten ihn. Der Anführer, der Größte von ihnen, trat aus dem Kreis heraus. Er schob seinen Mantel ein wenig auseinander, und Hector meinte, eine Messerklinge in seinem Gürtel blitzen zu sehen. Der Junge sprach mit der Sicherheit derer, die wissen, dass sie alle Trümpfe in der Hand haben.

»Wie heißt du, Nordjüngelchen?«

»Nordjüngelchen?«, wiederholte Hector fragend. Überrascht stellte er fest, wie schwach seine Stimme klang. Er ballte die Fäuste und drückte sie fest an den Körper, damit sie nicht mehr zittern konnten.

»Jawohl, Nordjüngelchen«, sagte der Kerl noch einmal. »Du kommst doch von der Nordseite, oder etwa nich?«

»Ach so, ja, natürlich«, antwortete Hector. Dann, ein wenig mutiger: »Was meinen Namen angeht, ich heiße Hector. Wie der griechische Held.«

Der Anführer war unbeeindruckt. »Na schön, Hector, und was hast du sonst noch zu bieten?«

»Zu bieten?« Hectors Sarkasmus prallte an den Jungen ab.

»Ich will seine Stiefel haben«, sagte einer.

»Und ich seine Mütze«, sagte ein anderer, und schon hatte er einen langen Stock in der Hand, angelte sich damit Hectors Mütze und ließ sie geschickt auf dem Kopf des Anführers landen.

»He!«, protestierte Hector, wenn auch nur halbherzig. Die Jungen waren in der Überzahl, er war hier ein Fremder auf feindlichem Territorium. Es lag ganz bei ihnen, ob sie ihn in Ruhe lassen wollten oder nicht. Und wenn nicht? Hector mochte nicht daran denken, wie die Sache für ihn ausgehen könnte. Mit solchen Jungen hatte er noch nie zu tun gehabt.

»Na gut«, sagte er langsam, doch seine Gedanken arbeiteten fieberhaft. Es musste doch eine Möglichkeit geben, die Jungen zu besänftigen. »Ihr habt mein Geld und meine Mütze. Ihr bekommt auch noch meinen Mantel und meine Stiefel, wenn ihr wollt, aber als Gegenleistung könnt ihr mir vielleicht den Weg zur Brücke sagen.«

Hectors Redeweise schien seine Unterdrücker zu erheitern, sie kicherten. Der Anführer kam unangenehm nahe an Hector heran und stieß ihn vor die Brust.

»Ich frag dich nich um Erlaubnis, Nordjüngelchen. Wenn ich was will, dann nehm ich’s mir!«

Auf sein Fingerschnalzen hin rückten die Jungen vor, ihre Augen funkelten. Wie wilde Tiere drängten sie heran. Hector schluckte schwer. Jetzt waren sie so nahe, dass er sie riechen konnte. Er hörte sie atmen. Sein Mund war trocken, als wäre er voller Holzspäne. Er biss die Zähne zusammen, hob die Fäuste und machte sich auf eine Prügelei gefasst.

Und plötzlich spürte er ihre Hände überall, seine Gegenwehr war vergeblich, er wurde überwältigt. Sie zerrten und rissen an seinem Mantel, zupften an seinen Ärmelaufschlägen und stießen ihn fast um. Hilflos ließ er den Mantel von seinen Schultern in die gierigen Hände des Angreifers gleiten. Er sah zu, wie der Junge hineinschlüpfte und laut triumphierend herumtanzte. Jemand zog ungeduldig an seinen Schnürsenkeln, Hector verlor den Halt und fiel unsanft auf den Boden. Wortlos gab er seine Schuhe her. Sie nahmen ihm die Uhr samt der Kette ab, seine seidene Krawatte und schließlich seine Handschuhe.

»Noch was?«, fragte der Anführer.

»Nur mein Taschentuch«, sagte Hector spöttisch und stand auf. Er wischte sich den gröbsten Schmutz ab, doch es war ihm klar, dass er ziemlich jämmerlich aussah. Als er unbewusst die Hand zum Hals bewegte, sprang der Anführer vor, der ihn scharf beobachtete. Er griff unter Hectors Hemd und zog an der verborgenen Lederschnur. Sie riss. Der Junge hielt sie hoch, und alle sahen, dass an ihrem Ende ein kleines schwarzes Ding baumelte.

»Was’n das?«

»Das ist ein Schmetterlingskokon«, sagte Hector langsam. Plötzlich packte ihn die helle Wut. Seine anderen Besitztümer bedeuteten ihm wenig, aber der Kokon war etwas Besonderes. Der Kokon war ein Geschenk seines Vaters und ihn würde er den Jungen nicht kampflos überlassen. Dann lächelte er, denn ihm war etwas eingefallen.

»Für den Kokon stelle ich euch eine Aufgabe.«

Der Anführer hob die Augenbrauen. Die Jungen sahen einander an und machten sich kampfbereit.

»Es hat nichts mit Fäusten zu tun, sondern mit Verstand«, sagte Hector hastig. »Ein Rätsel. Ihr könnt gemeinsam versuchen, es zu lösen, zehn gegen einen. Wenn ihr richtig ratet, könnt ihr den Kokon haben, wenn nicht, müsst ihr ihn mir lassen.«

Die Jungen grinsten und zwinkerten einander zu.

»Von mir aus«, sagte der Anführer. »Wie geht das Rätsel?«

Hector hatte das flaue Gefühl, dass er das Unvermeidliche nur hinausschob. Hielten sich kleine Gauner wie diese je an Vereinbarungen? Egal. Er musste es versuchen. Einfach aufzugeben lag ihm nicht. Er fing an:

»Es war einmal ein Königreich, in dem eine Lüge als Verbrechen galt und sogar mit dem Tod bestraft wurde.«

Sein Lumpenpublikum lachte darüber. War das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? Hector hatte keine Ahnung. Er fuhr fort.

»Ein junger Mann, der in das Königreich reiste, hörte von dem Verbrechen des Lügens. ›Das ist Unsinn‹, erklärte er den Stadtbewohnern. ›Mich wird man nicht zum Tod verurteilen, wenn ich lüge!‹

Ein Wachtposten des Königs hörte diese prahlerische Behauptung und fragte ihn: ›Hast du gerade gesagt, du könntest der Bestrafung entgehen, wenn du lügst?‹

›Nein‹, sagte der junge Mann dreist.

›Das ist eine Lüge!‹, rief die Menge. Da wurde er verhaftet und ins Gefängnis gesteckt.

Am nächsten Tag brachte man ihn vor den König und eine zwölfköpfige Jury.

›Man hat dich der Lüge für schuldig befunden‹, sagte der König. ›Du darfst vor deinem Tod noch etwas sagen, aber sei gewarnt: Wenn das, was du sagst, wahr ist, gibt man dir einen starken Schlaftrunk, und du wirst schmerzlos sterben. Wenn du aber etwas Lügenhaftes sagst, wirst du bei lebendigem Leib verbrannt werden und stirbst unter Qualen.‹

Der junge Mann sagte nur einen einzigen Satz als Antwort, und da blieb dem König nichts anderes übrig, als ihn freizulassen.«

Die Jungen waren still, lauschten gebannt und Hector spürte etwas wie Stolz. Ja, sie hatten ihn in ihrer Gewalt, aber auch er hatte sie gefesselt – mit seinen Worten.

»Und? Was hat er gesagt?«, fragte ein kleiner Junge in der vorderen Reihe. Er hatte sich Hectors Krawatte umgebunden.

»Eben das ist das Rätsel«, sagte Hector mit einer Spur von Triumph in der Stimme.

Eine lange Pause entstand. »Na schön, ein Rätsel eben«, sagte der Anführer schulterzuckend und schon rannten alle unter schallendem Gelächter davon.

Allein und ohne sich zu bewegen, blieb Hector auf dem düsteren Platz stehen. Anscheinend hatte er recht gehabt. Solche Straßenjungen hielten sich an keine Abmachungen. Doch immerhin war er frei und bei diesem Gedanken durchströmte ihn Erleichterung. »Gerissene Bengel«, murmelte er mit fast unverhohlener Bewunderung. »Wenigstens habe ich mein Leben behalten, wenn schon nicht meine Kleider.«

Nichtsdestotrotz stand er nun ohne Mantel, ohne Mütze und ohne Schuhe auf der falschen Seite der Stadt. Er musste zur Brücke zurück.

Aber in welche Richtung?

»Na bitte, Hector«, sagte er reumütig zu sich selbst, »du wolltest ein Abenteuer, jetzt hast du es.«

Hector, wie viele seinesgleichen, führte auf der Nordseite der Stadt Urbs Umida ein angenehmes und kultiviertes Leben ohne große Sorgen. Im Gegensatz zu den meisten genügte ihm das jedoch nicht. Er suchte etwas anderes. Südlich des Flusses, wo er sich jetzt befand, glaubte er, dieses Etwas möglicherweise gefunden zu haben. Die mit Unrat übersäten Gassen waren enger, die Fahrstraßen voller Schlaglöcher, in den Rinnsteinen stand immer eine morastige Dreckbrühe. Die verrußten, heruntergekommenen Häuser mit ihren zum größten Teil zerbrochenen Fensterläden und Scheiben standen so dicht beisammen, dass zwischen ihnen ein Gewirr enger Gässchen entstanden war. Menschen hasteten durch die düsteren Straßen, hüteten ihre Geheimnisse und führten oft nichts Gutes im Schilde. Und erst der Gestank! Aber Hector war fasziniert. Trotz all der Schrecken fühlte er sich hier so richtig lebendig.

Plötzlich legte ihm jemand die Hand auf die Schulter. Hector fuhr herum und sah, dass einer der Jungen hinter ihm stand, der kleine.

»Was willst du denn noch?«, fragte Hector verzweifelt. »Etwa auch meine Hosen?«

»Nee!«, sagte der Junge beinahe beleidigt. »Ich will bloß die Antwort wissen. Dann sag ich dir auch, wie du hier rauskommst«, bettelte er. »Is ’n gefährliches Pflaster für ein’ wie dich. Du wirst noch viel mehr Probleme kriegen wie mit uns.«

Hector lächelte. »Also gut«, sagte er und verriet ihm die Lösung.*

Ratlos verzog der Junge sein schmutziges Gesicht. »Kapier ich nich«, sagte er, und ehe Hector reagieren konnte, hatte ihm der Junge etwas in die Hand gedrückt und rannte davon.

»Warte!«, rief Hector hinter ihm her. »Wie finde ich hier raus?«

»Immer links«, kam die Antwort. »Vorbei an der Squid’s Gate Lane und der Old Goat’s Alley, dann über den Friedhof. So kommst du direkt zum Fluss.«

In Hectors Hand lag der schwarze Kokon. »Danke!«, rief er, aber der Junge war schon weg.

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