Kapitel 15
Ankunft
Nach seinem Zusammenbruch auf der Eingangstreppe von Withypitts Hall erwachte Hector in weitaus angenehmerer Umgebung: Er lag auf einer Couch mit weichem Samtüberzug in einem von flackernden Lichtern hell erleuchteten Raum. An der gewölbten Decke über ihm hing ein Kronleuchter, auf dem Hunderte von Kerzen funkelten.
Langsam sah er sich um und war dabei so angetan von den vergoldeten Möbeln, der Velourstapete mit Orientmuster, den opulenten dunklen Vorhängen, dem schwarzen Marmorkamin, in dem ein herrlich orangerotes Feuer prasselte, dass es eine Weile dauerte, ehe er die Anwesenheit anderer Menschen im Raum bemerkte.
»Er ist wach, Mylady«, sagte Gerulphus’ unverwechselbare Stimme. Er stand unmittelbar hinter der Couch.
Hectors verständnisloser Blick begegnete der neugierigen Miene der Lady mit den blutroten Lippen. Sie saß ihm gegenüber auf einer mit heller Seide bezogenen Chaiselongue und fächelte sich träge mit einem Fächer aus Pfauenfedern Kühlung zu. Plötzlich klappte sie den Fächer zusammen und winkte ihn heran.
»Komm her zu mir«, sagte sie. Ihre Stimme war leise, aber gebieterisch. Hätte sie eine Farbe, dachte Hector, wäre sie tiefbraun. »Setz dich.« Neben der Chaiselongue war ein kleiner Hocker und davor ein niedriges Tischchen, auf dem ein Teller mit buntem Zuckerzeug stand. Daneben befanden sich eine hohe Silberkanne mit schlanker Tülle, eine fein gemusterte Tasse mit dem dazugehörigen Zuckerschälchen und ein Kristallglas mit einem Krug, der randvoll mit einer perlenden bernsteinfarbenen Flüssigkeit gefüllt war. Hector stand auf, und seine Füße versanken in dem dichten grauen Wolfspelz (komplett mit Schädel, Reißzähnen und gelben Augen), der zwischen den beiden Couchen auf dem Boden lag.
Vorsichtig setzte er sich auf die Hockerkante – er konnte sich den Zustand seiner Kleidung nur zu gut vorstellen. Außerdem merkte er, wie ausgehungert er war, und so konnte er nicht anders, als sehnsüchtig die appetitlichen Leckerbissen anzustarren, deren Duft ihm in die Nase stieg. Sie rochen nach Marzipan und dunkler Schokolade, waren mit Glasur überzogen und mit Rosinen und hellroten Kirschen verziert.
»Weißt du, wer ich bin?«
»Ihr seid Lady Mandible«, sagte Hector langsam, »und dieses Haus nennt sich Withypitts Hall.«
»Und wie ist dein Name?«
»Hector. Der Baron hat eine Kutsche nach mir geschickt.«
»Ah, der Schmetterlingsjunge«, erwiderte Lady Mandible. »Das dachte ich mir bereits. Schön, dass du hier bist.« Sie sah ihn genauer an. »Hast du Hunger?«
Man hatte Hector immer eingeschärft, es sei nicht höflich, offen seinen Hunger einzugestehen, aber nach seinem vorübergehenden Aufenthalt in Mrs Fitchs Heim waren seine Manieren nicht mehr das, was sie früher einmal gewesen waren. Kaum in der Lage, die Augen von dem Teller zu heben, nickte er heftig.
»Dann nimm dir eins.«
Sie zeigte auf die Süßigkeiten, und zum ersten Mal fiel Hector auf, dass ihre lackierten Fingernägel weder rund noch eckig, sondern spitz wie Krallen waren. An jedem Finger trug sie einen Ring, jeder mit einem übergroßen, dunkel schimmernden Stein.
»Nimm, so viele du magst. Ich habe sie von weit her kommen lassen. Hier in der Gegend besitzt niemand die Fertigkeit, derart delikates Konfekt herzustellen.« Sie lachte, es klang ziemlich gehässig. »Und nur wenige Leute verdienen so etwas.«
Hector brauchte keine weitere Aufforderung. Er steckte sich ein Stück in den Mund und war überrascht von dem intensiven Geschmack und dem Aroma der langsam schmelzenden Schokolade, die wohlig seinen Mund füllte. Bevor er sich bremsen konnte, hatte er ein zweites gegessen und zwei weitere vom Teller genommen. Gerade wollte er auch diese in den Mund stopfen, da lief ihm ein jäher Schauder über den Rücken und ließ ihn innehalten. Lady Mandibles Augen fixierten ihn und dabei ließ sie mit leicht schräg geneigtem Kopf ihren Fächer auf- und zuschnappen.
Gerulphus näherte sich lautlos, wie es seine Art zu sein schien. Er ist wie ein Wesen aus einer früheren Zeit, dachte Hector, das gestorben und dann aus dem Grab zurückgekehrt ist. Er goss Hector aus dem Krug ein Glas süßes Ingwerbier ein. Dann hob er die Silberkanne an und neigte sie ein wenig. Eine dunkle Flüssigkeit lief aus der Tülle in die gemusterte Tasse. Das bittersüße Aroma des Getränks war Hector wohlvertraut. Es war einer der teuersten Kaffees, die man kaufen konnte, und sein Vater hatte ihn immer serviert, wenn er wichtige Weinhändler bewirtete. Dieses Aroma, zusammen mit dem Geschmack und dem Duft der Süßigkeiten, dem Ingwerbier und dem berauschenden Parfüm, das seine Gastgeberin verströmte, machte ihn ein wenig benommen.
Lady Mandible sah ihn spöttisch an und griff im gleichen Moment wie er nach demselben Marzipanteilchen. Als ihre Finger dabei seine Hand streiften, zuckte Hector unwillkürlich zusammen. Ihre Nägel waren scharf wie Rasierklingen und ihre Haut fühlte sich ungewöhnlich kalt an.
»Ich glaube, du hast mir auch etwas mitgebracht?«, sagte sie.
Gerulphus reichte ihr Perigoes Päckchen, dazu ein Messer, und sie zerschnitt mit einer schwungvollen Bewegung die Verschnürung. Dann legte sie das Päckchen auf den Tisch, und nachdem sie das Öltuch glatt gestrichen hatte, kam ein Stoß Bücher zum Vorschein. Sie nahm das oberste, einen großen Band mit braunem Umschlag, schlug ihn an einer willkürlichen Stelle auf und Hector sah die ganzseitige Farbtafel eines Schmetterlings. Beim Anblick des prächtigen Tieres fuhr ihm ein schmerzhafter Stich durchs Herz. Es war eine qualvolle Erinnerung an sein früheres Leben, aber auch an sein Vorhaben. Wenn er sich wirklich an dem Baron rächen wollte, musste er die Stelle hier bekommen.
»Argynnis paphia«, sagte er schnell. »Ein Kaisermantel.«
»Der Baron hat also recht«, bemerkte Lady Mandible. »Trotzdem bist du mir ein Rätsel. Du kannst Latein, weißt Bescheid über Schmetterlinge und bist doch allem Anschein nach ein gewöhnlicher Gassenjunge.«
»Mein Vater hat Schmetterlinge gezüchtet und gesammelt«, erklärte Hector unter ihrem kühlen Blick.
»Wo sind deine Eltern?«
»Tot. Beide.«
»Lord Mandible hat letztes Jahr seinen Vater verloren«, sagte sie unbestimmt. »Der arme Burleigh, er war total verstört.« Sie nippte an ihrem Kaffee und zuckte die Schultern. »Nun, kommen wir also zu den Schmetterlingen. Wie du weißt, ist das Mittwinterfest der Mandibles das größte gesellschaftliche Ereignis weit und breit.« Sie sah Hector an und er nickte hastig. »Und in diesem Jahr möchte ich endgültig sicherstellen, dass es das für immer bleibt. Dafür brauche ich Schmetterlinge, Hunderte von Schmetterlingen, aber sie müssen alle groß und bunt sein, nicht eintönig braun oder nichtssagend weiß.«
Hector überlegte einen Augenblick. »Ich wüsste einen, der sich perfekt für eine Ausstellung eignen würde«, sagte er. »Ist es das, was Euch vorschwebt?«
»Eine Ausstellung? Nun, so könnte man es wohl nennen.«
»Ich denke an Papilio ingenspennatus«, fuhr er fort und sah den farbenprächtigen Schmetterling vor sich, den sein Vater ihm an jenem Abend, bevor alles anders geworden war, gezeigt hatte. »Ein Schmetterling, so groß wie Eure Hand und mit unglaublich vielfarbigen Flügeln. Keine zwei sind sich gleich.«
Lady Mandible beugte sich vor, ihre Augen glitzerten. »Kannst du sie genau zu dem Tag beschaffen, an dem ich sie brauche?«
»Auf die Stunde genau sogar«, sagte Hector ein wenig leichtsinnig. »Ich kann das Schlüpfen mithilfe der Temperatur einleiten.«
»Schön, schön«, sagte sie schließlich mit einem Blick, der seinen Schädel zu durchdringen schien. »Wenn du also kannst, was du behauptest, musst du hierbleiben und die Schmetterlinge für das Fest heranschaffen. Aber ich sage dir, sieh zu, dass es gelingt! Ich habe etwas gegen Leute, die ihr Wort nicht halten.«
»Ich halte immer mein Wort«, sagte Hector entschieden. »Aber ich brauche Geld, um die Kokons und das nötige Zubehör zu kaufen. In Urbs Umida gibt es einen Lieferanten für …«
Lady Mandible hob geringschätzig die Hand. »Du kannst alles haben, was du brauchst. Wende dich an Gerulphus. Nur sorge dafür, dass die Schmetterlinge an dem betreffenden Abend da sind.« Sie lächelte gewinnend, aber in ihrer Stimme schwang ein leicht drohender Ton, der Hector unwillkürlich an Perigoes Warnung denken ließ.
Da er spürte, dass sich das Gespräch dem Ende zuneigte, erhob er sich. Doch bevor er einen Schritt tun konnte, ging die Tür auf, und ein Mann trat ein. Aller Augen wandten sich ihm entgegen. Lady Mandible zog grüßend eine Braue hoch und Hectors Herz begann zu flattern.
Der Mann war Baron Bovrik de Vandolin.
Bovrik hatte nur Augen für Lady Mandible und ging zielstrebig auf sie zu, um ihre ausgestreckte Hand zu küssen. Hector, der nur mühsam die Wut zurückdrängen konnte, die beim Anblick des Barons wieder in ihm aufstieg, ergriff die Gelegenheit, ihn genauer anzusehen. Die Farben seiner Kleidung ließen sich nur als schrill bezeichnen, und die Augenklappe, die er trug, passte genau zu seiner Krawatte. Und wie früher schon umwehte ihn ein schwacher Zitrusduft.
»Ah, Bovrik«, sagte Lady Mandible und klatschte erfreut in die Hände. »Das ist Hector – man hat ihn halb tot vor Erschöpfung auf der Treppe gefunden –, der Junge aus der Stadt, von dem Ihr mir erzählt habt. Ich muss Euch loben, Sir, ein echter Glückstreffer.«
Bovrik nahm auf einem Sessel Platz und streichelte geistesabwesend die Plüschkissen, als wären sie etwas Ähnliches wie Tiere. Mit seinem gesunden Auge sah er Hector an und lächelte unergründlich.
»Ich bin erfreut, dass er Euren hohen Erwartongen entspricht«, sagte er. Dann beugte er sich mit einer theatralischen Bewegung vor und nahm übertrieben schwungvoll seine Augenklappe ab.
»Oh, Bovrik, nicht schon wieder eins!«, seufzte die Lady mit gespieltem Überdruss und trommelte dabei mit ihren glitzernden Fingernägeln auf den Ebenholzgriff ihres Fächers. »Rechnet Ihr denn damit, auch das rechte Auge zu verlieren? Zumindest hättet Ihr in diesem Fall genug Ersatz für beide Augenhöhlen! Welcher Edelstein ist es denn diesmal?«
Bovrik drehte sein Gesicht ausdrücklich Hector zu, der jetzt deutlich die weiße Narbe quer über der Braue sah, die unter dem Auge endete. In der Augenhöhle saß das Glasauge, von dem Lady Mandible sprach, es hatte eine zu dem gesunden Auge passende hellblaue Iris. Es funkelte und glitzerte im Licht, und Hector wurde plötzlich klar, dass in der schwarzen Pupille ein Edelstein saß. Die Situation war befremdlich und zerrte an seinen Nerven: Es war auch ohne dieses lächerlich großspurige Gehabe schwer genug, einem Mann, dessen Schicksal man in der eigenen Hand wusste, so nahe zu sein.
»Ein Smaragd, Lady Mandible«, sagte Bovrik, ohne den Blick von Hector zu wenden. Als ob er meine Unruhe spürt, dachte Hector. Plötzlich neigte der Schurke mit einer ruckartigen Bewegung den Kopf vor und wieder zurück – und Hector musste unwillkürlich aufschreien, denn Bovriks Augenhöhle war jetzt schwarz und leer, und aus der Handfläche des Barons starrte ihm ausdruckslos das Glasauge entgegen.
Lady Mandible lachte schelmisch. »Hector, du siehst ja geradezu fassungslos aus«, sagte sie. »Es ist nur ein Auge. Ich dachte, du bist aus härterem Holz geschnitzt.«
»Das wirst do nämlich nötig haben«, sagte Bovrik trocken, während er das Glasauge auf seinen Platz gleiten ließ.
»Nun, Bovrik«, sagte Lady Mandible herrisch und wandte sich wieder an den Baron. »Berichtet also, wie die Vorbereitungen für das Fest vorangehen, inzwischen führt Gerulphus den Jungen auf sein Zimmer.«
»In der Tat!« Bovrik sah den Diener an und schnippte dabei mit dem Finger. »Du hast gehört, was deine Herrin gesagt hat – also troll dich! Öberlass ons bessere Herrschaften non onserer kolinarischen Konversation!«
Gerulphus verzog keine Miene, während er den Baron ansah. Dann verbeugte er sich, tippte Hector auf die Schulter und verließ den Raum. Hector folgte ihm höchst erleichtert.