Kapitel 32

Die Enthüllung

Hector war klar, dass er Bovriks Turm schnell erreichen musste. Sein Vater hatte recht gehabt, Polly hatte recht, der fremde Gefangene im Turm hatte recht, nur Hector hatte bis zu diesem schrecklichen Abend gebraucht, um es zu begreifen.

Und jetzt konnte es zu spät sein.

Er nahm drei, vier Stufen auf einmal, und als er endlich vor Bovriks Zimmer stand, konnte er kaum sprechen. Doch das bekannte Parfüm hing in der Luft, Bovrik musste also noch da sein.

»Lasst mich ein«, rief er keuchend. »Ich bin’s, Hector.« Er warf sich gegen die Tür, das Schloss gab unter seinem Gewicht nach und er fiel ins Zimmer.

Bovrik stand am Fenster, das Kerzenlicht spiegelte sich in seinem widerwärtig grell glitzernden Auge. Es sah merkwürdig aus, und Hector fiel plötzlich auf, dass ein Riss quer durch die Glasoberfläche ging.

»Was willst du?«, knurrte Bovrik. Er war blass, nur die linke Gesichtshälfte war etwas rot und geschwollen. Von Lady Mandibles Ohrfeige, dachte Hector.

»Der Kasten«, rief er, während er sich mühsam aufrappelte. »Habt Ihr ihn geöffnet?«

Bovrik drehte den Kopf, da sah Hector das kleine weiße Kästchen noch immer auf dem Stuhl, wo er es zuvor abgestellt hatte. Bovrik wollte es nehmen.

»Nein!«, rief Hector. »Nicht öffnen!«

»Warum nicht?«, fragte Bovrik. »Es gehört mir. Ein Geschenk von Lysandra.« Er hielt ihm das Kärtchen hin, das eindeutig an Baron Bovrik de Vandolin adressiert und mit einem verschnörkelten L. unterzeichnet war.

Hector trat einen Schritt vor. »Es ist nicht von Lysandra. Es ist von mir. Und ich will es zurückhaben.«

»Von dir?« Bovrik legte das Ohr an das Kästchen. »Da ist etwas drin«, sagte er. »Ich höre es.« Er sah Hector fragend an.

»Es ist voller Schmetterlinge, Pulvis funestus, Schwarzflügelfalter, aber Ihr dürft es nicht öffnen. Sie werden Euch töten.« Er hob bittend die Hände.

»Töten?« Bovrik verengte die Augen zu Schlitzen und lachte sarkastisch. »Sind sie etwa auf tödliche Öberfälle abgerichtet?«

Hector schüttelte den Kopf. »Ich habe das tödliche Gift einer Pilzart auf ihre Flügel gestäubt. Kommt Ihr mit ihnen in Berührung, werdet Ihr sterben. Euer Zitronenduft würde sie anlocken und verrückt machen, sie würden sich auf Euch stürzen!«

Bovrik lächelte schwach. »Na, so was! Sähr einfallsreich. Ond kaum aufzodecken, könnte ich mir denken.« Zu Hectors Erleichterung stellte er den Schmetterlingskasten auf den Tisch. »Aber warom solltest du mir ein so verhängnisvolles Geschenk schicken?«

Hectors Hände hingen hilflos an den Seiten herab. Von diesem Augenblick hatte er viele Male geträumt, aber so hatte er ihn sich nicht vorgestellt, so hatte er sich dabei nicht fühlen wollen. »Weil«, sagte er langsam, »Ihr Gulliver Truepin seid und ich Hector Fitzbaudly bin. Ihr habt meinen Vater erpresst und ihn durch Eure Machenschaften in den Tod getrieben.«

»Also Rache suchst du?« Jetzt begriff er und ließ endlich seinen albernen Akzent fallen. »Rühmlich für einen so jungen Burschen. Du hast eine glänzende Zukunft vor dir. Aber warum warnst du mich dann?«

Warum?, dachte Hector. Weil mein Vater an mich geglaubt hat. Weil ich nicht so bin wie du. Weil ich besser sein will.

»Weil ich kein Wolf bin«, sagte er leise. Bovrik runzelte die Stirn. »Ich habe es mir anders überlegt«, sagte Hector dann lauter und in anderem Ton. »Ihr seid hier in Withypitts Hall erledigt. Ihr habt Lord Mandible umgebracht und man ist Euch auf der Spur. Die Wachen sind wahrscheinlich schon unterwegs. Das ist mir Rache genug.«

»Das stimmt nicht. Das war alles ein Irrtum«, sagte Bovrik zu Hectors Verblüffung. Er massierte seine Wange, die inzwischen so rot und geschwollen war, dass sich sein Auge geschlossen hatte. »Ich habe Lord Mandible nicht umgebracht, aber in Withypitts Hall bin ich erledigt, da hast du recht. Ich hätte nie so lange bleiben dürfen. Das war ein Fehler meinerseits. Und jetzt aus dem Weg, Junge, sonst gehst du den gleichen Weg wie dein Vater.«

»Wartet«, sagte Hector. »Ich habe Euch gesehen, wie Ihr nachts durch die Gänge geschlichen seid, in Mandibles Zimmer und wieder heraus. Ich weiß nicht, wie Ihr es angestellt habt, aber wer sonst hätte einen so einleuchtenden Grund wie Ihr, ihm den Tod zu wünschen? Etwas Ähnliches habt Ihr heute Abend doch zu Lady Mandible gesagt.«

»Ach, du hast mich beobachtet!« Bovrik hob die Augenbrauen. »Aber du liegst falsch, Schmetterlingsjunge – Lord Mandibles Gemächer habe ich nur ein einziges Mal betreten, und zwar, um seine idiotische Katze für den Katzenfresser zu stehlen! Die andern Male hast du mich dabei gesehen, wie ich … nun, sagen wir, wie ich mir den einen oder anderen unbedeutenden Wertgegenstand verschafft habe, um ihn zu verkaufen. Das ist nun mal meine Art. Wir müssen alle leben. Ich will nicht sagen, dass ich mir diesen Dummkopf Mandible nicht von der Bildfläche gewünscht habe, doch waren meine Pläne in dieser Hinsicht nicht ganz so fortgeschritten wie deine für mich!«

Hector war wie vor den Kopf gestoßen. Da dachte er nun, er wäre besser als Bovrik, dabei war er in Wirklichkeit viel schlechter. Wie hatte er sich nur so tief sinken lassen können?

»Aber Ihr habt doch gesagt, Ihr hättet eine Überraschung für Lady Mandible?«, stotterte er.

»Ja, mein neues Auge«, sagte Bovrik ungeduldig und drehte Hector das Gesicht zu, damit er das Auge aus der Nähe betrachten konnte. »Lysandra weiß Schönheit zu schätzen. Ich wollte ihr einfach zeigen, dass auch ich etwas davon verstehe. Wir hätten so viel erreichen können«, sagte er träumerisch, »aber alles ist schiefgegangen.« Er rieb wieder über sein Auge, diesmal heftiger. »Das hier passt allerdings nicht so gut«, murmelte er und klappte den Deckel seines Augenkästchens auf. Da lagen sie, sechs stumme Zeugen.

»Wie merkwürdig«, sagte er. »Sie liegen in anderer Reihenfolge als sonst.« Er sah Hector an und erschrak. »Zum Teufel, was ist denn das?«

Hector blickte an sich herab, und da sah auch er den pelzigen Schwanz, der unter seiner Weste hervorhing. »Percy«, fiel es ihm ein. »Ich habe ihn tot unter dem Cembalo gefunden.« Als er das steif gewordene Tier unter seiner Weste hervorzog, fiel gleichzeitig etwas Schweres, Funkelndes aus seiner Tasche auf den Bärenfellvorleger und blieb schimmernd dort liegen. Hector bückte sich und hob es auf.

»Immerhin ist Mandible auf seinem Höhepunkt abgetreten«, fuhr Bovrik fort. »Auch sein Vater konnte nicht spielen. Nicht die Spur. Und auch er ist einsam und allein an seinem Instrument gestorben.«

Stirnrunzelnd richtete Hector sich wieder auf. »Er ist am Cembalo gestorben?«

»Ja. Hast du das nicht gewusst? Kurz nachdem Lysandra Mandible geheiratet hatte.« Bovrik sah Hector an, der nachdenklich den kleinen Gegenstand betrachtete, der ihm aus der Tasche gefallen war. Es war der Ring mit dem dunklen Stein, den er neulich im Wald beim Sammeln der Schweinsborsten gefunden hatte. Auf einmal stockte ihm das Blut in den Adern. »Tartari flammis!«, flüsterte er. »Das muss Lysandras Ring sein.« Er wandte sich schockiert an Bovrik. »Ich habe mich von vorn bis hinten geirrt! Begreift Ihr nicht? Lysandras Ring! Sie ist die einzige andere Person, die einen Nutzen von Lord Mandibles Tod hat. Sie hat Mandibles Vater umgebracht. Sie hat auch Mandible umgebracht. Und Ihr sollt nun die Schuld dafür tragen.«

Ungläubig verzerrte sich Bovriks Gesicht. »Nein«, flüsterte er. »Das kann nicht sein.«

Der größte Trickbetrüger von allen war ausgetrickst worden.

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