Kapitel 16
Brief an Polly
Withypitts Hall
Liebe Polly,
nun bin ich fast zehn Tage in Withypitts Hall und kenne mich schon viel besser aus. Nach meiner ersten Begegnung mit Lady Mandible (und ihm, der nicht genannt werden soll) führte mich Gerulphus wieder durch die Eingangshalle. Diesmal hatte ich meine fünf Sinne beisammen und sah, dass die Wände mit Jagdtrophäen früherer Generationen geschmückt waren: Hirsche, Bären, Pumas und Dutzende von Geweihen unterschiedlichster Größen, sogar ein Jocastar – ein Tier mit großen Augen und feinen Gesichtszügen und derart selten und ungewöhnlich, dass ich es hier unter den anderen Tieren völlig fehl am Platze fand. Doch übertroffen wurden alle von einem riesengroßen, wild aussehenden Kopf – dem eines Borstenrückenschweins natürlich –, dem Glanzstück und Mittelpunkt der Ausstellung. Es war von dem alten Lord Mandible erlegt worden. Auch sein Sohn geht fast täglich auf die Jagd nach diesem Schwein, doch mit weniger Erfolg. Den Kopf dieses Tieres, von dem Oscar in Pagus Parvus sprach, habe ich übrigens noch nicht gesehen, auch nicht den Stuhl, und ich kann nicht sagen, dass ich darunter leide. Es würde mich nicht wundern, wenn der Schurke beides in seinen Privatgemächern hat – das würde ganz zu seinem verqueren Charakter passen.
Gerulphus führte mich in den abgelegensten Teil des Hauses, ich vermutete, es war der Westflügel. In einem der Türme stiegen wir eine steile Wendeltreppe hinauf, und mir schien, als habe sich hier jahrelang niemand hinaufgewagt. Spinnweben, dick wie Spitzentischtücher, verhedderten sich in meinem Haar, und Fledermäuse flogen mir um den Kopf. Es stank so sehr, dass ich würgen musste. Was den Raum in der Turmspitze angeht, mein Zimmer, so ist er geräumig, aber bei meiner Ankunft standen nur ein Bett, ein Stuhl und ein Tisch darin. Im Lauf der Woche kam ich dann zu dem Luxus eines Nachttopfs und eines Wasserkrugs. Aber ich bin zufrieden. Es gibt einen Kamin, und wenn er auch übel qualmt, ich habe es geschafft, darin Feuer zu machen.
Withypitts Hall ist in mancher Hinsicht ein sehr schönes Haus. In die Fußböden sind komplizierte Mosaikmuster eingelegt, an den Wänden hängen die verschiedensten Gobelinteppiche und Bilder, überall stehen Statuen und Schnitzereien und alles glänzt und glitzert wie Gold. Aber je länger ich hier bin, desto mehr spüre ich auf Schritt und Tritt Lady Mandibles allgegenwärtige Hand, und irgendwie verdirbt mir das die ganze Schönheit. Ihr Sinn für Luxus hört bei den Unterkünften der Dienstboten auf, aber da sie auch ihren Hang zu abstrusen Dingen nicht bis dorthin ausdehnt, kann ich nur dankbar sein. Und genau wegen dieser eigenartigen Vorlieben haben mich die Einwohner von Pagus Parvus vor ihr gewarnt.
Withypitts Hall ist also wirklich kein Ort, an dem einem warm ums Herz werden kann. Nimm zum Beispiel die Decke im großen Speisesaal (in dem das Fest stattfinden soll). Sie ist mit nebelhaften Szenen aus dem Himmelreich bemalt, aber bei näherem Hinsehen erkennt man, dass hinter den Engeln freche kleine Kobolde grinsen und dabei die unflätigsten Posen einnehmen. Auf Sockeln längs der Gänge stehen ausgestopfte Tiere in erstarrten Haltungen. Füchse, Wiesel, Eichhörnchen, jedes Tier des Waldes ist vertreten. Aber diese Tierausstellung ist längst nicht das Schlimmste. Es gibt hier überall Stücke, die eher in eine Raritätenschau passen würden. Lady Mandible scheint sich nämlich mehr für das Absonderliche zu begeistern: Knochen von Heiligen, Totenmasken und Folterinstrumente. In dunkleren Nischen bewahrt sie missgebildete Exemplare ungeborener Tiere auf – in Glasbehältern, erstarrt in Flüssigkeit. Sie behauptet, sie habe ein wissenschaftliches Interesse daran. Besonders unheimlich sind diese Dinge, wenn man nachts daran vorbeimuss. Und damit komme ich zum eigentlichen Zweck meines Briefes.
Am Morgen nach meiner Ankunft in Withypitts Hall brachte mich Gerulphus zu einem kleinen, nach Norden gelegenen Raum im dritten Stock, wo ich die Schmetterlinge züchten soll. Ich nenne ihn Zuchtraum oder Incunabulorum, er ist dunkel und sehr kühl, wie ich es verlangt hatte. Inzwischen hat mir Gerulphus alles Nötige aus der Stadt besorgt. Einen Tag brachte ich damit zu, die Behälter für meine Kokons vorzubereiten. Ich werde sie vorerst in einem Zustand der Erstarrung halten, und zum gewünschten Zeitpunkt erwärme ich sie, damit sie sich in ihre endgültige Erscheinungsform verwandeln können. Das ist natürlich kein exaktes Verfahren, aber immerhin werde ich auf diese Weise Lady Mandibles Wunsch erfüllen können. Noch kenne ich ihre endgültige Absicht nicht, doch finde ich sie in mancherlei Hinsicht fragwürdig. Die Schmetterlinge werden nicht lange überleben – in freier Wildbahn nur wenige Tage nach dem Schlüpfen. Außerdem kreisen meine Gedanken, wie Du weißt, um ganz andere Dinge.
Und, liebe Polly, genau deshalb konnte ich gestern Nacht nicht schlafen. Während ich grübelnd vor meinen Schmetterlingsgefäßen saß, hörte ich vor dem Zimmer ein Geräusch, und als ich nachschaute, sah ich die gewisse Person, über die ich gerade nachgedacht hatte, am Ende des Flurs um die Ecke schleichen. Der sogenannte Baron! Meine Neugier war geweckt und ich heftete mich an seine Fersen. Doch als ich die nächste Ecke erreicht hatte, war er schon verschwunden, und ich musste die Verfolgung aufgeben.
Zurück im Incunabulorum, überlegte ich fieberhaft, was ich da eben beobachtet hatte. Zu Bovriks Charakter würde es nur zu gut passen, wenn er einen neuen Trick auf Lager hätte, aber was mochte dahinterstecken? Ich beschloss, ihn in Zukunft besser im Auge zu behalten – nicht, dass seine Machenschaften noch die Verfolgung meiner eigenen Pläne durchkreuzen würden. Ich habe bewiesen, dass ich fast jedes Rätsel, das man mir stellt, lösen kann, und das werde ich auch jetzt wieder beweisen. Jedenfalls werde ich mich nicht noch einmal von ihm übertölpeln lassen.
Tagsüber ist es einfacher, Bovrik im Auge zu behalten. Er kommt fast täglich herauf, um sich über meine Fortschritte auf dem Laufenden zu halten. Jeder Augenblick in seiner Gegenwart ist mir eine Qual, gerade jetzt, wo er sich so mächtig und hochnäsig gibt, sich wer weiß wie aufspielt und mich bei jeder Gelegenheit mit seinem neuesten Glasauge anfunkelt. Aber ich beiße die Zähne zusammen, beantworte seine Fragen und warte darauf, dass er wieder geht. Wenigstens nimmt mein Plan allmählich deutlichere Formen an. Das Mittwinterfest wird in Erinnerung bleiben – und zwar nicht nur wegen Lady Mandibles Schmetterlingen. Früher als an diesem Abend wird sich wohl nichts machen lassen. Mehr kann ich nicht sagen, aus Angst, mein Vorhaben könnte entdeckt werden.
Wenn ich nicht in meinem Incunabulorum bin, halte ich mich viel in der Küche auf. Mrs Malherbe, die Köchin, deren Umfang gleich ihrer Größe ist, ist eine sehr freundliche Frau. Sie jammert jeden Tag wegen all der Festvorbereitungen. Lady Mandible möchte es nach dem Gastmahl des Trimalchio gestaltet haben – ich kenne die Geschichte von damals, als mein Hauslehrer die Klassiker mit mir durchgenommen hat. Trimalchio ist eine Figur in einer römischen Geschichte von Petronius. Er war Sklave, gewann seine Freiheit und kam zu Reichtum und Macht. Später wurde er berühmt für seine pompös und verschwenderisch gestalteten Festessen. Als ich Mrs Malherbe davon erzählte, stöhnte sie nur.
Die anderen Bediensteten unterhalten sich gern über die Stadt. Sie wissen, dass es dort hart und gewalttätig zugeht, und ich rede es ihnen nicht aus. Ich habe ihnen erzählt, dass ich gern Rätsel löse, und jetzt bestürmen sie mich jeden Tag, sie mit Rätseln zu unterhalten. Heute Vormittag habe ich ihnen das von der bösen Königin erzählt, ich schreibe es Dir am Ende des Briefes auf – vielleicht macht es Dir Spaß.
Natürlich dreht sich das Gespräch oft um die Mandibles selbst. Lord Mandible ist anscheinend ganz anders als seine Frau. Ich habe ihn erst ein- oder zweimal gesehen. Vom Äußeren macht er nicht viel her. Sein Kopf ist breiter als lang, und obwohl er noch nicht alt ist, bekommt er allmählich eine Glatze. Beim Gehen zieht er sein verkrüppeltes Bein nach, und weil dabei seine Hose raschelt, kann er nie lautlos an jemanden herantreten wie zum Beispiel Gerulphus, der immer wie ein Geist erscheint und verschwindet.
Lord Mandible hat zwei Hobbys, Waldschweine jagen und auf dem Cembalo seines Vaters spielen. Wenn er nicht das eine tut, ist er mit dem anderen beschäftigt. An seine Art zu spielen haben sich meine Ohren immer noch nicht ganz gewöhnt. Er hält sich zwei Katzen, Posset und Percy, in die er geradezu vernarrt ist. Ab und zu spaziert die eine oder die andere über die Cembalotasten, und um die Wahrheit zu sagen, lässt sich kaum erkennen, wer von den dreien die Musik macht.
Es ist nicht etwa so, dass Lady Mandible in der häufigen Abwesenheit ihres Mannes vor sich hin leidet, denn wenn nicht Gerulphus an ihrer Seite ist, dann Bovrik. Er ist so etwas wie ein menschlicher Parasit, der an jedem ihrer Worte hängt und immer gern auch seinen Senf dazugibt. Nach außen hin hört sie ihm zu, aber was in ihrem Kopf wirklich vorgeht, lässt sich schwer sagen. Ich kenne diesen Gesichtsausdruck von früher – er ist bei den Menschen auf der Nordseite des Flusses gang und gäbe. Die Lady scheint mir eine launische Person zu sein, die dauernd Vergnügungen braucht und schnell gelangweilt ist. Allein in der letzten Woche hat sie angeordnet, sämtliche Vorhänge seien auszutauschen. Mrs Malherbe sagt – mit leisem Spott in der Stimme –, dass sie noch keine sechs Monate hängen. Es ist in der Küche kein Geheimnis, dass Mrs Malherbe Lord Mandible besser leiden kann – er liebt nämlich ihre Pasteten – und dass sie für die Extravaganzen seiner Frau kein Verständnis hat. Was den Baron angeht, so hat sie auch für den nicht viel übrig. Sie hält ihn für einen angeberischen Lackaffen und unzuverlässigen Kerl und ist fest überzeugt, dass er regelmäßig Zwiesprache mit dem Teufel hält. Außerdem, so sagt sie, könne sie einem Mann nicht trauen, der einem nicht offen ins Gesicht schaut – dass er nur ein Auge hat, spielt für sie keine Rolle. Du kannst dir denken, dass ich ihr in diesem Punkt nicht widersprochen habe.
Wie ich bei meiner Ankunft so bitter erfahren musste, ist Withypitts Hall auf der höchsten Stelle einer Felsnase erbaut. Seit ich hier bin, schneit es fast die ganze Zeit, und nur zu oft sind wir von dichtem grauem Nebel eingehüllt. Wenn sich der Himmel gelegentlich doch einmal klärt, schaue ich aus meinen vier Fenstern. Die Gärten ringsum, ordentlich für den Winter zurechtgemacht, erstrecken sich in alle Richtungen bis zur Grenzmauer, die drei Meter hoch und aus dem Stein der Berge erbaut ist. In der Ferne kann man die höchsten schneebedeckten Gipfel tief im Innern des Moira-Gebirges erkennen. Im Osten liegt der alte Eichenwald, die Heimat des legendären Borstenrückenschweins. Ein Braten davon wurde bei uns oft zum Abendessen serviert, als Vater noch lebte.
So vergeht die Zeit. Der Tag des Mittwinterfestes nähert sich. Von Westen her bin ich nach Withypitts Hall gekommen, und tagsüber kann ich die Straße sehen, die zurück nach Pagus Parvus und weiter zur Stadt führt. Ich denke an Dich, Polly, und hoffe, Dich eines Tages wiederzusehen.
Salve,
Dein Freund Hector
PS: Wie versprochen: Das Rätsel von der bösen Königin.
Es war einmal eine böse Königin, die wohnte in einem herrlichen Palast in den Bergen. Eines Tages beschloss sie, ein zweites Schloss bauen zu lassen. Sie schickte ihre Soldaten in die Dörfer und befahl ihnen, alle jungen Männer zum Arbeiten herbeizuschaffen. Natürlich wollten die jungen Männer ihre Heimatorte nicht verlassen, und einer von ihnen verlangte die Königin zu sprechen, um sich bei ihr zu beschweren, wie ungerecht sie sie alle behandele. Beeindruckt von seinem Temperament, beschloss die Königin, ihm eine Chance zu geben.
»Komm mit«, sagte sie, und er folgte ihr in die Schlossgärten.
Sie hielt einen kleinen Beutel hoch. »In diesen Beutel legt mein Diener zwei Steine, einen schwarzen und einen weißen. Du wirst einen Stein aus dem Beutel ziehen. Ist er schwarz, musst du für mich arbeiten, ist er weiß, darfst du nach Hause gehen.«
Der junge Mann nickte, sah aber dem Diener genau auf die Finger, da er der Königin nicht recht traute. Zu seinem Entsetzen bemerkte er mit scharfem Blick, wie der Diener zwei schwarze Steine in den Beutel legte.
»Nun zieh«, befahl die Königin.
Solltest Du die Lösung nicht herausfinden, Polly, verspreche ich, sie Dir bei unserem nächsten Wiedersehen zu verraten!