Kapitel 9
Der Gastwirt in der Klemme
Eins pro Penny!«, schrie Hector. »Ein Penny! Wer fordert mich heute mit einem Rätsel für einen Penny heraus?«
Hector stand auf einem Podest in der Mitte des Fiveways-Platzes. Der Platz war ihm inzwischen wohlvertraut. Hector war schmaler geworden und seine Kleider sahen schäbiger aus als früher, trotzdem war er heiter und voller Energie. Prüfend wanderten seine dunklen Augen über die kleine Menschenansammlung vor ihm. Nicht sehr viele heute Morgen, dachte Hector, aber irgendjemand würde immer bereit sein, sich von einem oder zwei Pennys zu trennen. Und wirklich, bald kamen die Rätsel Schlag auf Schlag.
»Was kann ein Mann viele Male brechen, ohne es zu berühren?«
»Sein Versprechen«, antwortete Hector. »Gleich noch eins!«
»Gib mir zu essen und ich werde leben; gib mir Wasser und ich werde sterben. Wer bin ich?«
»Feuer. Noch eins!«
»Was kann ein Handwerker herstellen und man sieht es doch nicht?«
»Lärm«, sagte Hector. »Noch eins?«
Ein großer Mann trat vor, die Arme über der fassartig gewölbten Brust verschränkt. »Das kriegst du nicht raus«, sagte er. »Ich hab’s in einem Buch gefunden.«
Aus der Menge ertönten Ah und Oh, man applaudierte. Man stelle sich vor, ein Buch!
»Mal sehen«, sagte Hector gelassen. Er hatte die Erfahrung gemacht, dass die, die sich am sichersten waren, sich gewöhnlich als die größten Nieten herausstellten. »Lasst hören.«
»Welcher Pfaff ist kein Pfarrer?«
Die Menge lachte.
Hector legte die gestreckten Finger aneinander, rollte die Augen himmelwärts und tat, als müsste er scharf nachdenken. »Nun«, sagte er gedehnt, »das wird wohl der Dompfaff sein.«
Die Leute jubelten und klatschten und Hector grinste übers ganze Gesicht. Das Rätsellösen, früher kaum mehr als ein angenehmer Zeitvertreib zwischen ihm und seinem Vater, erwies sich nun als einträgliche Fähigkeit. Manchmal kam es Hector fast unrecht vor, dafür Geld zu nehmen – es bereitete ihm ja Freude und hob für eine Weile die düstere Stimmung, die seit dem Verlust seines Vaters auf ihm lag. Aber Polly, die sich oft für ein paar Minuten von ihrer Tagesarbeit wegstahl und auf die Straße kam, um Hector zuzuhören oder ihm etwas zu essen zu bringen, erklärte ihm, das sei blanker Unsinn und er grüble einfach viel zu viel über die Dinge nach. Während wieder ein Penny vor Hectors Füße flog und er sich danach bückte, drang eine unbekannte Stimme durch den Lärm:
»He, junger Mann! Ich habe ein Rätsel für dich.«
Hector sah sich um. Er konnte nicht erkennen, wem die Stimme gehörte.
»Und wie lautet es, Sir?«, rief er. In der Menge um sich herum bemerkte er eine Gestalt, deren Gesicht wegen ihres komisch geformten Hutes halb verborgen war. Die Stimme hatte älter geklungen als die eines Jungen in Hectors Alter, aber die Stimme eines Erwachsenen war es auch nicht gewesen.
»Es heißt ›Der Gastwirt in der Klemme‹«, sagte der Fremde, »und es geht so:
In einer dunklen, kalten Nacht
Steh’n vor der Herberg’ Tür
Zehn müde hungrige Wandersleut’
Und bitten um Nachtquartier.
›Neun Zimmer hab ich nur.‹
Der Wirt spricht ohn’ Verweilen.
›Für acht von euch je ein eigenes Bett,
Das neunte müssen zwei sich teilen.‹
Tumult bricht los,
Der Wirt sieht ein:
Von diesen tapf’ren Männern
Gehn zwei nie in ein Bett hinein!
Schnell hat die Lösung er parat
– was für ein kluger Mann –,
Zu aller Gäst’ Zufriedenheit
Erklärt er seinen Plan.«
Der Bursche hielt kurz inne. »Und das ist das Rätsel«, rief er Hector zu und schloss:
»Vor Rätsels End’ halt ich hier ein,
Zu fragen, junger Freund:
Wie stellt der gute Wirt das an?
Wie teilt er zehn durch neun?«
Hector schob die Lippen vor und machte ein nachdenkliches Gesicht. Zehn durch neun? Dieses Rätsel kannte er nicht. Von seinem Vater hätte er so etwas erwartet, nicht aber von einem aus der Menge hier. Es war nicht so, dass es den Südstädtern an Intelligenz fehlte, doch taugte ihre Art von Intelligenz nicht gerade zum Rätselraten.
»Dafür brauche ich ein bisschen Zeit«, sagte Hector.
»Nimm dir so viel Zeit, wie du brauchst. Wenn wir uns das nächste Mal begegnen, sagst du mir die Lösung«, kam die Antwort.
»Und wann wird das sein?«, fragte Hector. »Morgen?«
»Vielleicht« war alles, was der Fremde sagte, dann ging er langsam, noch immer halb verdeckt von der Menge, davon.
Die Leute waren genauso neugierig wie Hector. »Und? Wie ist die Lösung?«, rief einer von Hectors Stammgästen.
»Tempus omnia revelat«, sagte Hector, der gedankenlos in sein früheres Ich zurückgefallen war und erst hinterher merkte, dass keiner verstand, was er meinte.
»Er meint, die Zeit bringt’s an den Tag«, kam ein Ruf, und Hector erhaschte gerade noch einen Blick auf den Hinterkopf des geheimnisvollen Rätselstellers, der gerade in einem der Seitengässchen verschwand.
»Ja, die Zeit wird es an den Tag bringen«, murmelte Hector.
Inzwischen schneite es. Den Zuschauern war klar, dass das Rätselraten für heute vorbei war, und sie zerstreuten sich. Als Hector von seinem Podest stieg, klimperten die Münzen in seinem Portemonnaie. Einen Teil davon würde er natürlich Mrs Fitch geben, den Rest aber würde er für sich behalten. Er ging zum nächsten Stand, an dem etwas zu essen verkauft wurde, stellte sich unter und hing bei einer heißen Kartoffel und einem Becher Bier seinen trüben Gedanken nach.
In den sechs Wochen, seit er in Mrs Fitchs Haus gekommen war, hatte sich der Sommer – erkennbar am Anstieg der Temperatur wie des Flussgestanks – verabschiedet, und der Herbst, der in dieser Stadt nichts weiter als ein paar Wochen kühleres Wetter bedeutete, machte schnell dem Winter Platz.
Es war eine schwierige Zeit für Hector gewesen, aber er hatte sich nach Kräften bemüht, sich an die Veränderungen in seinem Leben zu gewöhnen. Im Heim gab es außer ihm zwanzig andere Jungen, alle aus der Südstadt und alle verwaist durch ein Schicksal, in dem oft genug der Gin eine unselige Rolle gespielt hatte. Am ersten Morgen beim Frühstück waren sie Hector mit Misstrauen begegnet, wie jedem Neuankömmling. Dann, kaum hatte er den Mund aufgemacht und sich auf diese Weise als Nordstädter zu erkennen gegeben, war es zu einer Prügelei gekommen. Hector fiel schon beim zweiten Schlag – er war kein ebenbürtiger Gegner für seine robusten Mitbewohner. Während er auf dem Boden lag und sich fragte, wie er lebendig aus dieser Situation herauskäme, sah er durch sein rasch zuschwellendes Auge, dass einer der Jungen seinen Mantel und seine Mütze trug und ein anderer seine Schuhe und seine Uhr. Da zog er blitzschnell seinen Kokon unter dem Hemd hervor und erinnerte die Jungen an den Abend, als sie ihm seine Sachen abgenommen hatten.
Sobald Hectors Identität geklärt war, gebot der Anführer (derselbe Kerl wie damals) seinen Genossen Einhalt. Der kleinere Junge, immer noch mit der Krawatte um den Hals (nur war sie inzwischen dunkler als früher), half Hector auf die Beine und bat ihn, noch einmal das Rätsel mit dem Lügner zu erzählen, weil keiner von ihnen die Lösung begriffen hatte. Hector tat ihnen den Gefallen nur zu gern, und von da an wurde er als gebildeter und unterhaltsamer Bursche geschätzt. Pollys Glaube an seine Überlebensinstinkte hatte sich als richtig erwiesen. Doch musste er noch lernen, sich auch außerhalb des Heims durchzusetzen.
Nachdem Hector schon in der ersten Zeit in Mrs Fitchs Waisenhaus festgestellt hatte, dass für die hier übliche Verständigung hauptsächlich das Verschlucken von Silben und die Verwendung obszöner Kraftausdrücke nötig waren, stellte er seine Redeweise entsprechend um. Es verging keine Woche, da hörte er sich fast an, als hätte er nie anders gesprochen. Ab und zu rutschten ihm noch Ausrufe wie »Beim Jupiter!« oder »Hervorragend, alter Knabe!« heraus, manchmal auch ein lateinischer Kraftausdruck – alte Gewohnheiten lassen sich eben nur schwer ablegen. Dann sahen die Jungen ihn schief an und lachten, aber es dauerte nicht lange, da verwendeten einige seiner neuen Kameraden allmählich selber diese Ausdrücke, Hector zu Ehren.
Was ihn jedoch am beliebtesten bei ihnen machte, war seine Fähigkeit, ihnen Rätsel aufzugeben oder ihnen etwas vorzulesen – die lustigen Verse des Beag Hickory zum Beispiel oder manchmal, auf Pollys besonderen Wunsch, die wundersamen Geschichten aus Houndseckers Märchen von Feen und Frohnaturen. Das Buch hatte einer der Jungen bei einem nichts ahnenden Buchhändler der Stadt »erstanden«.
Das Leben bei Lottie war also nicht so unangenehm, wie Hector es sich anfangs vorgestellt hatte. Er bekam zu essen, er hatte ein Dach über dem Kopf und er konnte mit seinen Rätseln Geld verdienen. Die Jobs, die die anderen Jungen zu diesem Zweck machten, waren zahlreich und von unterschiedlichster Art. Manche gingen über die Brücke und putzten vornehmen Herren die Schuhe, andere fegten die Straßenkreuzungen oder bettelten einfach, und – überflüssig zu sagen – alle klauten. Ein begabter Taschendieb war Hector nicht gerade, und so war er am Anfang von Tür zu Tür gegangen, um Hühnerfüße zu verkaufen. Aber jetzt hatte er seine Rätsel.
Solange man vor den Mahlzeiten sein Tischgebet sprach, in Mrs Fitchs Gebete einfiel, wann immer ihr zum Beten zumute war (oft), und in ihre Kirchenlieder, wenn sie sang (oft und laut), und solange man die regelmäßig anfallenden Arbeiten erledigte, ließ sich das Leben aushalten. Gut, er musste sich mit Läusen und Flöhen abfinden, mit üblen Gerüchen und den Gefahren der Straße, aber das war der Preis der Freiheit. Er hatte die langen, eintönigen Tage mit seinem Lehrer im Schulzimmer nicht vergessen, als er Verben konjugieren, Substantive deklinieren und dabei immer auf der Hut sein musste vor dem Stock, den der Lehrer allzu schnell bei der Hand hatte.
Doch abends, wenn die Dunkelheit hereinbrach, sank auch Hectors Stimmung. Dann vermisste er seinen Vater besonders schmerzlich und die Wut und ein zunehmendes Rachebedürfnis nagten an seinem Herzen. Außerdem trug er schwer an der Bürde seiner geheimen Vergangenheit. Er wagte es nicht, Lottie seinen Familiennamen zu nennen, nicht mehr jetzt, nachdem dieser Name durch seine Verbindung zum Gin befleckt war. Sie hätte ihn sofort auf die Straße gesetzt! In solchen düsteren Stunden war Polly seine Rettung. Ihr heiteres und unaufdringliches Wesen brachte ihn für gewöhnlich wieder ins Lot.
Hector nutzte jede Gelegenheit, Tag und Nacht, um nach Truepin zu suchen. Im Grunde seines Herzens wusste er, dass der Gauner die Stadt wahrscheinlich längst verlassen hatte, aber eines Tages, daran musste er nur fest glauben, würde er, Hector, das schreckliche Unrecht, das seiner Familie angetan worden war, wiedergutmachen. Oft kam er erst spätnachts ins Heim zurück, frierend und hungrig, doch Polly, die immer auf ihn wartete, drang nie in ihn, sondern brachte ihm wie selbstverständlich etwas zu essen. Bei anderen Gelegenheiten, wenn Hector mit ihr am Küchentisch saß und ihr bei Briefen und anderen Schreibarbeiten half, sah sie ihn oft fragend an, als wollte sie ihn auffordern, all ihre ungestellten Fragen zu beantworten, aber er tat es nie.
Nur einmal sagte sie doch etwas. Es war nach Mitternacht und Hector saß in sich zusammengesunken, blass und müde am Tisch.
»Hector«, begann sie behutsam, »ich weiß nicht, wen oder was du in diesen Winternächten suchst, und ich will es auch nicht wissen, ich sehe nur, dass es dir nicht guttut.«
Hector öffnete schon den Mund, um zu protestieren, doch sie hob beschwichtigend die Hand.
»Ich bin deine Freundin. Und ich kann’s nicht leiden, wenn ich dich so sehe. Manchmal muss man die Vergangenheit einfach hinter sich lassen, sonst zerfrisst sie einen.«
Hector wusste, dass sie recht hatte. Könnte ich bloß alles vergessen, dachte er. Aber dann sah er wieder den leblosen Körper seines Vaters im Schmetterlingshaus vor sich, und ihm war klar, dass er seine Suche bis zum bitteren Ende fortsetzen musste – wo immer dieses Ende sein mochte.