Kapitel 7

Fitchs Waisenhaus für ausgesetzte Babys und verlassene Jungen

Außer Hector gab es keine Trauernden bei Augustus Fitzbaudlys Begräbnis. Der Vikar verzog widerwillig das Gesicht, weil es regnete, er las eine kurze Passage aus der Bibel und flüchtete danach schleunigst unter das schützende Kirchendach – damit hielt er sich mit der Ausübung seiner Pflicht genau an die geringe Summe, die er dafür bekommen hatte. Dem Totengräber fiel es in Ermangelung einer Hilfe schwer, den Sarg im Grab zu versenken. Er murmelte die ganze Zeit griesgrämig vor sich hin, bis Hector schließlich benommen vortrat und mit anfasste. Die billige Holzkiste hatte bereits Risse in den Fugen und kam kaum einen Meter unter der Erde zu liegen. Für eine Einzelgrabstätte hatte Hector kein Geld und so war sein Vater über einem anderen Toten bestattet worden. Während die Erdbrocken polternd auf den Sargdeckel fielen, ging Hector über den Friedhof davon. Er schämte sich zutiefst, dass sein Vater in einem Armengrab liegen musste, und gelobte, diesen schändlichen Zustand so bald wie möglich zu beheben, und wenn er den Sarg eigenhändig ausbuddeln und transportieren müsste.

Hector hatte keine Ahnung, wohin er sich wenden sollte, und es war ihm im Augenblick auch egal. Er ging weiter und weiter, vorbei an den Schnapsläden und Ginleitungen. Ob sie wirklich einmal seinem Vater gehört hatten? Er stieß auf wenig vertrauenerweckende Straßennamen: Fetter’s Gate, Melancholy Lane, Old Goat’s Alley. Es waren Namen, die ihm bald nur zu vertraut werden sollten. Im Dämmerlicht der engen Straßen nahm er überall geschäftiges Treiben wahr. Aber diesmal spürte er weder den Kitzel des Abenteuers, noch empfand er etwas außergewöhnlich Lebendiges in sich; er fühlte sich nur halb tot und voller Angst.

Vor wenigen Stunden hatte er den breiten, gut beleuchteten Straßen und gepflegten Plätzen der Nordstadt endgültig den Rücken gekehrt. Er war an der Reihe glänzender Kutschen vorbeigegangen, die vor Theatern und Restaurants warteten – einst waren hier jeden Abend Fitzbaudly-Weine serviert worden –, und schließlich hatte er wieder die Brücke überquert.

Nun, wo sein Vater tot und begraben war, waren nur noch Fassungslosigkeit und dumpfe Trauer in ihm.

Ohne nach rechts und links zu schauen, trottete er weiter durch die Regenschwaden. Er hörte nicht die fordernden Rufe der Unglücksgestalten ringsum. Er spürte nicht die grapschenden Finger, die an seinem Mantel zerrten. Er achtete nicht einmal darauf, als ihm eine heruntergekommene Gestalt mit wild aufgerissenen Augen und in die Hüften gestemmten Armen entgegentrat. Als der Bettler den verzweifelten Blick in Hectors Augen sah, ließ er die Arme sinken und wandte sich ab. Schließlich sank Hector auf die Stufen eines der baufälligen, rußgeschwärzten Häuser und legte seinen Kopf in die Hände. Er war vollkommen erschöpft und so in Gedanken, dass er nicht hörte, wie hinter ihm die Tür geöffnet wurde. Er spürte nur die knochigen Arme, die ihn fest umschlangen und buchstäblich ins Haus schleiften. Krachend schlug hinter ihm die Tür ins Schloss und Dunkelheit umhüllte ihn.

»Ah, hat uns der gute Herrgott wieder einen geschickt?« Die brüchige Stimme kam von irgendwo dicht neben seinem Kopf. »Keine Angst, Kindchen, wir kümmern uns hier um dich. Haben sie dich einfach in der Kälte stehen lassen?«

Hector gelang es, sich aus dem ungewöhnlich festen Griff der Frau zu befreien (er glaubte jedenfalls, dass es sich um eine Frau handeln müsse – der Stimme nach zu urteilen war er sich allerdings nicht so sicher). Dann drehte er den Kopf, um seine Entführerin anzuschauen. Später, als er sie bei Tageslicht sah, begriff er, dass das Halbdunkel im Haus tatsächlich das freundlichste Licht war, um sie näher in Augenschein zu nehmen. Für den Moment jedoch konnte er gerade so eben eine kleine, verhutzelte Gestalt weiblichen Geschlechts erkennen.

»Ich bin Mrs Fitch«, sagte sie. »Ich weiß Bescheid, wie’s is, wenn man auf den runtergekommenen Straßen von Urbs Umida sitzt. Ich kenn dein Leid. Aber Er, unser Herrgott«, an dieser Stelle bekreuzigte sie sich, »Er hat mich durch ein’ tragischen Unfall vor mir selber gerettet. Hätte beinah ’n schreckliches Verbrechen begangen, aber Er hat mir den rechten Weg gezeigt und mir erlaubt, dass ich’s wiedergutmache. Denk aber bloß nich, dass das so leicht is, ich werd die ganze Zeit auf die Probe gestellt. Und da oben«, sie rollte die Augen in Richtung Zimmerdecke, »da oben sitzt die größte Prüfung von allen. Der arme Ned da oben is nämlich vor der ein’ Tragödie bewahrt worden und gleich drauf in die nächste geschlittert. Der steckt in ei’m nutzlosen Körper.«

»Wo bin ich hier?«, fragte Hector, als Mrs Fitch ihren Redestrom unterbrach, um rasselnd Luft zu holen.

»Na, überhaupt am besten Ort, wo du nur sein kannst: Lottie Fitchs Waisenhaus für ausgesetzte Babys und verlassene Jungs.«

»Aber ich bin nicht verlassen worden«, protestierte Hector. »Mein Vater ist … gestorben.«

»Ah, was für’n Unglück für ein’ so jungen Kerl«, sagte Lottie und drückte ihn noch einmal an sich. »Aber nu mach dir keine Sorgen, wir kümmern uns um dich. Komm mit.«

Hector ließ sich von Mrs Fitch durch den Flur führen. Er folgte ihr die Treppe hinunter in eine geräumige Küche, in der ein langer Tisch und Bänke standen. Dabei sprach sie die ganze Zeit weiter über den Herrgott und ihre guten Taten und erwähnte zwischendurch immer wieder den ›armen Ned da oben‹.

Am Tischende schnitt ein Mädchen Gemüse. Als sie die Schritte hörte, sah sie auf und lächelte.

»Ah, Polly«, sagte Mrs Fitch. »Wir haben ein’ Neuen. Hector. Er braucht was zu essen und vielleicht kannst du ’n Bett für ihn auftreiben. Aber zuerst wollen wir ganz schnell ’n Dankgebet sagen, weil er zu uns gefunden hat und nich auf den gefährlichen Straßen der Stadt umgekommen is.«

Prompt unterbrach Polly das Gemüseschneiden, faltete die Hände und schloss die Augen wie Mrs Fitch und schon schickten beide ein gemurmeltes Stoßgebet zum Allmächtigen empor. Hector, der zwar nicht streng religiös erzogen war, wusste immerhin so viel, dass auch er die Hände ineinanderlegte und mitmurmelte. Mrs Fitch schien hocherfreut. Sie ging aus der Küche und ließ ihn in Pollys Obhut zurück.

In all den Jahren, die Polly schon im Waisenhaus arbeitete, waren viele verlassene Jungen gekommen und gegangen, und alle hatten ihr gleich viel bedeutet, aber dieser Junge hier schien ihr anders. Seine dunklen Haare fielen ihm ins Gesicht und die Augen unter den feuchten Stirnfransen waren schwarz wie Kohlenstücke. Trotz seines nassen, verdreckten Äußeren stand er aufrecht da und sah mit selbstbewusster Neugier um sich. Er war nicht dick, doch sichtlich gut genährt; und er war groß, fast so groß wie sie selbst, trotz des Altersunterschieds, den sie auf fünf, sechs Jahre schätzte. Mit geübtem Blick stellte sie fest, dass seine Ärmelaufschläge bis ans Handgelenk reichten (kein Kind in diesem Haus besaß ein noch passendes Hemd), dass sein Umhang von guter Qualität war und dass seine Schuhe – trotz der Schmutzflecken – vor Kurzem poliert worden waren. Dieser Hector musste bis jetzt ein geordnetes Leben geführt haben. Selbst wenn er es darauf angelegt hätte, stärker hätte er sich nicht von den anderen Jungen im Heim unterscheiden können.

»Willkommen bei Lottie Fitch«, sagte Polly freundlich. »Magst du etwas essen?«

»Ja, bitte«, erwiderte Hector und merkte auf einmal, dass er trotz seiner tiefen Trauer schrecklich hungrig war. Seit dem plötzlichen Tod seines Vaters hatte er kaum etwas zu sich genommen.

Polly brachte einen Teller mit Brot und Schinken, dazu einen großen Krug Milch, und stellte beides vor ihn hin. Während er aß, schnitt sie ihr Gemüse weiter, versorgte nebenbei das Feuer und beobachtete ihn verstohlen. »Du bist nicht von der Südseite?«, sagte sie schließlich. Es war mehr eine Feststellung als eine Frage.

Hector schüttelte den Kopf. »Nein. Und du hörst dich an, als kämst du überhaupt von außerhalb der Stadt.«

Polly nickte. »Ich komme aus einem Dorf aus den Moira-Bergen, es heißt Pagus Parvus. In Urbs Umida wollte ich mir Arbeit suchen, aber es war nicht so leicht, wie ich gedacht hatte. Zum Glück bin ich Mrs Fitch über den Weg gelaufen.«

Damit sind wir zu zweit, dachte Hector, während er sein Brot aufaß. »Hast du eine Serviette?«, fragte er.

Polly lachte. »Nimm deinen Ärmel. So machen wir’s auch. Das spart Wäsche.« Mit der Messerklinge streifte sie alles Gemüse in einen Topf und wischte sich dann die Hände an der Schürze ab. »Komm, wir schauen mal nach einem Bett für dich«, sagte sie. »Du siehst müde aus.«

Polly nahm zwei Kerzen, eine für sich, eine für Hector, und führte ihn die Treppe hinauf. Es war dunkel und in Pollys Schatten ließ sich kaum etwas erkennen.

»Keine Gaslampen?«, fragte er.

Polly schüttelte den Kopf. »Du wirst merken, dass hier manches anders ist«, sagte sie, als sie auf dem Treppenabsatz waren. »Und mach dir nichts aus den Geräuschen von dort oben.« Sie blickte zum Dachboden hin. »Das ist nur Ned.«

»Der ›arme Ned da oben‹?«

»Ja, Mrs Fitchs Ehemann. Er liegt im Bodenzimmer. Vor ein paar Jahren, mitten im Winter, ist er in den Foedus gefallen. Sie haben ihn rausgezogen, aber er hat sich nie ganz davon erholt. Das Flusswasser hat ihn vergiftet und jetzt liegt er Tag und Nacht im Bett. Mrs Fitch sagt, das ist seine Strafe für die Sünden, die sie beide begangen haben.«

»Welche Sünden?«

Polly zog die Schultern hoch. »Ich glaube, es hat mit ihrem Sohn Ludlow zu tun. Seit Jahren hat ihn keiner gesehen. Und das Komische ist, er hat eine Weile in Pagus Parvus gewohnt, damals, als ich dort war. Ich vermute, dass die Fitchs ihn schlecht behandelt haben, aber er hat mir nie erzählt, warum er aus Urbs Umida weggegangen ist. Jetzt hat Mrs Fitch immerzu Visionen, die ihr eingeben, dass sie Kinder retten muss. Fast jeden Tag. Botschaften von oben, sagt sie, und von denen lässt sie sich leiten.«

Polly schob den Riegel einer niedrigen Tür zurück. Die Tür war gerade mal so groß wie Hector. Sie wird sich beim Eintreten bücken müssen, dachte er.

»Die anderen Zimmer sind im Moment besetzt«, sagte Polly fast entschuldigend. »Auf ein Bett kommen drei Kinder. Fürs Erste wirst du dich hier wohler fühlen.«

Hector trat in das dunkle Zimmer und streckte die Kerze weit von sich. Im Licht der Flamme sah er, dass der Raum kaum mehr als eine Nische unter der Treppe war.

Ehe er sich zurückhalten konnte, rief er: »Beim Jupiter!« (Ein beliebter klassischer Ausruf seines Hauslehrers.) »Ist das winzig!«

Polly zog verständnisvoll die Augenbrauen hoch. »Aber warm.«

Hector versuchte ein Lächeln. Egal, wie groß oder wie klein, es war mit Sicherheit besser als zu dritt in einem Bett. »Danke«, sagte er leise.

»Du wirst dich bestimmt daran gewöhnen.«

Hoffentlich werde ich nicht lange genug hier sein, um mich daran zu gewöhnen, dachte er. Plötzlich spürte er eine unbeschreibliche Sehnsucht nach seinem eigenen Schlafzimmer und nach seinem Vater.

»Zum Frühstück wird geläutet«, erklärte Polly hilfsbereit. »Hinterher erledigt jeder seine Arbeit, und danach musst du versuchen, draußen Geld zu verdienen.«

»Für Mrs Fitch?«, fragte Hector.

Sie zwinkerte. »Mrs Fitch nimmt etwas, klar. Aber sie kann nur nehmen, wovon sie weiß.«

Hector lachte. Polly machte ein nachdenkliches Gesicht. »Weißt du, Hector, die Jungs hier … also, sie sind ja wirklich gutherzig, aber sie sind alle Südstädter. Und du, wo du doch aus dem Norden kommst … na ja, du musst vielleicht damit rechnen, dass …«

»Du meinst, sie werden mich nicht mögen wegen meiner Herkunft?«, ergänzte er.

»Hmm … ja. Am Anfang zumindest.« Sie ging zur Treppe und legte ihre Hand auf das Geländer. »Aber irgendwie wirst du’s überstehen, denke ich«, sagte sie grinsend. Dann stieg sie hinab in die Dunkelheit.

Hector stellte die Kerze neben die Matratze auf den Boden und zog die Tür hinter sich zu. Er breitete die Arme aus und stellte fest, dass er Wand und Tür gleichzeitig berühren konnte. Die Mauer fühlte sich warm an. Aber natürlich!, dachte er. Dahinter musste der Schornstein sein, und unten in der Küche hatte Mrs Fitch wahrscheinlich den ganzen Tag das Feuer brennen. Er stellte seine Tasche auf den Boden neben sich und streckte sich auf der Matratze aus. Er gähnte herzhaft und tastete nach dem Kokon an seinem Hals. An ihm fand er in diesen Tagen immer wieder Trost. Dann dachte er, wie jeden Abend, seit seine Probleme angefangen hatten, an Gulliver Truepin. Er bezweifelte stark, dass der jetzt auch unter irgendeiner Treppe schlafen musste.

»Warte nur, bis ich dich finde, Truepin«, schwor Hector wieder einmal. »Dann zahlst du für das, was du getan hast.«

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