Kapitel 25

Zu früh!

Ein ganz schwaches Geräusch – ein Geräusch, das er nicht erwartet hatte – ließ Hector in seiner Arbeit innehalten und lauschen. Konnte er sich das eingebildet haben? Nein, da war es wieder. Ein Flattergeräusch. Kein Zweifel. Er spürte, wie seine Hände feucht wurden. Hier sollte nichts flattern. Es war zu früh. Das Fest fand erst morgen Abend statt. Er legte den Mörser zur Seite und drehte sich um. Langsam schritt er die Reihe der Glasbehälter ab und suchte nach der Ursache des Geräusches. Dort, auf dem Boden des Behälters neben ihm, bewegte sich etwas. »Tartari flammis!«, rief er aus.

Entsetzt fuhr er mit der Hand an den Mund, als er den großen Schmetterling sah, der hinter der Glaswand herumflatterte und dabei die dunkle Erdschicht und die feuchte Rinde aufwühlte. Er war ihm vorher, im Ruhezustand, nicht aufgefallen, weil seine leuchtenden Farben verschmiert waren wie Tarnfarben und er sich auf dem mattbraunen Durcheinander kaum erkennen ließ. Sein Körper war groß, doch seine Flügel waren entsetzlich missgebildet, der eine buchstäblich in Fetzen gerissen, der andere eine zerknautschte Masse. Mit laut pochendem Herzen öffnete Hector den Deckel des Behälters und fasste hinein, um die sich quälende Kreatur zu erlösen. Der Schmetterling krabbelte schwerfällig auf seine Hand und saß still, während Hector die Hand aus dem Gefäß zog.

Er empfand gleichzeitig Mitleid und Abscheu. Noch einmal untersuchte er ängstlich das Innere des Behälters. Der Schmetterling schien der einzige zu sein, der geschlüpft war. Vielleicht war es doch nicht so schlimm, wie er zuerst gedacht hatte. Überleben konnte dieser hier ohnehin nicht. Doch trotz aller Qualen, die der Schmetterling offensichtlich ausstand, schien es Hector furchtbar, ihn zu töten. Er zauderte, und so bemerkte er erst zu spät den Schatten, der plötzlich über ihn fiel.

»Was hast du da?«

Hector fuhr erschrocken zusammen – Bovriks Stimme. Er drehte sich hastig um und blickte direkt in das glitzernde falsche Auge des falschen Barons.

Der wiederum war ziemlich überrascht von Hectors Reaktion. Es kam selten vor, dass er den Jungen derart aus der Fassung sah. Normalerweise ließ Hector wenig von seinen Gefühlen erkennen. Er trat näher heran, ein neugieriges Lächeln spielte um seine Mundwinkel. Seine Schnurrbartspitzen zuckten.

»Was ist das?«

»Ein … ein Schmetterling«, stammelte Hector. Sofort verfinsterte sich Bovriks Gesicht und seine buschigen Augenbrauen schoben sich noch enger zusammen als sonst.

»Ein Schmetterling? Jetzt schon?«

»Ich weiß«, sagte Hector mit einem Blick auf das zitternde Tier. »Er ist zu früh geschlüpft.«

»Sieht ganz so aus«, sagte Bovrik eisig.

»Er ist verletzt; er kann nicht leben.«

»Gibt es noch mährere?«

»Nein.«

»Hmm«, murmelte Bovrik, schlenderte durch den Raum und musterte dabei prüfend die Kokons. »Diese hier sind anders.« Er stand vor dem Gefäß in der Ecke. Die Kokons darin waren kleiner und viel dunkler als die anderen.

»Es ist eine andere Art«, sagte Hector. »Wegen der größeren Vielfalt.«

Bovrik schwieg.

»Die restlichen Schmetterlinge kann ich schlüpfen lassen, sobald sie gebraucht werden«, sagte Hector ruhig. Es erstaunte ihn immer wieder, wie leicht er seine tiefe Verachtung für diesen Mann verbergen konnte.

»Non, wir wollen es hoffen. Ond was ist das?« Bovrik hielt den Mörser hoch.

Hector stürzte sich auf ihn und nahm ihm das Gerät hastig aus der Hand. »Es ist für die Schmetterlinge. Ihr dürft es nicht anfassen.«

Bovrik sah ihn scharf an. »Non, du wirst wissen, was du tost«, sagte er endlich. »Es liegt mir fern, mich einzomischen.« Er beendete seinen Rundgang und blieb dann wieder vor Hector stehen. »Aber non darf nichts mähr schiefgähen! För Ihre Ladyship moss alles wie am Schnörchen laufen!« Und Hector meinte zu hören, wie er fast flüsternd ergänzte: »Ganz besonders jetzt.« Plötzlich richtete der Baron den Finger auf ihn. »Zeig her!«, forderte er.

Hector streckte die Hand aus und Bovrik warf noch einen Blick auf den sich quälenden Schmetterling.

»Dieser eine wird wohl keine Tragödie sein«, sagte er, dann riss er ihn unvermittelt an sich und zerdrückte ihn in seiner Faust, bis ihm die Innereien durch die Finger sickerten. Hector unterdrückte einen Aufschrei, bestürzt über so viel Brutalität. Bovrik streckte Hector die geöffnete Hand entgegen.

»Mach das weg«, sagte er.

Hector schluckte schwer. Vorsichtig fasste er das tote Insekt beim Flügel, zog es von Bovriks Hand und legte es auf den Tisch.

Du Ungeheuer!, dachte Hector, und sein Widerwille gegen diesen falschen Baron steigerte sich noch einmal – er hatte nicht geahnt, dass so viel unerbittlicher Hass in ihm steckte. Sein Herz war wie ausgepresst und trotzdem ließ er sich nichts anmerken.

»Ich habe keine Zeit för weitere Fähler, Junge – ich moss mich om sähr viel wichtigere Dinge kömmern. Vergiss nicht, dass ich dich auf den Straßen von Orbs Omida aufgeläsen habe. Ich kann dich jäderzeit wieder dorthin befördern.«

»Ich dich auch«, flüsterte Hector, als Bovrik auf dem Absatz kehrtgemacht hatte und davoneilte. »Sogar Schlimmeres.«

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