Kapitel 18

Erinnerungen

An diesem bewussten Morgen saß der junge Jereome am Fluss und sah den Schweinen seines Vaters zu, wie sie nach Eicheln wühlten und sie zerkauten (er bezeichnete die Schweine immer als die seines Vaters, denn selber wollte er mit ihrem Besitz nichts zu tun haben). Wie immer war er tief in Gedanken, beklagte sein Leben, in dem es nur Plackerei und Schweinescheiße gab, und so dauerte es eine Weile, bevor er merkte, dass er nicht mehr allein war. Ein einsamer Wanderer, ein hochgewachsener Mann mit schmalem Kopf und hohen Wangenknochen, war unbemerkt ans Flussufer getreten und dicht neben ihm stehen geblieben. Jereome sagte nichts. Er interessierte sich nicht für Fremde, besonders nicht für solche, die arm aussahen. Hätte der Kerl Geld gehabt (und Jereome besaß ein ungewöhnliches Talent, das zu erspüren), wäre es eine ganz andere Sache gewesen. Dann hätte er sich natürlich vorgestellt, und zwar in der Hoffnung, vom Geldbeutel des Fremden profitieren zu können. Hätte Jereome allerdings ein wenig mehr über diesen Fremden gewusst, hätte sein Lebensweg eine ganz andere Richtung einschlagen können, doch das nur nebenbei.

Schließlich sah sich Jereome den Kerl doch genauer an, verstohlen, und stellte fest, dass dieser ihn seinerseits mit prüfendem Blick musterte. Der Wanderer sah aus, als wäre er schon lange unterwegs. Er hatte einen Rucksack und einen Stock dabei, seine Kleidung war dunkel und schlicht. Nachdem er Jereome kurz zugenickt hatte, kniete er am Ufer nieder und trank aus den gewölbten Händen.

Vor Fremden war Jereome immer auf der Hut. Für gewöhnlich bedeuteten sie nur Ärger. Entweder sie wollten bewirtet werden (und für ihre Gastfreundschaft waren die Waldbewohner nicht gerade berühmt, eher für das Gegenteil), oder sie waren Sheriffs, die nach Kriminellen suchten. Wie ein Sheriff wirkte dieser Mann nicht. Jereome sah zu, wie der Mann seinen Rucksack absetzte und ein Stück Brot, Käse und eine Flasche Bier herausnahm.

»Möchtest du mit mir essen?«, fragte er. Er sprach nicht im hiesigen Tonfall, aber sein Akzent war auch nicht so stark, um ihn an einer bestimmten Gegend festmachen zu können.

»Ich habe selber was«, sagte Jereome und kramte ein paar Stücke dunkles getrocknetes Fleisch aus seiner Tasche. Zu seiner Verblüffung und fast ohne es zu merken, bot er dem Fremden etwas davon an. Die Augen des Mannes hellten sich auf und er nahm es dankbar entgegen.

»Borstenrückenschwein«, sagte er kauend. »Köstlich! Das Beste, was es gibt.«

Jereome warf sich in die Brust. »Selbst geräuchert«, erklärte er.

»Und wie gut dazu! Da, nimm dir Brot, zusammen ist es eine runde Sache.«

Jereome nahm an, und so saßen die beiden eine Weile schweigend und aßen und tranken, der Fremde aus seiner Bierflasche und Jereome aus seiner mit Wasser gefüllten Schweinsblase.

Nachdem sie schließlich gesättigt waren, begannen sie eine Unterhaltung. In der Nähe schnüffelten die Schweine und die Bäume schwankten leicht im Wind. Die Herbstsonne hatte an Kraft gewonnen und die beiden genossen die wärmenden Strahlen auf ihrem Gesicht.

»Woher kommt Ihr denn?«, fragte Jereome. »Und wohin wollt Ihr?«

»Ich komme aus einer kleinen Stadt in Mittelengland.« Der Mann nannte einen Namen, der Jereome bekannt vorkam. »Vielleicht hast du den Namen schon einmal gehört?«

»Und was habt Ihr dort gemacht?«

Der Fremde lachte. »Was ich immer mache: den Menschen helfen und dabei in Schwierigkeiten geraten.«

»Hört sich an, als wär’s anders gelaufen, als Ihr erwartet habt?«

»Ach, gerechnet hab ich schon mit den Schwierigkeiten«, sagte der Mann. »Manche Dinge sind einfach unvermeidlich.«

Jereome war einigermaßen fasziniert von diesem rätselhaften Fremden. »Erzählt mir mehr«, drängte er ihn. »Habt Ihr Abenteuer erlebt? Was habt Ihr als Belohnung bekommen?«

»Abenteuer? Ganz sicher. Und Belohnung? Nun, ich habe das hier«, sagte der Mann und brachte aus seinem Rucksack ein Holzbein zum Vorschein.

Sofort warf Jereome einen unverhohlenen Blick auf die Beine des Mannes. Er erinnerte sich an dessen hinkenden Gang, vorhin, als er näher gekommen war.

»Stimmt, ich hinke«, sagte der Fremde, der den Blick bemerkt hatte. »Aber trotzdem habe ich noch zwei gesunde Beine. Dieses Holzbein gehörte einem alten Herrn. Ich hatte die Ehre, seine letzten Worte auf dem Totenbett zu hören. Bevor er starb, schenkte er mir das Bein.«

»Was soll man schon mit einem Holzbein anfangen? Ist es wertvoll?«

»Das Bein selbst nicht«, erwiderte der Mann. »Aber das, was drinnen war. Sieh her.«

Er streckte das Holzbein von sich und drehte es am Knie auseinander. Es war innen hohl. »Der Mann hat die Ersparnisse seines Lebens darin aufbewahrt, in Schuldscheinen und Banknoten. Es war eine ansehnliche Summe.«

»Was ist mit der Familie des Mannes?«

»Tja, da berührst du den springenden Punkt. Der alte Herr hatte zwar einen Sohn, aber der war ein fauler Strick. Er wusste, was in dem Bein war, er kam und verlangte es von mir als sein rechtmäßiges Eigentum. Ich weigerte mich natürlich. Er drohte mir und ging. In derselben Nacht kam er zurück, und als er annahm, ich würde nicht hinsehen, stahl er es.«

»Und? Ich meine, habt Ihr hingesehen?«

»Ich versichere dir, überrumpelt hat er mich nicht mit seiner Rückkehr.«

»Und das Geld? Was war mit dem Geld?«

Der Wanderer lachte. »Sagen wir so, als er die Hand in das Bein steckte, hat er eine unangenehme Überraschung erlebt.«

Jereome runzelte die Stirn. »Weil er merkte, dass kein Geld darin war?«

»Ja, das auch.«

Nun war Jereome verwirrt. »Wenn er kein Geld gefunden hat, was dann?«, fragte er.

Der Fremde rappelte sich auf und verstaute das Holzbein mit einiger Mühe wieder im Rucksack. Er lächelte sonderbar.

»Nur etwas Kleines, das zufällig hineingekrochen war – und zwar, wie ich eilig hinzufügen will, von ganz allein.«

»So was wie ein Skorpion vielleicht?«

»So ähnlich. In jedem Fall war es ein schicksalhaftes Zusammentreffen.«

»Aber das Bein habt Ihr ja immerhin.«

»Ich stelle es mir gern so vor, dass es eben zu seinem rechtmäßigen Besitzer zurückgekommen ist.«

»Und warum bewahrt Ihr es auf?«

»Ich habe das Gefühl, dass es mir eines Tages nützlich sein könnte.« Der Fremde streckte sich und gähnte. »So«, sagte er energisch, »ich muss weiter. Ich habe einen langen Weg vor mir. Ich muss weiter hinein ins Gebirge.«

Jereome schauderte. »Warum wollt Ihr dorthin? In den Bergen wird es schon kalt sein um diese Jahreszeit und es wird noch kälter. Ihr solltet im Wald bleiben. Warten, bis der Winter vorbei ist.«

»Nein, ich muss gehen«, sagte der Fremde. »Ich …«, er zögerte, dann sagte er leise, »ich werde erwartet.« Er betrachtete Jereome mit einem kritischen Blick, bis der Junge das Gefühl hatte, er werde irgendwie eingeschätzt. Dann aber schüttelte der Mann leicht den Kopf und klaubte seine Habseligkeiten zusammen.

»Ich wünsche Euch alles Gute«, sagte Jereome, was gar nicht seine Art war, und gab ihm die Hand. »Vielleicht treffen wir uns mal wieder.«

»Vielleicht«, sagte der Fremde und zog seinen Umhang fester um die Schultern. Bei dieser Bewegung streifte der Stoff Jereomes nackte Haut. Die Härchen auf seinen Armen richteten sich auf und er spürte ein Kribbeln am ganzen Körper. Diese Zartheit! So etwas hatte er noch nie berührt. Jereomes Kleider wurden für gewöhnlich von seiner Mutter gewebt, sie fühlten sich rau und derb an, und wenn sie nass waren wie in dieser Jahreszeit meistens, rochen sie ziemlich unangenehm. Wie benommen von der Berührung durch den Umhang sah Jereome hinter dem Fremden her.

»Wartet«, rief er ihm nach. »Ich muss Euch noch etwas fragen.«

Der Mann war schon stehen geblieben.

»Euer Umhang. Was ist das für ein Material?«

»Reine Jocastarwolle«, sagte der Mann. Dann verschwand er im Wald und ließ Jereome in einem Aufruhr verwirrender Gefühle zurück. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er den Fremden nicht einmal nach seinem Namen gefragt hatte.

Und was war mit dem Geld im Holzbein?, dachte Jereome, doch nun war es zu spät.

Am Abend, als Jereome bei Eintopf mit Speck und Eichelbrühe saß, erzählte er seinen Eltern von dem Fremden.

»Jocastar?«, fragte sein Vater stirnrunzelnd. »Dass du mir bloß nicht auf dumme Gedanken kommst«, sagte er ruppig. »Jocastar ist nichts für unsereins. Der teuerste Pelz der Welt, zum feinsten Stoff gewebt! Dieses Tier ist nur an den höchsten Berghängen zu finden, und da steigen höchstens Dummköpfe rauf, um an die Wolle zu kommen. Hier unten gibt’s jedenfalls mit Sicherheit keine Jocastars.«

»Ich …«, setzte Jereome an, aber nach der Miene seines Vaters zu schließen, schien eine Vertiefung des Themas nicht erwünscht.

In dieser Nacht lag Jereome bis in die frühen Morgenstunden wach, so durcheinander war er. Wenn er an das Gefühl des Umhangs auf seiner Haut dachte, kribbelten ihm noch jetzt die Fingerspitzen. Plötzlich schien ihm Jocastar all das zu verkörpern, was er sich ersehnte, was ihm aber vom Leben verwehrt war. Er wollte sich nicht demselben, nicht enden wollenden Martyrium unterwerfen wie sein Vater. Er hatte auf einmal Zukunftspläne und darin spielte der Wald keine Rolle. Auch nicht die Schweine.

Warum soll dieser Wanderer, kein reicher Mann dem Anschein nach, ein so luxuriöses Kleidungsstück besitzen und ich nicht?, fragte er sich. Ist er denn besser als ich?

Und in dieser Nacht schwor er sich, dass er eines Tages einen Umhang aus Jocastar besitzen würde, und zwar mit allem Drum und Dran …

Bovrik schüttelte seine Träumereien ab. Die Ironie der Situation, dass er nämlich nur wenige Meilen von dem Ort, wo er als einfacher Bauernsohn geboren war, ein so nobles Leben führte, ließ ihn immer wieder schmunzeln.

Er sprühte einen Hauch seines Lieblingsparfüms in die Luft, ging rasch durch die Zitronenduftwolke und wandte sich dann wieder seinem Kästchen mit den Glasaugen zu, um eins für den Tag zu wählen.

»Eene, meene, muh,

Lord M find’ bald wohl Ruh,

Und der neue Lord bist du,

Eene, meene, muh.«

Nachdem er das entsprechende Glasauge glücklich gefunden hatte, nahm er seine mit Tee gefüllte Tasse. Die Teeblätter dieser Sorte, Lady Mandibles Lieblingstee, stammten von seltenen Teesträuchern, die nur an geheimen Orten im Orient wuchsen, und wurden in Ellbogenhöhe mit der Hand gepflückt. Bovrik prostete der Luft zu.

»Hoch sollst du leben, Augustus Fitzbaudly«, sagte er. »Ohne dich wäre ich nicht so weit gekommen.«

Nun, wo blieb denn der Junge? Bovrik hatte eine Besorgung zu erledigen, und er genoss es sehr, Bedienstete zu haben, die er herumkommandieren konnte.

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