Kapitel 22

Eine reizvolle Bitte

Es war früher Abend. Hector saß in seinem kahlen Zimmer und war mit Mörser und Stößel beschäftigt. Seit dem widerwärtigen Anblick der Blutegel waren erst wenige Tage vergangen. Auch wenn ihm die Sache nicht aus dem Kopf ging und er sie wohl nie verstehen würde, so würde er sich deshalb auf keinen Fall von seinem eigentlichen Vorhaben abbringen lassen. Das schuldete er seinem Vater.

Nun, wo das Fest unmittelbar bevorstand, hing eine Atmosphäre tiefer Erregung und Vorfreude in jedem Raum und jedem Gang, was Hectors eigene Ungewissheit nur noch steigerte.

Hector sah hinaus in die Dunkelheit und stellte überrascht fest, dass im Gebäude gegenüber ein Licht flackerte.

Das muss in dem anderen Turm sein, dachte er, aber der steht doch leer …

»Master Hector?«

Die Stimme kam vom Treppenabsatz direkt vor seinem Zimmer, doch Hector wusste sofort, wer es war. Es gab nur einen einzigen Menschen in Withypitts Hall, der die steinerne Treppe zu seinem Zimmer so lautlos heraufkam: der unergründliche Gerulphus.

»Herein«, rief Hector, und schon erschien der knochendürre Diener in der Tür. Das Kerzenlicht schien die Schatten unter seinen Augen und seine eingefallenen Wangen zu vertiefen. Wer weiß, hätte Hector ihn nicht gekannt, hätte er ihn wahrscheinlich für einen Geist gehalten.

»Lady Mandible wünscht dich zu sehen.« Gerulphus warf einen Blick auf den Mörser. »Für die Schmetterlinge?«

»Äh … ja«, sagte Hector und deckte ein Tuch darüber.

»Macht es Flecken? Ich sehe, du trägst Handschuhe.«

»Ja, es färbt«, sagte Hector, streifte die Handschuhe ab und ließ sie mit der Innenseite nach außen liegen. Er band seine Ärmelumschläge, die er vorhin geöffnet hatte, zu und strich sich mit den Fingern durch das Haar. Dann verließ er das Zimmer und sperrte die Tür ab.

Gerulphus schritt zügig voran. Wie gewöhnlich verursachte er kein Geräusch, Hector dagegen war sich sehr bewusst, wie laut seine eigenen Lederabsätze über den schwarz-weißen Marmorboden der Eingangshalle klackerten. Endlich blieb Gerulphus vor einer wuchtigen Flügeltür aus Ebenholz stehen, die zu Lady Mandibles Suite führte, und bedeutete Hector, draußen zu warten. Kaum hatte sich die Tür ganz geschlossen, legte Hector ein Ohr gegen das glänzende Holz. Er konnte aber kein Wort verstehen und wurde auch noch beim Lauschen ertappt, als Gerulphus die Tür plötzlich wieder öffnete. Der Diener führte ihn ins Zimmer.

Hector fand sich in einem düsteren großen Raum mit hoher Decke und wartete einen Moment, bis seine Augen sich an das Halbdunkel gewöhnt hatten. An den Wänden ringsum standen Bücherregale und dazwischen in gewölbten Nischen schwarze Marmorstatuen unterschiedlichster Gestalten, von dicken Kobolden, die mit gekreuzten Beinen dasaßen, bis zu Büsten alter Griechen. Das einzige Licht kam von etlichen polierten mehrarmigen Leuchtern auf der anderen Seite des Raums.

»Hector?«

Lady Mandible stand am Kamin. Diesmal war sie von Kopf bis Fuß in purpurroten Samt gekleidet, und auf ihr Haar hatte sie so viel Puder aufgetragen, dass es weiß schimmerte. Große Juwelen an ihrem Hals, an Handgelenken und Fingerringen funkelten im Feuerschein. Mit ihren lackierten Krallen winkte sie Hector heran.

Sein Fuß versank bei jedem Schritt im tiefen Flor des Teppichs. Inzwischen hatte er sich dem Kamin so weit genähert, dass er schon die Hitze des Feuers spürte, da sah er etwas, das ihn wie angewurzelt stehen bleiben ließ.

Es verschlug ihm den Atem und er brachte weiter nichts über die Lippen als ein gehauchtes »Oh!«. Denn was er dort an der Wand über dem Kaminsims sah, war die gesamte Schmetterlingssammlung seines Vaters!

»Wie um alles in der Welt …«, flüsterte er und fuhr instinktiv mit der Hand zu dem Kokon, den er stets um den Hals trug.

»Wunderschön, nicht wahr?«, sagte Lady Mandible mit einer Stimme, weich wie Seide. Als sie Hector ihre Hand auf die Schulter legte, meinte er ihre Kälte sogar durch Weste und Hemd zu spüren.

»Ich glaube, die Sammlung gehörte einem Gentleman, der in Schwierigkeiten geraten ist«, fuhr sie fort. »Bovrik hat sie in der Stadt für mich aufgetrieben. Und kaum hatte er mir davon erzählt, kam mir eine Idee, wie ich das Mittwinterfest in diesem Jahr zu etwas ganz Besonderem machen könnte.«

Hector dachte an die Kiste, die Bovrik in der Kanzlei Badlesmire und Leavelund abgeholt hatte. Was für eine Wendung des Schicksals, dachte er. Er konnte kaum glauben, dass es nicht nur irgendwelche Schmetterlinge waren – das geliebte Hobby seines Vaters –, die ihn hierher gebracht und ihm die Ausarbeitung seines Racheplans überhaupt erst ermöglicht hatten, sondern dass es sogar Vaters ureigenste Schmetterlingssammlung war. Wenn das nichts zu bedeuten hatte!

»Auf diese Art Schmetterlinge zu sammeln, nennt man Lepidopterologie«, sagte Hector gelassen. »Von dem griechischen Wort lepidos, Fischschuppe; wegen der Schuppen auf den Flügeln der Schmetterlinge. Sie reflektieren das Licht und geben ihnen dadurch Farbe.«

Lady Mandible musterte ihn. »Du überraschst mich schon wieder mit deinem Wissen, junger Hector.« Indem sie einen spitzen Fingernagel in seinen Rücken bohrte, dirigierte sie ihn entschieden zu einem Sessel und setzte sich ihm gegenüber. »Und wie steht’s mit meinen Schmetterlingen? Du weißt, ich verlasse mich auf dich, denn es soll, wie gesagt, ein unvergessliches Fest werden.«

»Sie werden rechtzeitig schlüpfen.« Hector schauderte unter ihrem durchdringenden, fast hypnotischen Blick. Er wurde das Gefühl nicht los, dass sie viel mehr über ihn wusste, als er ihr je erzählt hatte. Aber das war nur so eine dumme Idee …

»Doch nicht deshalb habe ich dich rufen lassen. Von den Bediensteten habe ich erfahren, dass du allerhand Rätsel kennst.« Sie lächelte huldvoll. »Nun, du sollst mir eins aufschreiben. Es muss ein kluges Rätsel sein, doch das dürfte dir wohl kaum Schwierigkeiten bereiten.«

Ohne dass er es verhindern konnte, fühlte sich Hector für einen Augenblick geschmeichelt.

»Das ist leicht, Mylady.« Er überlegte eine Weile, dann nahm er die Feder und das dicke cremeweiße Papier, das sie ihm über den kleinen Tisch entgegenschob. Schnell schrieb er eines seiner Lieblingsrätsel nieder und gab sich dabei besondere Mühe mit seiner Schrift. Es würde ganz bestimmt Eindruck auf sie machen. Dann faltete er das Blatt zusammen und gab es zurück.

Lysandra erhob sich, ein Hinweis, dass es für Hector Zeit war, sich zu entfernen. Sie wandte sich von ihm ab, entfaltete den Bogen Papier und begann zu lesen.

Auf dem Rückweg meinte Hector, draußen eine Stimme rufen zu hören. Er trat ans nächste Fenster, und als er hinausblickte, sah er unten im dunklen, verschneiten Hof eine Gestalt stehen. Lord Mandible! Die Art, wie er sein Bein nachzog, war unverkennbar. Hector lauschte angestrengt, und schließlich konnte er ein einzelnes Wort ausmachen, das wieder und wieder gerufen wurde.

»Posset! Posset!«

Zum hundertsten Mal seit seiner Ankunft in Withypitts Hall schüttelte er ungläubig den Kopf. Was für ein seltsames Haus!

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