Kapitel 28

Aus einem

Brief an Polly

Withypitts Hall

Liebe Polly,

könntest Du doch bloß meine Schmetterlinge sehen! Sie sind einfach wunderschön.

Das letzte Mal habe ich Dir geschrieben, dass der richtige Zeitpunkt nun gekommen ist. Nach dem Brief an Dich ging ich ins Incunabulorum und schloss die Fenster und die Tür fest zu. Ich entzündete die Lämpchen unter den Behältern und schürte das Feuer. Und wartete. Als die Temperatur stieg, ging ich von einem Glasbehälter zum nächsten und schaute nach Lebenszeichen – eine schwache Bewegung, ein geplatzter Kokon. Die Nacht zog sich hin. Ich legte immer wieder Holzscheite nach und sah zu, wie das Thermoskop stieg …

Und dann geschah es. In der dunkelsten Stunde, kurz vor der Morgendämmerung, fing einer der Kokons an, sich zu bewegen. Zuerst nur ganz sachte – ich meinte schon, ich hätte es mir eingebildet –, aber nach ein paar Minuten war es eindeutig. Nach und nach platzte ein Kokon nach dem andern am oberen Ende auf und die Schmetterlinge schlüpften aus.

Polly, diese Schmetterlinge sind meine ganze Hoffnung und noch mehr. Groß sind sie, geradezu majestätisch, in den Farben des Regenbogens, prachtvoll anzusehen … und dann sind da noch meine ganz speziellen …

Hector legte die Feder nieder und gähnte herzhaft. Ein Tintenklecks tropfte auf den Schreibtisch und wurde im Nu von der Ärmelmanschette an Hectors grauem Hemd aufgesogen. Es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren, wenn er so viele Stunden auf Trab sein musste und so viel zu bedenken hatte. Draußen schwand jetzt schnell das Tageslicht, wieder ging ein Tag zu Ende und gleich würde das Fest beginnen. Auf dem Bett lag seine fertig gepackte Tasche, daneben ein Lederbeutel, schwer mit Münzen gefüllt. Auch wenn Lord Mandible in mancherlei Beziehung vielleicht sonderbar war, so hatte er sich doch immerhin dankbar und großzügig gezeigt. Nach der Episode mit dem Fremden im Turm, als er auf ihn zugekommen war und ihn um Hilfe bei der Jagd gebeten hatte, war Hector schnell einverstanden gewesen – er konnte das Geld zu gut gebrauchen, um Nein zu sagen.

Der Plan hatte dann auch wirklich wie am Schnürchen geklappt! Als Hector, wie angewiesen, heute frühmorgens in den Wald gekommen war, hatte sich dank der raffiniert ausgelegten Eichel- und Pilzspur ein großes, vollgefressenes und unglaublich schläfriges Borstenrückenschwein im Dickicht gefangen. (Vielleicht war es sogar dasselbe, dessen Bekanntschaft zu machen er schon einmal das Vergnügen gehabt hatte.) Dann, als die Jagdgesellschaft angeritten kam, hatte Hector das Tier freigelassen. Wie geplant, war es ihm auch gelungen, fast genau im selben Moment auf das Schwein zu schießen wie Lord Mandible. Als es unerwartet weiterrannte, hatte Hector sogar einen zweiten Schuss abgegeben. Beide Male dachten die Jäger, Mandibles eigene Waffe habe das Tier zur Strecke gebracht. Es hätte also nicht besser klappen können.

Allerdings hatte Hector nicht damit gerechnet, selbst eine Verletzung davonzutragen. Der Schrei nämlich, den die Jagdgesellschaft gehört hatte, stammte nicht von dem Schwein, sondern von Hector. Aber er hatte Glück im Unglück. Es war nur ein Streifschuss an der Wange, den er Mandibles vorbeifliegender Gewehrkugel verdankte. Trotzdem fühlte er sich immer noch ein wenig schwindlig. Er zuckte zusammen, als er an die Wunde fasste, aber dann wog er noch einmal die Börse in der Hand: Dafür hatte sich die kleine Unannehmlichkeit gelohnt. Dieses Geld sowie der mysteriöse Ring, den er im Wald neben den Giftpilzen gefunden hatte, würden ihm bestimmt weiterhelfen. Denn wenn er Withypitts Hall erst verlassen hätte, was bliebe ihm schon außer der Befriedigung, sich letzten Endes gerächt zu haben? Nur der Inhalt seiner Tasche: ein paar Bücher, ein paar Kleider und die nicht abgeschickten Briefe. Er hatte vor, zuerst nach Urbs Umida zu gehen und seinen Vater in einem besseren Grab bestatten zu lassen. Dann würde er Polly besuchen, doch danach würde das Schicksal über seine Zukunft entscheiden.

Er zog ein Paar Handschuhe an. Auf dem Boden in der Ecke des Raumes stand ein einzelner Glaskasten, in dem zwanzig frisch geschlüpfte Exemplare der Gattung Pulvis funestus saßen, alle schwarz wie die Nacht. Mit anmutigen Bewegungen nippten sie von dem Sirup, der in Schälchen vor ihnen stand. Hector griff nach dem Mörser, der neben dem Glasgefäß lag, und nahm den Deckel des Kastens ab.

»So«, flüsterte er, »jetzt haltet schön still.«

Kurz darauf begann Hector, die großen, leuchtend bunten Schmetterlinge rasch in Kartons umzusetzen, damit Lady Mandible sie rechtzeitig vor dem Fest begutachten konnte. In dem warmen, stickigen Raum trieb ihm die Anstrengung schon bald den Schweiß aus allen Poren – wahrscheinlich mehr noch aber die Angst. Der Augenblick der Wahrheit rückte näher.

Nachdem die Insekten sich an dem Sirup gütlich getan hatten, waren sie langsam und schwerfällig und ließen sich leicht einfangen. Es dauerte nicht lange und Hector lud die Kartons einen nach dem anderen auf einen niedrigen Servierwagen. Gerade hob er den letzten auf den Wagen, da klopfte es an der Tür. Als er öffnete, stand Gerulphus draußen, um ihn zu Bovrik und Lady Mandible zu bringen. Zum letzten Mal, hoffte Hector.

Bovrik wartete bereits vor Lady Mandibles Gemächern und ging – mit einer seiner schlichteren Augenklappen ausstaffiert – vor der wuchtigen Flügeltür auf und ab. Als er Hector sah, runzelte er die Stirn. »Äändlich«, sagte er, hob einen der Schmetterlingskartons an, blickte kurz hinein und bedeutete Hector, ihm zu folgen.

Lady Mandible wartete in ihrem Zimmer auf sie, gepudert, geschminkt, das Haar nach der Mode der Zeit frisiert, wenn auch ganz besonders hoch aufgetürmt. Sie trug ein erstaunlich schmuckloses Kleid. Hector vermutete, dass sie sich noch nicht für das Fest angekleidet hatte.

»Eure Schmetterlinge«, sagte Bovrik und reichte ihr mit großer Geste einen der Kartons. »Das Schlöpfen ist sähr erfolgreich verlaufen, wenn ich das so sagen darf.«

Lady Mandible schlug die Klappen des Kartons ein wenig zurück und wäre beinahe aufgesprungen vor Freude.

»Oh, sie sind vollkommen!«, sagte sie und ein böses Lächeln huschte über ihr Gesicht. »So riesengroß, so prächtige Farben!« Sie sah ausdrücklich zu Hector hin. »Du hast hervorragende Arbeit geleistet!«

Hector lächelte wachsam. Er würde sich nicht noch einmal in etwas hineinziehen lassen. Der Baron dagegen legte die Stirn in Falten, machte einen Schritt auf Ihre Ladyship zu und lächelte angestrengt.

»Wonach riecht es denn hier?«, fragte Lysandra.

Bovrik strahlte. »Mein Parföm«, erklärte er. »Där Duftstoff der Pflanze Lippia citriodora. Ich habe mich für heute Abend extra stark parfömiert.« Ermutigt von ihrem Interesse an seiner Person, fuhr er fort: »Wollt Ihr mir jetzt nicht sagen, Euer Ladyship, was Ihr bei dem Fest mit den Schmetterlingen vorhabt? Und habe ich eigentlich schon erwähnt, dass auch ich eine Öberraschung habe? Eine Öberraschung, von der ich zu hoffen wage, dass sie Eure Zostimmung finden wird …«

Lysandra hörte kaum hin. Zu sehr war sie damit beschäftigt, unter leisen kosenden Lauten die Schmetterlinge in ihrem Karton zu betrachten.

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