Kapitel 29
Das Festmahl beginnt
Den ganzen Tag über fuhren Kolonnen von Kutschen den Felsenhügel nach Withypitts Hall hinauf. Sie beförderten die Angehörigen der selbst ernannten Elite von Urbs Umida, manch einer stand höher in der gesellschaftlichen Hierarchie als der andere, doch alle waren mit reichlich Geld oder Landbesitz ausgestattet.
Erstaunlicherweise – oder vielleicht auch wieder nicht, da Unzufriedenheit nun mal der Fluch der gut Situierten ist – ertönten aus diesen Kutschen zahlreiche Beschwerden: über den Zustand der Straße, die weite Anreise, das Wetter und dergleichen mehr. Und dann waren da natürlich die ständig geäußerten Sorgen, man könnte bei der Sitzordnung eventuell benachteiligt werden oder eine bestimmte Person könnte anwesend oder nicht anwesend sein.
Vor den Toren von Withypitts Hall standen Wächter, prachtvoll anzusehen in ihren Uniformen in den Farben der Mandibles, einem eher grellen Gelb und einem leuchtenden Grün. Die mit Blattgold geränderten Einladungskarten wurden vorgezeigt, und nach sorgfältiger Prüfung – Fälschungen waren durchaus nichts Unbekanntes – wurden die Gäste durchgewunken.
Beim Aussteigen warfen die Damen verstohlene Blicke hinter ihren Fächern hervor auf die Festkleidung von Bekannten aus den nächsten vorfahrenden Kutschen und konstatierten, dass sie selbst besser gekleidet seien. Sie wussten allerdings, dass keine von ihnen hoffen durfte, Lady Mandible zu übertrumpfen. Allein der Versuch wäre unverzeihlich gewesen! Was die Männer betraf, so waren sie nicht weniger eitel. Sie beherrschten bis zur Vollendung die Kunst, die Kleidung eines anderen sofort und mit einem einzigen raschen Augenaufschlag zu beurteilen (begonnen wurde dabei stets mit den Schuhen). Die Männer standen in Konkurrenz zu Baron Bovrik de Vandolin.
Um Punkt sieben Uhr saßen alle an der großen Tafel, nur die Gastgeber fehlten noch. Aber was machte das schon! Der honigsüße Wein floss bereits üppig, und als die Uhr halb acht schlug, waren die Zungen gelöst, die Augen glänzten, hier und da ertönte schrilles Gelächter, und von Tischmanieren war nicht mehr viel zu bemerken. »Aaaah« und »Oooh« wurde gerufen, während man das Herrenhaus und die anderen Gäste bewunderte. Der Tisch, der gefährlich überladen war, ächzte unter der Last der Speisen, der silbernen Schalen und überreichlich aufgelegten Bestecke. Überreichlich deshalb, weil, je öfter die Gläser erhoben wurden, man sich umso weniger mit Messer und Gabel aufhielt und stattdessen die Finger zum Essen bevorzugte.
Die Feiernden, jeder einzelne von ihnen, aßen, als gäbe es kein Morgen. Was für ein Festmahl! Was für ein Bursche, dieser Trimalchio! Kaum war ein Krug Wein oder eine Platte mit Speisen herangeschafft, war beides geleert, und man forderte Nachschub. Über die ganze Länge der Tafel sah man offene Münder und fettglänzende bekleckerte Kinne, und die geplagten Diener wurden hier am Ärmel gefasst und dort an der Weste gezerrt, bis ihnen die Kleidung sozusagen in Fetzen am Leibe hing.
Hector hielt sich zurück und beobachtete die Szene als Außenstehender. Er konnte es sich nicht verkneifen, das Ergebnis so vieler Vorbereitungen zu betrachten, bevor er Withypitts Hall für immer verlassen würde. Und dann war da natürlich die Sache mit seinen Schmetterlingen. Er beobachtete die Gäste beim Essen, Hand zum Teller zum Mund, Hand zum Teller zum Mund, eine endlose Wiederholung. Haselmausschwänzchen hingen von ihren Lippen herab (anscheinend eine besondere Köstlichkeit); ganze Sperlinge verschwanden in den aufgerissenen Mündern, Pflaumen und Kirschen wurden in Mengen hinterhergeschoben, bis der Saft in alle Richtungen spritzte. Das war kein Hunger, das war die reine Gefräßigkeit.
Hector mochte nicht länger zuschauen. Als er sich abwandte, entdeckte er Bovrik, der sich am Ende der Tafel herumdrückte und aussah, als fühle er sich ausgesprochen unwohl. Wie erwartet, fiel er in seiner Aufmachung sofort ins Auge, er war in Mitternachtsblau mit Apricot- und Violetttönen erschienen. Hector wunderte sich nur, dass er eine Augenklappe trug. Er hatte gedacht, an einem Abend wie diesem würde er eines seiner glitzernden Glasaugen vorführen. Sein Händeringen und ständiges Gezupfe an den Ärmelaufschlägen machten Hector selber ganz nervös und so entschied er sich für das kleinere der beiden Übel und schaute wieder auf die lange Tafel.
Unten in der Küche, die inzwischen an eine dampfende Hölle denken ließ, schuftete Mrs Malherbe mit ihrer Truppe. Alle Augenblicke kam ein Diener im Eilschritt herein und verlangte mehr Essen, mehr Getränke, mehr von allem. Man konnte sich kaum rühren zwischen den Bergen von Speisen – toten und lebenden –, die auf jeder freien Fläche aufgebaut waren. Und all die zusätzlich umherrennenden Helfer! Und der Lärm! Befehle, oft genug widersprüchliche, wurden gebrüllt, Töpfe und Pfannen schepperten, Essen schwappte über, und ordinäre Sprüche schwirrten durch die Luft.
»Adelige nennen die sich«, brummte Mrs Malherbe und bearbeitete den Teig für die nächste Pastete. »Wie die Tiere sind sie. Und was haben sie zu dem heutigen Abend beigetragen? Nichts! Aber die ganz gewöhnlichen Leute, die Bauern und Jäger und Schäfer, die für all das Essen hier gesorgt haben, wo sind sie, frage ich euch?«
Oben hatten die Gäste inzwischen eine Verschnaufpause nach dem reichlichen Essen eingelegt – es war nur der erste Gang gewesen. Da ertönten Fanfaren und die Türen zum großen Saal öffneten sich.
»Man erhebe sich für Seine Lordschaft Burleigh Mandible und seine wunderschöne Gemahlin, Lady Lysandra Mandible«, kam die Aufforderung, und alle standen mühsam von ihren Stühlen auf, rülpsend und mit Knöpfen kämpfend, ihre Gläser und Weinkelche in Händen.
Lysandra trat als Erste ein und augenblicklich ging ein Raunen durch den Saal. Kein Zweifel, sie war wunderschön anzusehen in ihrem cremefarbenen Kleid mit den funkelnden Diamanten und schimmernden Perlen. Trotzdem war es erstaunlich schlicht. Die Damen, die etwas weit Aufwendigeres erwartet hatten, reagierten spürbar enttäuscht. Alles hatte darauf hingedeutet, dass ihre Garderobe einzigartig in ihrer Pracht sein werde … Konnte das nun wirklich alles sein? Nach diesem ganzen Wirbel?
Scheinbar unbeeindruckt von dieser Wirkung, begrüßte Lady Mandible ihre Gäste mit einem Nicken und einem schwachen Lächeln, dann nahm sie ihren Platz in der Mitte der Tafel auf einem der erwähnten thronartigen Sessel ein, die sie speziell für diesen Anlass bestellt hatte. Alle Blicke richteten sich nun wieder auf die Tür, in Erwartung ihres Gemahls. Und ausnahmsweise enttäuschte er einmal nicht. Im Gegenteil, an diesem Abend stellte Lord Mandible seine Frau sogar in den Schatten.
Und wie gelang ihm das? Was war so großartig an seinem Auftritt? Lag es daran, dass er zu Pferd in den Speisesaal kam? Natürlich trug das dazu bei, die Aufmerksamkeit der Gäste auf sich zu ziehen. Oder war es vielleicht seine Aufmachung? Er hatte sich nämlich für das Kostüm eines urzeitlichen Jägers entschieden und trug ein mächtiges Bärenfell um die Schultern und einen gehörnten Helm auf dem Kopf.
Am Ende war es nichts von alledem, was ihm so große Aufmerksamkeit verschaffte, am Ende war es das, was ihm auf dem Fuß folgte: ein Borstenrückenschwein auf einer Silberplatte – das größte, das man je gesehen hatte –, von sechs Dienern hoch über ihren Köpfen getragen. Bei seinem Anblick erhielt Lord Mandible stehende Ovationen. Eine Reaktion, die gewiss gerechtfertigt war. Das Schwein, dessen Kruste vom Braten noch zischte und brutzelte und von Honig glänzte, lag auf einem Bett aus goldfarbenen Efeublättern. Ein verblüffter Ausdruck stand auf seinem länglichen Gesicht, als wundere es sich noch im Tode, dass es hier gelandet war. Auf den Spitzen seiner unteren, gekrümmten Reißzähne steckte je ein großer goldgelber Apfel (Lord Mandibles Idee) und auf dem Kopf hatte es eine glitzernde Tiara (ebenfalls Mandibles Idee). An seinen Seiten hatte man gebratene Ferkel angerichtet mit lebenden Drosseln in den Mäulern, die nun ihrem Gefängnis entflohen, zur Speisesaaldecke emporflatterten und sich dort niederließen. Einige Gäste wirkten darüber ein wenig irritiert, besonders dann, wenn sie ab und zu einem überraschenden Spritzer ausweichen mussten. Doch sich zu beschweren wagte keiner.
Die Diener setzten die Platte vorsichtig auf einem bereitgestellten Ständer am Ende der Tafel ab, wo sie von allen gesehen wurde. Lord Mandible stieg vom Pferd und nahm auf dem Thronsessel neben seiner Frau Platz. Wieder wurde gejubelt und applaudiert, und es herrschte allgemeiner Lärm, bis er mit erhobener Hand um Aufmerksamkeit bat. Es war bekannt, dass Lord Mandible in der Vergangenheit das Mittwinterfest eher als lästige Pflicht aufgefasst hatte, aber sein Sieg über das Borstenrückenschwein hatte seine Einstellung sichtlich verändert – er wollte anscheinend eine Rede halten.
Hector entging jedoch nicht, dass Lady Mandible das Ganze schweigend beobachtete. Das war ganz und gar nicht typisch für sie und Hector wurde misstrauisch. Wo blieben die Schmetterlinge? Seine gereizten Nerven konnten die Spannung kaum mehr ertragen. Es wurde Zeit, dass sie damit herausrückte.
»Meine lieben Gäste«, verkündete Lord Mandible, »es ist mir ein großes Vergnügen, euch alle zum diesjährigen Mittwinterfest in Withypitts Hall zu begrüßen. Ein noch größeres Vergnügen ist es mir allerdings, euch heute Abend das schönste Exemplar eines Borstenrückenschweins präsentieren zu können, das man je gesehen hat. Ich habe es eigenhändig erlegt.« Ein großes Hurra erscholl, man stieß Kelche und Gläser aneinander, und es dauerte mehrere Minuten, bevor es wieder so still war, dass Mandible weitersprechen konnte.
»Nun denn«, rief er zuletzt mit leuchtenden Augen, »lasst uns das Festmahl beginnen!«
Und sie legten los, als hätten sie gerade eine monatelange Hungersnot hinter sich. Das Schwein wurde zerlegt und schon bald hörte man im ganzen Speisesaal nur noch Kauen, Nagen und Schmatzen. Das Fleisch war in der Mitte noch nicht richtig durchgebraten, da man das Schwein erst so spät am Tag gebracht hatte, aber die Gäste bemerkten es gar nicht. Weitere Platten wurden aufgetragen, von sonderbaren Fischgerichten bis hin zu hoch aufgetürmten Bergen von Törtchen und Honigkuchen. Als Lord Mandible aufstand und an seinen Weinkelch klopfte, um die Gäste um ihre Aufmerksamkeit zu bitten, war es längst nicht mehr der Tisch, der ächzte, sondern es waren die Feiernden, die an ihm saßen. Die überfressenen Zuhörer lehnten sich mit glänzenden Gesichtern und fettigen Lippen zurück, versuchten, die Blicke aus ihren blutunterlaufenen Augen auf Lord Mandible zu richten, und bohrten dabei mit silbernen Zahnstochern zwischen den Zähnen herum. Lady Mandible schien ein kurzes Lächeln in die Runde zu schicken, das man vielleicht als liebenswürdig hätte interpretieren können, aber es konnte ebenso gut nur ein Zucken gewesen sein. Hector war die ganze Vorstellung zutiefst zuwider.
Aus den Augenwinkeln sah er mehrere Diener, die am Ende des Raumes gerade eine Trennwand zur Seite schoben. Dahinter wurde Lord Mandibles Instrument sichtbar. Doch was war das auf dem Boden neben den Pedalen? Die Diener, die zu dicht davor waren und ohnehin ganz mit dem Instrument beschäftigt, achteten nicht auf das, was neben ihren Füßen lag. Langsam und unauffällig ging Hector hinüber. Der Gegenstand kam ihm in Umriss und Farbe bekannt vor. »Oh nein«!, murmelte er mit einem flauen Gefühl in der Magengegend, denn das sonderbare Bündel auf dem Fußboden war nichts anderes als Percy, Mandibles zweite Katze!
Und sie war so tot wie das Borstenrückenschwein.
»Tartari flammis!«, flüsterte Hector, bückte sich rasch und hob die Katze auf, gerade als Mandibles Ankündigung durch die stickige, schwere Luft tönte.
»Lysandra zu Ehren werde ich nun eine Melodie spielen, die ich selbst für das Cembalo komponiert habe, das nämliche Instrument, auf dem mein armer Vater mir früher vorzuspielen pflegte. Den Text dazu habe ich bereits vor einer Weile verfasst, in der Hoffnung, dass dieser Tag kommen werde.«
Hector stand wie gelähmt. Er konnte es schlecht geschehen lassen, dass Mandible ausgerechnet jetzt seine geliebte Katze tot vorfände. Heute und hier war weder die Zeit noch der Ort für eine solche Enthüllung. Blitzschnell stopfte Hector die noch warme Katze vorn in seine Weste und schnallte den Gürtel so eng, dass sie nicht herausfallen konnte. Später würde er eine Gelegenheit suchen müssen, das Tier loszuwerden. Er drückte sich gegen die Vorhänge, als Lord Mandible nun humpelnd und mit raschelnder Hose herankam und sich vor dem Cembalo niederließ. Eine komische Figur stellte er dar in seinem Bärenfell und dem gehörnten Helm, der inzwischen leicht verrutscht war, doch an solchen Kleinigkeiten stießen sich seine Gäste längst nicht mehr. Er fing an zu spielen und zu singen – jedenfalls bemühte er sich darum.
»An einem kalten Morgen,
Da holt’ ich mein Gewehr.
Mein Diener fragt: ›Zur Jagd, Mylord?‹
Ich sag: ›Ich wart nicht mehr.
Gesattelt bring mein Pferd herbei
Und ruf meinen treuen Hund,
Erfüllen soll sich heut mein Schwur,
Den ich schon längst tat kund!‹
So ritt ich von früh bis abends,
So ritt ich am nächsten Tag,
Und als zum zweiten Mal es dämmert’,
Ein Grunzen ich hört aus dem Hag.
Schon bricht hervor der Unhold
Mit boshaftem Blick, die Hauer voran;
Er stürmt auf mich los, sein Geifer spritzt –
Da leg die Muskete ich an.
Ein Schuss – verwundet ist das Tier,
Ein zweiter und tot stürzt es hin.
Sein Fleisch soll gebraten uns schmecken,
Seine Seele zur Höll’ fahren hin!«
Er schloss mit einem herrlich schrägen Dreiklang und einer steifen Verbeugung. Ungläubig schüttelte Hector den Kopf, als der Saal von Jubelrufen und Applaus bebte. Vier volle Minuten dauerte es, bevor sich Seine Lordschaft setzen konnte. Doch nun erhob sich Lady Mandible von ihrem Thronsitz und sofort kehrte wieder Stille ein.
»Auch ich habe etwas für Euch, mein teurer Gatte. Gleich bin ich zurück«, sagte sie geheimnisvoll lächelnd und rauschte aus dem Saal.