Kapitel 13
Eine beschwerliche Reise
Die Sonne stand schon tief am Himmel, als Hector vor dem Flinken Finger stand und vor Kälte mit den Füßen stampfte und die Hände aneinanderrieb. Die Leute sagten, es würde ein schlimmer Winter werden. Noch heute sprachen sie von dem Winter damals, als der Foedus zugefroren war. Auch Hector erinnerte sich daran. Er war fünf Jahre alt gewesen, und sein Vater hatte ihn mitgenommen, um ihm das Eis zu zeigen. Er hatte gedacht, der Fluss würde weiß aussehen, stattdessen war das gefrorene Wasser grau gewesen. Findige Händler hatten auf dem Eis ihre Buden aufgebaut, Feuer brannten, Kastanien wurden geröstet und überall war es laut und fröhlich zugegangen. Natürlich wäre Hector zu gern aufs Eis gegangen, doch da sein Vater es nicht erlauben wollte, hatte er das geschäftige Treiben nur vom Ufer aus beobachten können. Noch heute sah er den Gesichtsausdruck seines Vaters vor sich, mit dem er das Hin und Her der Leute betrachtet hatte. Hector hatte dabei das sonderbare Gefühl gehabt, der Vater wäre selber gern dort unten bei den anderen gewesen.
Von Hufgeklapper und Räderrasseln wurde Hector jäh aus seinen Gedanken gerissen. Eine Kutsche fuhr vor.
»’ector?«, rief der Fahrer. »Nach Withypitts?«
»Ja, das bin ich«, sagte Hector.
»Ich bin Solomon«, sagte der Kutscher und musterte Hector. Die Kleidung des Jungen war zerschlissen, ja, aber wie er sprach, einerseits wie ein gebürtiger Südstädter, andererseits auch wieder nicht, und wie er auftrat … Wenn’s auch auf den ersten Blick nicht so aussieht, dachte der Kutscher Solomon, mit diesem dunkeläugigen Jungen muss es was Besonderes auf sich haben. Warum sonst sollte ein Baron eine Kutsche für ihn schicken?
»Wie lange wird die Fahrt dauern?«, fragte Hector, während er einstieg.
»Oooch«, sagte Solomon, runzelte die Stirn und sog Luft durch die Zähne ein. »Kommt aufs Wetter an, weißt du, auf die Straßen. Hat ziemlich viel geregnet in letzter Zeit, kann auch sein, es schneit bald. Ich denke, wir machen unterwegs Rast, ich kenn da einen kleinen Ort in den Bergen, ein Dorf, dann kommt einem die Fahrt kürzer vor, obwohl … noch ein bisschen später im Jahr und der Weg dorthin ist unpassierbar wegen dem Schnee.«
»Also dann«, sagte Hector, schlug die Tür zu und machte es sich auf dem Sitz bequem. Er hörte das Knallen der Peitsche, es gab einen Ruck, und schon rollte er auf der Straße davon, weg von Urbs Umida, von Polly und Lottie und von seinem Vater.
Es war keine komfortable Fahrt; die Sitze waren eindeutig weniger gut gepolstert als die, die er einmal gekannt hatte. Doch nachdem er in letzter Zeit erfahren hatte, dass man sich an fast alles gewöhnen konnte, fand er sich damit ab. Ihm war, als ließe er hier nicht nur ein, sondern zwei Leben zurück, das im Süden und das im Norden.
Bald verschluckte der Abend das Tageslicht und Hector zog den Vorhang der Kutsche zu. Seine Gedanken wanderten zu Bovrik, und mörderische Pläne, die sein Herz rasen ließen, drängten sich ihm auf. Doch durch zusammengebissene Zähne lächelte er. Die Ironie der Situation entging ihm nicht. Dieser janusköpfige Schwindler, dachte er grimmig, führt tatsächlich sein eigenes Ende herbei, indem er mich zu sich einlädt.
Inzwischen stieg die Straße an und die Temperaturen sanken. Hector zog den Umhang seines Vaters enger um sich und kapitulierte vor der Müdigkeit, die schon den ganzen Tag in ihm war.
Ein Ruck, der ihm alle Knochen durcheinanderschüttelte, weckte ihn aus tiefem Schlaf und warf ihn zu Boden. »Tartari flammis!«, rief er aus, setzte sich wieder und schlang die Arme um seinen Körper – nur damit ein weiterer heftiger Stoß ihn noch einmal vom Sitz riss. Die Befürchtung des Kutschers war nur zu begründet: Die letzten Stürme hatten verheerende Schäden auf den Straßen angerichtet.
Plötzlich gab es einen dumpfen Schlag, einen ohrenbetäubenden Krach und gleich darauf ein scheußlich knirschendes Geräusch. Die Kutsche machte einen scharfen Linksschwenk, stürzte um und blieb auf der Seite liegen. Als alles still war, mühte sich Hector auf die Beine, zitternd, aber unverletzt. Er barg seine Tasche und kroch aus der Tür, die jetzt über seinem Kopf war. Solomon stand fluchend und schimpfend am Straßenrand.
»Wir haben ein Rad verloren«, sagte er, während er die Pferde ausschirrte. »Aber das Dorf ist nicht mehr weit, nur noch ein kleines Stück bergauf. Da können wir die Kutsche reparieren lassen, bevor wir weiterfahren.«
So kam es, dass im unheimlichen Schein des fast vollen Mondes, begleitet vom rhythmischen Klappern der Pferdehufe, Hector und Solomon nebeneinander den steilen Hang hinaufritten. Bald konnten sie die Lichter des Dorfes erkennen, und am Straßenrand sah Hector einen großen flachseitigen Stein mit den eingemeißelten Worten Pagus Parvus.
»Pagus Parvus«, murmelte er. »Kleines Dorf.« Sein Lehrer für alte Sprachen hätte sich über seine Kenntnisse gefreut.
»Hier kriegen wir Hilfe«, sagte Solomon und seine Stimme klang erleichtert. »Und auch was Warmes zu essen.«
Hector blickte die mondbeschienene Straße hinauf. Der Hang war hier so steil, dass ein Weiterkommen schier unmöglich schien. Er stellte sich vor, wie die Dorfbewohner sich an den Fenstersimsen der Häuser entlanghangeln mussten, nur um sicher vom einen zum anderen Dorfende zu gelangen. Vor einer Wirtschaft stiegen sie ab – sie hieß Zur Blauen Forelle – und übergaben die Pferde der Obhut eines Jungen, der angerannt kam, sobald er sie gehört hatte. Hector folgte Solomon in den Gastraum, aus dem ihnen Gelächter und ein Schwall warmer Luft entgegenschlugen. Als der Wirt sie sah, war er gerade dabei, ein Glas hinter dem Tresen zu polieren – wenigstens wischte er daran herum. »Solomon!«, rief er aus. »Willkommen, Sir!«
»Benjamin Tup!«, erwiderte Solomon den Gruß. Er ging auf die Theke zu, erklärte kurz, wie es um die Kutsche stand, und sofort organisierte Benjamin ein paar Männer, die hinausgehen und sie instand setzen sollten. »Womit kann ich dienen?«, fragte er die beiden dann.
»Bier für mich und den jungen ’ector hier«, sagte Solomon. »Und wenn Ihr schon dabei seid, Kartoffeleintopf mit Gemüse und Fleisch.«
Solomon nahm sein Bier und steuerte einen Tisch an der Wand an, wobei etwas aus seinem übervollen Krug auf den mit Sägemehl bestreuten Boden schwappte. Er schien ein allseits beliebter Gast zu sein und wurde von links und rechts herzlich gegrüßt. Hector setzte sich zu ihm, dann kam eine alte Frau an ihren Tisch und begrüßte sie ebenfalls. Sie hatte ein nervöses Zucken, das sie von Zeit zu Zeit zwinkern ließ.
»Na, wohin seid Ihr beide denn unterwegs heut Nacht?«, fragte sie.
»Nach Withypitts Hall«, erklärte Hector.
Er war sich nicht im Klaren, ob er nun besonders laut gesprochen oder ob er vielleicht zufällig einen Augenblick erwischt hatte, wo es gerade besonders still war, jedenfalls legte sich plötzlich Schweigen über den Raum, kaum dass Hector das Ziel genannt hatte.
»Ein ungewöhnlicher Ort für einen jungen Burschen«, bemerkte die alte Frau.
»Ich hoffe, dass Lady Mandible mich für das Mittwinterfest anstellt«, erklärte Hector. »Aber was ist so ungewöhnlich an Withypitts Hall?«
»Am Herrenhaus selbst weniger«, sagte Benjamin und lehnte sich mit verschränkten Armen auf die Theke. »Eher an den Bewohnern! Ein Kommen und Gehen ist das da! Die Lieferungen für Lady Mandible werden ja immer durch unser Dorf transportiert, und ich sag dir, so was hast du noch nicht gesehen. Einmal ist eine Kiste vom Wagen gefallen und auseinandergebrochen und der Inhalt lag überall auf der Straße verstreut. Kleine Statuetten und Figuren von abscheulichen Monstern. Ausgestopfte Tiere – ich kannte nicht mal ihre Namen – und Knochen, große und kleine. Da fragt man sich doch, wozu braucht eine Lady so absonderliche Dinge?«
Alle, die zugehört hatten, nickten zustimmend.
»Nach Withypitts willst du, ja?«, sagte ein Mann, der aus dem Halbdunkel getreten war. »Ich werd dir eine Geschichte erzählen, danach wirst du dir’s vielleicht zweimal überlegen.«
»Na schön«, nickte Hector. »Aber ich sage Euch gleich, so leicht lasse ich mich nicht von meinem Vorsatz abbringen.«
Ebenso wenig schien sich der Mann vom Erzählen abhalten zu lassen. Er setzte sich an den Tisch und begann.
»Mein Name ist Oscar Carpue. Auch ich stamme aus Urbs Umida, und in ebendieser Stadt geschah es, dass man mir einen Mord anhängen wollte, den ich nicht begangen hatte – mein eigener Schwiegervater hatte mich beschuldigt! Ich konnte es nicht riskieren, zu warten, bis die Wachtmeister eintreffen würden. Ich war ein armer Mann, mein Schwiegervater war reich. Welche Aussicht hätte für mich bestanden, meine Unschuld zu beweisen? Ich machte mich also davon, ließ meinen Sohn Pin allein zurück und kam nach Pagus Parvus. Sobald ich es wagen konnte, kehrte ich zurück, um meinen Jungen zu suchen, aber da war er nicht mehr in unserer ehemaligen Wohnung. Ich habe ihn immer noch nicht gefunden.
Und was Withypitts Hall angeht, so zieht mich dort erst recht nichts mehr hin. Wir Dorfbewohner achten wenig darauf, was da oben so vor sich geht. Aber wir hatten gehört, dass Lord Mandibles Sohn heiraten wollte, und nicht lange danach, dass der alte Lord gestorben sei. Vor Kurzem erreichten uns dann Gerüchte über einen einäugigen Mann, der von Lady Mandible angestellt worden war. Und als vor ein paar Wochen eine schwarz glänzende Kutsche mit scharlachroten Jalousien und drei berittenen Bediensteten in unser Dorf kam, wussten wir, dass dies der berüchtigte Baron Bovrik de Vandolin sein musste.
Er war auf der Suche nach einem Tischler, und weil das mein Gewerbe ist, ging ich mit nach Withypitts. Das Herrenhaus ist bizarr anzuschauen, aus riesigen dunklen Steinquadern aus den Bergen erbaut und mit reichlich Steinmetzarbeiten verziert. Wenn man lange genug hinsieht, erkennt man überall in den gemeißelten Ornamenten und Wasserspeiern schauerliche Wesen: wilde Greife und abscheuliche Monster. In den Pfeilern des Vordachs verbergen sich Eidechsen und Schlangen zwischen den gemeißelten Blütenschnörkeln der Kapitelle. Man hat das Gefühl, als ob man ständig beobachtet wird.
Ich fing mit meiner Arbeit gleich im großen Speisesaal an und richtete ihn für das Mittwinterfest her. Meine Aufgaben waren unkompliziert: die holzgetäfelten Wände reparieren, lockere Dielenbretter befestigen, wackelnde Stühle standfest machen. In der Zeit, die ich dort verbrachte, habe ich kaum eine Menschenseele gesehen, aber oft hörte ich über dem Lärm von Drehbank und Hammer Lord Mandible am Cembalo spielen und seine zwei Katzen dazu miauen.
Eines Abends, kurz nach dem zehnten Schlag, hörte ich ein großes Spektakel von irgendwo aus dem Haus. Ich bin so neugierig wie andere auch, also legte ich mein Werkzeug weg und ging dem Lärm nach bis in die Eingangshalle, wo sich mir ein ganz und gar befremdlicher Anblick bot. Eine Gruppe von Männern, der Kleidung nach Jäger, stand über irgendein Tier gebeugt, das auf dem Marmorboden lag. Es war groß und dunkelhaarig, hatte vier Gliedmaßen – meiner Ansicht nach Beine und Arme, ähnlich wie ein Affe – und einen enorm großen Schädel. Es verströmte einen beißenden Geruch nach verwesendem Fleisch, als ob es schon tot wäre. Aber während ich so hinsah, merkte ich, dass sich seine Brust hob und senkte. Plötzlich bewegte es sich und da stach ihm einer der Jäger einen Dolch bis zum Griff in die Seite. Das Tier stöhnte auf und drehte den Kopf – und ich schwöre, dass es mir in diesem Moment direkt in die Augen sah! Was das für ein Gefühl war, kann ich dir noch heute nicht beschreiben.
Aus der Unterhaltung schloss ich, dass man das Tier im nahen Eichenwald gefangen hatte. Die Männer dachten erst, sie wären hinter einem Borstenrückenschwein her. Erst als sie darauf geschossen und es verletzt hatten, erkannten sie, dass sie etwas ganz anderes vor sich hatten. Ich wollte gerade hingehen und dem Tier zu einer bequemeren Lage verhelfen, da tauchten plötzlich Bovrik und Lady Mandible auf.
›Es könnte von wissenschaftlichem Interesse sein‹, sagte einer der Jäger.
›Wir sollten es am Leben lassen‹, meinte ein anderer, ›und zur Untersuchung in die Stadt bringen.‹
›Oder an eine Monsterschau verkaufen‹, schlug ein dritter vor.
Lady Mandibles Miene schien auszudrücken, dass sie nicht viel von all diesen Vorschlägen hielt. ›Wenn es im Wald gefangen wurde, gehört es mir‹, sagte sie. ›Also werde ich über sein Schicksal entscheiden.‹ Und etwas in ihrem Ton und in der Art, wie Bovrik die Lippen zu einem höhnischen Lächeln verzog, jagte mir einen Schauder über den Rücken. Und bevor man mich entdecken konnte, schlich ich davon.
Ich beendete meine Arbeit so schnell wie möglich. Ich wollte jetzt nur noch weg und eine Woche später holte ich mir mein Geld und verabschiedete mich. Auf dem Nachhauseweg kam mir ein großer Wagen entgegen, der eine Holzkiste auf seiner Ladefläche transportierte. Als er über ein Schlagloch rumpelte, konnte er ein Umkippen zwar gerade noch verhindern, aber die Kiste kam ins Rutschen, und dabei brach eine Seitenwand auf. Der Fahrer fluchte lautstark und sprang ab, um seine Ladung wieder zu befestigen.
›Für das Herrenhaus?‹, fragte ich, während ich hinging, um zu helfen.
›Ja‹, antwortete er. ›Und Lady Mandible wird ganz schön wütend sein, falls was kaputtgegangen ist.‹
Nach allem, was ich von der Dame gehört und gesehen hatte, war ich neugierig geworden auf den Inhalt der Kiste und zog das zerbrochene Seitenteil vollends weg, um einen Blick hineinzuwerfen. Hätte ich gewusst, was ich darin sehen würde, hätte ich darauf verzichtet.
Auf den ersten Blick konnte ich nur einen Sessel erkennen. Aber ich merkte schnell, dass es kein gewöhnlicher Sessel war.
Es war dieses sonderbare Tier – verarbeitet zu einem Sessel!
Die Armlehnen bestanden aus den Armen des Tieres, seine Hände – denn Pranken waren es nicht – krümmten sich um die Enden. Die Beine des Tieres bildeten die Sesselbeine und seine Füße die Sesselfüße. Die Haut des Tieres spannte sich über die Sitzfläche, die Rückenlehne hinauf und auf der anderen Seite wieder hinab. Das schwarze Fell glänzte und war nach einer Richtung gebürstet. Als ich schließlich sogar den Dolcheinschnitt erkannte, war auch mein letzter Zweifel zerstreut. Vor Schreck und Abscheu konnte ich kaum atmen, und im Stillen dankte ich dem Herrn, dass wenigstens der Kopf nicht dabei war, denn das hätte mein revoltierender Magen nicht mitgemacht. Später erfuhr ich, dass man den Schädel als Trophäe aufgehängt hatte.
Ich werde nie vergessen, wie mich dieses Tier angeblickt hat, als es sterbend auf dem Boden lag. Denn wenn es auch nicht das Gesicht eines Menschen war, so war sein Blick doch auch nicht der eines Tieres, das schwöre ich.«