Kapitel 10
Teufelsschweiß
Lottie Fitch, die in der Küche saß, legte das Blatt mit dem Aufruf zur Seite und nahm sich einen Augenblick Zeit für sich selbst. Sie spürte – am stärksten morgens – immer wieder heftiges Verlangen nach dem Gin, der sie so viele Jahre lang beherrscht hatte, doch dann faltete sie die Hände und betete mit ganzer Inbrunst um die Kraft, dem Verlangen zu widerstehen. Tastend fuhr sie mit der Zunge durch ihren Mund, über die Zähne und die Lücken dazwischen. Sie dachte an Hector und seine schönen Zähne, und ein trauriges Lächeln stahl sich auf ihre Lippen.
Seit Hectors Ankunft vor fast zwei Monaten musste Lottie wieder mehr an ihren eigenen Sohn denken. Ludlow. Damals, als sie ihn zum letzten Mal gesehen hatte, musste er ungefähr so alt wie Hector gewesen sein. Ihr neu entdecktes Gewissen plagte sie, wenn sie daran dachte, wie grausam Ned und sie ihn damals vertrieben hatten. Sie konnte dem Jungen kaum einen Vorwurf machen, dass er weggelaufen war.
Sie waren völlig ungeeignete Eltern gewesen. So vieles aus Lotties früherem Leben stand nur noch in verschwommenen Bildern vor ihren Augen – es machte ihr sogar Mühe, sich genau vorzustellen, wie Ludlow aussah. Er hatte doch braune Augen? Oder waren sie grün? Sie konnte ja Ned fragen. Nein, er würde es wahrscheinlich auch nicht wissen. Wenn schon Lotties Verstand ziemlich verwirrt war, stand es mit seinem zehnmal schlimmer. In all den Jahren hatte er sie beim Trinken stets überboten, so viel stand fest.
Die meiste Zeit ihres Lebens hatte sich Lottie, wie viele Urbs Umidaner, wenig für Gott und seine geheimnisvollen Wege interessiert. Aber jene Winternacht, damals, als ihre andere Hälfte (weder die bessere noch die schlechtere) Ned in den Foedus fiel, wurde für beide zum Wendepunkt in ihrem Leben. Es hatte geschneit, und sie waren an diesem Abend nur deshalb zum Fluss gekommen, weil sie hinter ihrem Sohn Ludlow herjagten. Um die Wahrheit zu sagen, sie hatten versucht, seine Zähne zu verkaufen. Natürlich wollte sich Ludlow nicht fangen lassen, und zwar nicht nur deshalb, weil sich die Zähne noch in seinem Mund befanden, sondern auch, weil er sich keinen Illusionen hingab, welchen Stellenwert er in der Liebe seiner Eltern einnahm: Er rangierte irgendwo hinter Gin und Geld. Die Verfolgungsjagd gipfelte schließlich in Ludlows Kampf um sein Leben, den er mit seinem Vater am Flussufer austrug. Ned verlor den Halt und stürzte in den Fluss, Ludlow entkam.
Kaum war Neds Kopf untergetaucht, hatte Lottie zwar erwartungsgemäß gejammert und geklagt, sich ansonsten aber recht schnell mit seinem Ableben abgefunden. Zum Glück für Ned hatten sich auf den ganzen Tumult hin Leute um die Unglücksstelle versammelt, und, man sollte es kaum glauben, einer hatte ein Seil dabeigehabt. Er warf es Ned zu, dem es allerdings eher zufällig als mit gezielter Anstrengung gelang, danach zu greifen. So wurde er ans Ufer gezogen.
»Ich kann meine Beine nicht mehr spüren!«, hatte er gestöhnt, während man ihn die Böschung hinaufschleifte. Lottie, die ihm nicht glaubte, trat hart gegen sein Schienbein, aber er zuckte tatsächlich nicht mit der Wimper. Höchstwahrscheinlich waren seine Beine im eiskalten Wasser gefühllos geworden, doch das erklärte nicht, warum er seit diesem Tag keinen Schritt mehr gelaufen war. Lottie war enttäuscht über diesen Ausgang, genauer gesagt von Neds Überleben, aber die Rufe aus der versammelten Menge – ›Ein Wunder!‹ und ›Gott sei gelobt!‹ – hatten etwas in ihr ausgelöst. Und in diesem Augenblick hatte sie dort, am verschneiten Ufer des Foedus, ihre erste Vision gehabt.
Vor ihr war, auf Knien liegend, die geisterhafte Gestalt eines kleinen Jungen erschienen, er weinte und suchte mit seinen dürren ausgestreckten Ärmchen im Schnee nach etwas Essbarem. Das hatte Lottie plötzlich zu Tränen gerührt. In Wahrheit war das Kind keine Erscheinung, sondern ein Junge aus Fleisch und Blut, nur ungewöhnlich bleich. Im Gedränge war ihm eine heiße Kastanie zu Boden gefallen, die von den vielen Füßen im Nu zertreten worden war. Dennoch suchte der Kleine weiter im Schnee danach.
Lottie wandte sich ab und sah, wie man Ned zum Flinken Finger, seiner Stammkneipe, schleppte, um ihn mit einem wärmenden Drink vor dem Kamin wieder auf die Beine zu bringen. Als sie sich noch einmal nach dem Jungen umdrehte, war er verschwunden. Sie folgte seinen scheinbar geisterhaften Spuren im Schnee und kam schließlich zur Hookstone Row, fünf oder sechs Straßen vom Fluss entfernt. Die Spuren führten direkt zu einem großen, leer stehenden Haus, in dem überall kleine elternlose Jungen herumliefen. Erst jetzt, als sie in der Tür stand und all die schmutzigen kleinen Gesichter hoffnungsvoll auf sich gerichtet sah, spürte Lottie umso tiefer den eben erlittenen Verlust ihres eigenen Sohnes, und sie gelobte, diesen Unglücklichen hier zu helfen. So kam es zur Gründung von Lottie Fitchs Waisenhaus für ausgesetzte Babys und verlassene Jungen.
Ob nun an diesem Abend göttliches Eingreifen im Spiel war oder nicht, ein Wunder zumindest hatte sich ereignet: Lottie war eine andere geworden. Sie gab von Stund an den Wacholderschnaps auf und stürzte sich in ihre neue Rolle als Mutter der heimatlosen Kinder von Urbs Umida. Ned, dessen Beine immer noch gefühllos waren, wurde im oberen Stock des Hauses untergebracht. Dass er dem Gin ebenfalls entsagt habe, behauptete er nur aus Achtung vor Lottie, in Wahrheit ließ er ihn von seinen vielen Freunden, die ihn in seinem neuen Heim besuchten, einschmuggeln. Was Lottie nich weiß, macht sie nich heiß, dachte er sich, und von da an lebten die Fitchs ganz zufrieden nebeneinanderher, Ned oben und Lottie unten.
Nachdem Lottie ihr Laster aufgegeben hatte, verbrachte sie ihre Zeit größtenteils auf den Straßen, wo sie lauthals die üblen Folgen des Alkohols anprangerte und ihre Aufrufe verteilte. Eines Tages war sie dabei auf Polly gestoßen. Unglücklich und verzweifelt, wie das Mädchen war, stand es gerade vor einer der Ginleitungen und wollte die berauschende Flüssigkeit ausprobieren. Lottie trat dazwischen und stellte das Mädchen als Küchenhilfe im Waisenhaus an.
Als Lottie herausfand, dass Polly Ludlow in Pagus Parvus gekannt hatte, war sie gleichzeitig verblüfft, beunruhigt und erfreut – eine ziemliche Herausforderung für ihr geschrumpftes Hirn. Verblüfft war sie über den Zufall, beunruhigt, dass Ludlow Polly erzählt haben könnte, wie schlecht sie und Ned ihren Sohn behandelt hatten (das hatte er nicht), und erfreut war sie schließlich, dass er gesund und munter war. In einer ihrer vielen täglichen Erscheinungen ließ der gute Herrgott Lottie wissen, dass sie eines Tage wieder zusammenkommen würden. Bis es so weit wäre, wollte sie gern weitermachen wie bisher.
Und so waren inzwischen fast sechs Jahre vergangen.
Lotties Gedanken kehrten zu Hector zurück. Sie fand, er sei ein nützlicher Zuwachs für das Heim, willig, verlässlich und unterhaltsam. Er war anders als die anderen Jungen, das ließ sich nicht leugnen, immerhin kam er aus der Nordstadt. Aber trotz der Unterschiede hatte sich Hector recht schnell eingelebt. Es mochte wohl sein, dass er mit den Fäusten nicht so gut war wie die anderen, doch er hatte bewiesen, dass viele Wege zum Ziel führten. Lottie war auch nicht entgangen, dass Polly den Jungen unter ihre Fittiche genommen hatte.
Sie tauchte aus ihren Tagträumen auf und ging über die Treppe in den oberen Flur, um ihren Umhang vom Nagel zu nehmen. In den Taschen waren lauter Korken (um die Ginleitungen zuzustöpseln) und ihr Beutel war bis oben hin mit Aufrufen gegen den Alkohol vollgestopft. Sie stellte sich gern auf die Brücke und bat um Geld zur Unterstützung für ihre Jungen. Dazu nahm sie immer zwei von den kleineren mit, und zwar die beiden mit den traurigsten Mienen. Einmal hatte sie Hector aufgefordert mitzukommen – Gott weiß, der Junge sah manchmal elend genug aus –, aber er hatte sich geweigert.
»Is einfach zu dünnhäutig, der Junge«, seufzte sie. »Hat den Tod von sein’ Pa so schwergenommen. Aber trotzdem is er ’n Guter.«
Als Lottie die Stufen der Eingangstreppe hinunterging, sah sie eine Gestalt auf der anderen Straßenseite stehen. Sie meinte, der Fremde würde ihr zulächeln, was sich aber bei den vielen Passanten kaum deutlich erkennen ließ. Er hatte einen Beutel über der Schulter und trug einen Hut von ungewöhnlicher Machart. Lottie war sicher, dass es sich um denselben Burschen handelte, der schon gestern und vorgestern da gestanden hatte. Sie zwinkerte und da war er verschwunden.