Kapitel 31
Mit den Wölfen heulen
Hector konnte den qualvollen Anblick nicht länger ertragen. Er riss sich davon los und sah aus den Augenwinkeln zu Bovrik hin. Der schien völlig fasziniert von dem Schmetterlingsumhang und stand stumm und starr wie eine der vielen Statuen, die den Speisesaal schmückten.
Da plötzlich stieß Lord Mandible seinen Sessel zurück und erhob sich. Bleich und schweißüberströmt, sichtlich zitternd fuhr er sich wiederholt mit seinem feuchten Seidentuch über das Gesicht und machte ein paar taumelnde Schritte. Er schien Schmerzen zu haben. Zwei Diener wollten ihm zu Hilfe eilen, aber er schüttelte sie ab. Schwerfällig kam er hinter dem Tisch hervor und stützte sich dabei auf die geschnitzten Rückenlehnen der Stühle. Lady Mandible rührte sich nicht. Mit glitzernden, stahlharten Augen sah sie zu, wie er ihr entgegenkam. Hector und die anderen Gäste im Saal waren vor Schreck wie gelähmt. Inzwischen musste Mandible beide Beine nachziehen, schien aber trotzdem fest entschlossen, weiterzugehen. Sein Blick war auf seine Frau gerichtet. »Lysandra«, keuchte er, als er schließlich neben ihr stand, »ich fühle mich nicht wohl. Hilf mir.« Dann griff er verzweifelt an seine zugeschnürte Kehle, stöhnte einmal auf und stürzte leblos auf den Marmorboden.
Die Stille wurde von einem einsamen Schluckauf unterbrochen, der von der Tafel kam. Lysandra warf einen Blick auf den Körper ihres Mannes und sank dann mit ziemlich theatralischer Pose in Gerulphus’ Arme, der gerade in der Nähe stand.
»Ruft den Hausarzt!«, befahl der Diener gebieterisch. »Schafft Wasser heran!«
Mit trüben Augen sahen die betrunkenen Feiernden zu, wie die Diener hierhin und dorthin rannten. Man hatte Lady Mandible zu ihrem Thronsessel gebracht, wo einer der Diener sie mit Riechsalz belebte und ein anderer ihr Luft zufächelte. Ein dritter schwenkte eine angesengte Feder unter ihrer Nase. Ihr Umhang war um sie herumdrapiert, und nach und nach, während immer mehr der aufgesteckten Schmetterlinge zerquetscht wurden und starben, verblich auch seine schreckliche Schönheit.
Der Arzt war rasch zur Stelle. Er hatte keinen weiten Weg, er saß nur etwas weiter unten an der Tafel und war eingeschlafen (von ihm war der einsame Schluckauf gekommen).
Unsicher kniete er neben dem reglosen Körper nieder und verkündete ängstlich: »Lord Mandible ist tot.«
Bovrik reagierte als Erster. Mit drei raschen Schritten war der falsche Baron bei Lady Mandible, stieß die Diener beiseite und riss mit einer schwungvollen Bewegung seine Augenklappe herunter. So dringend wollte er sein neues Auge vorführen, dass er den Kopf weit nach hinten kippte, und als sich dabei das Licht in den Diamanten brach, sah es aus, als wäre sein ganzer Kopf plötzlich von einem funkelnden Kranz umgeben. Die in der Nähe Sitzenden erhoben gar die Hände, um ihre Augen vor dem Glanz zu schützen. Selbst Hector, der in einiger Entfernung stand, musste blinzeln.
»Lysandra«, sagte Bovrik schließlich, »habt keine Angst. Euer Gatte mag tot sein, aber Ihr seid trotzdem nicht allein.« Er tippte mit dem Zeigefinger an sein Auge. »Säht her«, sagte er. »Mein neues Auge. Es ist für Euch, Lysandra; betrachtet es als Geschenk. Beeindrockend, findet Ihr nicht? Auch ich kann etwas darstellen. Bin ich Eurer nicht wördig? Gemeinsam könnten wir …«
Da erhob Lady Mandible die Hand und schlug Bovrik hart ins Gesicht. Es traf ihn wie aus heiterem Himmel, er verlor die Balance und taumelte seitwärts. Gleichzeitig flog etwas Glitzerndes durch die Luft und landete auf dem Boden. Sämtliche Blicke folgten der Kugel, die über die Marmorfliesen rollte und schließlich neben dem Fuß des toten Lord Mandible liegen blieb: Bovriks goldenes, von Juwelen übersätes Auge.
Auf Lady Mandibles Wangen war die Farbe zurückgekehrt, ihre Augen blitzten. Sie stand auf. »Lord Mandible tot?«, rief sie. »Nur wie? Noch vor wenigen Augenblicken war er bei bester Gesundheit!« Sie wandte sich mit einem übertrieben entsetzten Gesichtsausdruck an Bovrik. »Und habe ich Euch recht verstanden? Sagtet Ihr tatsächlich, Ihr wollt in die Fußstapfen meines toten Gemahls treten? Und das wenige Augenblicke nach seinem Hinscheiden? Ihr unverschämter, diebischer Schuft, Ihr!«
Bovrik ließ sich auf die Knie nieder und kroch auf allen vieren umher, auf der Suche nach seinem wertvollen Auge. Rasch wischte er es ab und schob es wieder in die leere Augenhöhle. Er rappelte sich auf. »Nein, nein«, versuchte er zu protestieren. »Ich meinte doch nor…« Er stockte. Niemand hörte ihm zu. Alle hatten sich Lady Mandible zugewandt. Ein fast unmerkliches Lächeln erschien auf ihren Lippen, und bei diesem Lächeln begriff Bovrik auf einmal, dass hier etwas Schreckliches vor sich ging.
»Ich frage mich, Baron«, überlegte Lysandra kalt und für jeden deutlich zu hören, »ob vielleicht Ihr etwas mit dem Tod meines Mannes zu tun habt.«
»Es könnte sich um einen Fall von Vergiftung handeln«, sagte der Doktor hilfsbereit. »Die Lippen Seiner Lordschaft sind ganz blau.«
Gift! Mord! Der Baron? Die Gäste rangen hörbar nach Luft.
Hector aber konnte nur ungläubig den Kopf schütteln. War Bovrik deshalb nachts im Haus umhergeschlichen? Um den Mord an Lord Mandible zu planen? Warum war er nicht längst auf diesen Gedanken gekommen? Doch selbst wenn, hätte es einen Unterschied gemacht? Hätte er etwa versucht, es zu verhindern? Hector war verwirrt. Das waren Fragen, die er nicht beantworten konnte. Seine Gedanken verloren sich in einem Nebel.
Inzwischen war Bovrik alle Farbe aus dem Gesicht gewichen, weil ihm allmählich die ganze schreckliche Wendung der Dinge dämmerte. »Lady Mandible«, flüsterte er, »Ihr wärdet doch gewiss nicht glauben … gewiss wärdet Ihr mich doch nicht bescholdigen …«
»Sein Tod käme Euch jedenfalls nicht ungelegen, nicht wahr, Baron?«, zischte sie.
Bovrik ließ den Blick durch den Saal wandern, er sah die geröteten Gesichter, die jede seiner Bewegungen beobachteten, die Diener, denen er das Leben zur Hölle gemacht hatte, Lady Mandible, die sich gegen ihn gewandt hatte, und da begriff er, dass er keine Chance mehr hatte. Mit einem Schrei wie von einem verwundeten Tier drehte er sich um und floh.
Langsam und mit der Unterstützung eines Dieners ging Lysandra auf Lord Mandibles Leiche zu. »Oh, mein Lieber«, seufzte sie mit einem kaum wahrnehmbaren Schluchzer, »was soll ich nur ohne Euch anfangen?«
Hector warf einen letzten Blick auf die Gäste ringsum – und sah bei keinem von ihnen echtes Leid oder Bedauern. Fast drehte sich ihm der Magen um und er empfand nur noch tiefen Ekel und Abscheu vor sich selbst.
»Ich bin zum Wolf geworden«, flüsterte er verzweifelt. Er meinte, er würde jeden Moment zusammenbrechen. War es wirklich schon zu spät? Ein schwacher Hoffnungsschimmer flackerte in ihm auf. Vielleicht doch nicht, dachte er. Aber ehe er irgendetwas tun konnte, hörte man aus dem Flur auf der anderen Seite des Speisesaals herangaloppierende Hufe und ein tiefes, kehliges Grunzen, das Splittern von Glas und Geschirr und gellende Schreckensschreie. Die ganze Tafelrunde wandte ihre Blicke von Lysandra und dem regungslosen Mandible ab, um dem Getöse vor der Tür zu lauschen.
Aber nicht was sie hörten, versetzte sie in Angst und Schrecken, sondern was sie nun sahen: Ein mit kräftigen Hauern bewehrtes Ungetüm von enormen Ausmaßen stürmte in den Saal und kam auf dem glatten Marmorboden rutschend zum Stehen. Zum zweiten Mal in seinem Leben sah sich Hector den schmalen gelben Augen eines Borstenrückenschweins gegenüber. Und anders als das Schwein auf der Silberplatte war dieses hier höchst lebendig.
Keiner rührte sich. Die Bestie kam langsam auf den Tisch zu, schwer atmend, den Kopf nach links und rechts werfend, und schließlich fiel sein Blick auf das verwüstete Skelett des gebratenen Schweins. Da stieß es einen gequälten Schrei aus, so anhaltend und schrill, dass der Kristallkronleuchter zersplitterte und wie Hagel auf die stocksteif an der Tafel sitzenden Gäste herabprasselte. Und dann ging das Schwein zum Angriff über.
Bevor Hector aus dem Speisesaal rannte, sah er noch Gerulphus, der sich zwischen Lady Mandible und das heranstürmende Schwein warf.