Kapitel 6
Brief an Polly
Withypitts Hall
Liebe Polly,
ich habe Dir in der ersten Zeit in Fitchs Waisenhaus nicht viel von mir erzählt, aber Du hast geahnt, dass nicht alles so war, wie es aussah. Im Lauf der Wochen hast Du Dich als gute Freundin erwiesen. Du hast mir zugehört, wenn ich reden wollte, und hast keine Fragen gestellt, wenn ich nicht reden wollte. Deshalb will ich nun Deine Freundschaft mit der Wahrheit vergelten und Dir genau erzählen, wie es kam, dass ich im Waisenhaus gelandet bin.
Es war der Tag, an dem Gulliver Truepin in unserem Leben auftauchte, der alles veränderte. Ich erinnere mich nur zu gut an diesen Abend, als er meinem Vater mit seinen Drohungen zusetzte. Hinterher kam Papa zu mir in mein Zimmer. Er blieb in der Tür stehen – er sah aus, als sei er in einer Stunde um Jahre gealtert.
»Kommt wieder alles in Ordnung?«, fragte ich.
Er setzte sich auf das Bett und sah mich fest an. Vielleicht ahnte er, dass ich gelauscht hatte.
»Hector, manchmal muss ein Mensch Dinge tun, die abscheulich sind. Auch das ist Teil der Lebensreise. Ich bereue meine Vergangenheit, aber ich dachte, ich hätte sie hinter mir gelassen. Der Mann, der heute Abend hier war, Gulliver Truepin, ist ein Parasit. Er lebt vom Unglück anderer. Doch was geschehen ist, ist geschehen. Meine Sorge gilt nun einzig dir. Es ist meine Pflicht, dafür zu sorgen, dass meine Verfehlungen nicht deinem Erfolg und Glück im Wege stehen. Was ich aufgebaut habe, habe ich für dich aufgebaut.«
»Ich weiß«, sagte ich.
Danach hat sich unser Leben für immer verändert.
Noch ein Wort zur sogenannten Ganovenehre: Truepin, der meinen Vater erpresst und sein Geld genommen hat, verkaufte seine Geschichte trotzdem dem Nordstadt-Journal. Ich wette, sie haben gut gezahlt dafür, denn in Urbs Umida findet schon der leiseste Hauch eines Skandals höchste Beachtung. Innerhalb von Tagen brachte jedes Nachrichtenblättchen der Stadt die Geschichte von Vaters zweifelhaften Geschäften mit billigem Gin und von seinem anschließenden Abstieg. Und obwohl Papa Opfer eines Erpressers und Betrügers geworden war, wurde er als der alleinige Schurke hingestellt.
Es war ein rasanter Niedergang. Wie ein Schneeball, der einen Berghang hinabrollt, nahm der Sturz meines Vaters an Tempo und Ausmaß zu. Niemand wollte mit »derart unmoralischen Menschen« in Verbindung gebracht werden. Aufträge wurden storniert, Schulden eingefordert und wir wurden unserem Schicksal überlassen. Was für eine Heuchelei! Aber so sind die Menschen auf der Nordseite. Wichtig ist nur das Äußere, nicht das, was darunterliegt, und ganz entscheidend ist, dass man sich nie in die Karten schauen lässt. Vater wurde schwermütig und verschanzte sich in seinem Arbeitszimmer. Das Personal verließ uns wie Ratten ein sinkendes Schiff. Viele wurden von unseren Nachbarn eingestellt, Mrs Ecclestope übernahm unsere Köchin – sie hatte schon immer nach deren gestopfter Gans gelechzt. Sogar mein Hauslehrer verschwand und die Tage gehörten uneingeschränkt mir.
Am Ende besaßen wir nichts mehr. Der Verkauf unseres Hauses samt Inventar wurde den bekannten Anwälten und Schuldeneintreibern Badlesmire und Leavelund übertragen. Wie Geier, die sich auf einen Kadaver stürzen, kamen sie daher, und ich musste den ganzen unglückseligen Tag lang zusehen, wie nach und nach unser gesamter Besitz weggeschafft wurde. Vater ertrug es gelassen und mit zusammengepressten Lippen, bis sie in sein Arbeitszimmer kamen und seine Schmetterlingssammlung mitnehmen wollten.
»So, Mr Fitzbaudly«, hörte ich Badlesmire warnend zu ihm sagen. »Macht keine Szene, guter Mann. Dafür habt Ihr keinen Grund.«
Und ehe ich es verhindern konnte, hatte sich Vater auf ihn gestürzt, um ihm einen der Schaukästen aus der Hand zu reißen. Als ich versuchte, meinen Vater zurückzuziehen, fiel der Kasten zu Boden und zerbrach. Die farbenprächtigen Flügel des Riesenschmetterlings – es war der, den Papa mir erst vor ein paar Tagen so freudestrahlend gezeigt hatte – streiften über die scharfkantigen Glasteile, zerfielen zu Staub und blieben als dunkle Flecken auf dem Teppich zurück.
Am Abend, als die Zimmer leer und die Eindringlinge weg waren, fand ich Papa im ausgeräumten Schmetterlingshaus. Er blickte ausdruckslos vor sich hin.
»Das hat Truepin angerichtet!«, rief ich verbittert. »Wir müssen ihn suchen und vor Gericht bringen wegen seiner lügnerischen und erpresserischen Methoden. Wir müssen Gerechtigkeit bekommen!«
»Er ist längst über alle Berge«, sagte mein Vater. »Er hat, was er haben wollte.« Als er sich umdrehte, sah ich mit Schrecken, wie blass er war, als wäre alles Leben aus ihm gewichen.
»Vielleicht haben die Zeitungen recht«, sagte er ruhig. »Vielleicht verdiene ich das ja tatsächlich.«
»Niemand verdient so etwas«, sagte ich hitzig. »Und wer ist denn Gulliver Truepin, dass er über dich richtet?« Ich ballte die Fäuste. »Ich schwöre dir, wenn ich ihn je finde …«
Papa schüttelte den Kopf. »Nein, Gewalt ist nicht die Antwort.« Er streckte die Hand aus und stützte sich Halt suchend an der Wand ab. »Die beste Rache ist es, solche Methoden nicht nachzuahmen.«
»Wie kannst du so etwas sagen?« Ich konnte nicht anders, ich schrie fast. »Du glaubst doch wohl nicht, dass Truepin straflos davonkommen soll?«
Plötzlich stöhnte Vater auf und drückte die Hand an die Brust, dann brach er auf dem Steinboden zusammen. Ich ging sofort neben ihm in die Hocke und bettete seinen Kopf auf meine Knie. Seine Augen waren weit aufgerissen, sein Körper wurde starr und sein Atem ging rasselnd und ungleichmäßig.
»Hector«, sagte er keuchend, »ich habe immer befürchtet, dass man mein Geheimnis eines Tages aufdecken würde. Nur habe ich nicht geahnt, wie schlimm es kommen könnte. Es tut mir so leid – ich habe einen großen Fehler begangen.«
Ich unterdrückte meine Tränen, schüttelte den Kopf und sagte, das sei doch jetzt nicht wichtig. Seine Haut hatte inzwischen einen leicht grünlichen Schimmer angenommen und seine Lippen waren blau. Mühsam griff er nach meinem Arm und zog mich näher zu sich heran, damit ich hören würde, was er zu sagen hatte.
»Für mich ist es zu spät, aber nicht für dich«, flüsterte er. »Gib auf dich acht. Ich weiß, du bist jetzt wütend, aber vergiss nicht, wenn du mit den Wölfen heulst, wirst du selber zum Wolf. Willst du das wirklich?«
»Ich will nur Gerechtigkeit«, schluchzte ich.
Papa lächelte. »Du wirst das Richtige tun, ich weiß es«, hauchte er. Dann verzerrte sich sein Gesicht. Seine Finger schlossen sich krampfartig um meinen Arm. Er stieß einen langen, tiefen Seufzer aus, sein Griff lockerte sich, und da wusste ich, dass er tot war.
Ich saß im trostlos dunklen Schmetterlingshaus und umklammerte den schwarzen Kokon an meinem Hals, bis meine Fingerknöchel weiß wurden. »Dann eben nicht Gerechtigkeit«, murmelte ich, »sondern Rache.«
Salve,
dein Freund Hector