Kapitel 8
Metamorphose
Hector hatte recht. Während er sich in dem schrankartigen Gelass unter der Treppe einrichtete, stand zur gleichen Zeit sein einäugiger Feind in einer eleganten Pension nördlich des Foedus und betrachtete sich im Spiegel eines sehr viel größeren Zimmers. Wieder lagen auf der Bettdecke – in diesem Haus war sie allerdings aus Seide – eine Anzahl Kleidungsstücke ausgebreitet, nur waren sie diesmal von den besten Schneidern und Ausstattern der Stadt geliefert worden. Westen und Kniehosen, Hemden, Kragen und Manschetten, Strümpfe und Taschentücher – alles, was für die Garderobe eines Gentlemans nötig war. Viele Stücke waren aus Samt, der geradezu danach verlangte, gestreichelt zu werden (was Truepin auch tat), es gab Satin und Seide, Filz und Leinen, alles handgenäht. Und welch herrliche Farben – Scharlach- und Magentarot, Indigoblau und Malvenfarben, Lila und Golden und ein ganz besonders hübsches Olivgrün.
Nachdem Hectors Widersacher eine halbe Stunde damit zugebracht hatte, seine neuen Kleidungsstücke zu befühlen, kleidete er sich in Blau und Scharlachrot. Die Krönung jedoch bildete ein dazu passendes Glasauge. Wieder betrachtete er das auffällige neue Auge, das ihm aus dem Spiegel entgegenstarrte. Es leuchtete hell, saß perfekt, und bei näherem Hinsehen wurde auch deutlich, dass das Funkeln der Pupille von einem kleinen roten Rubin ausging. Er wusste, dass dieses Glasauge – ein erster Erwerb von seinem neuen Reichtum – reiner Luxus war, aber was hatte seine ganze harte Arbeit für einen Zweck, wenn er sich nicht ein wenig verwöhnen konnte? Und dieses Auge sollte nur der Anfang sein. Als Fernziel dachte er an eine ganze Sammlung, ein Auge für jeden Wochentag und zu jeder Ausstattung. Bis dahin würde er sich noch mit seinen neuen, handgenähten Augenklappen behelfen.
»Einen schönen guten Abend, Sir«, sagte er zu dem Mann im Ganzkörperspiegel – er war es natürlich selbst – und verbeugte sich zuvorkommend. Dann richtete er sich auf und musterte kritisch sein Spiegelbild, während er den Samt über seinen Oberschenkeln glatt strich und seinen gerüschten Kragen zurechtzupfte. Er feilte weiter an seinem Auftreten und küsste die Luft an der Stelle, wo sich seiner Schätzung nach die behandschuhte Hand einer knicksenden Dame befinden könnte.
Knicksen? Vor ihm? Oh ja. Man muss wissen, dass dieser Bursche, der hier vor dem Spiegel seine Rolle einstudierte, nicht mehr der betrügerische Erpresser Gulliver Truepin war (wenn auch immer eine Ähnlichkeit bestehen würde, speziell die vorspringende Nase). Nein! Seine äußere Erscheinung hatte Gulliver Truepin zusammen mit seinen Lumpen abgelegt und an seiner Stelle stand nun ein Mann von adeliger Herkunft.
Die Metamorphose war perfekt.
Es war eine arbeitsreiche Woche für Hectors Feind gewesen. Unmittelbar nachdem er Fitzbaudlys Geld eingesteckt hatte (die dreifache Summe, er konnte es kaum glauben!), war er noch einmal in den Flinken Finger gegangen, wo er im Tausch gegen einen ordentlichen Batzen dieses Geldes ein ansehnliches Bündel leicht vergilbter Abstammungsdokumente und Ausweispapiere erhalten hatte. Bei Prüfung besagter Papiere stellte er befriedigt fest, dass alle fehlerlos und im vorgeschriebenen Stil verfasst waren, mit verschnörkelter Schrift in roter und schwarzer Tinte und mit dem amtlich anerkannten hellrosa Band zusammengebunden. Einige der Dokumente waren mit leuchtend rotem Wachs versiegelt. Niemand konnte dem Besitzer solcher Papiere misstrauen.
Der nächste Schritt war gewesen, eine seinem neuen Status entsprechende Bleibe zu finden. Jemand von so hoher Abstammung würde niemals einen Fuß in den südlichen Stadtteil setzen, und so hatte unser Neu-Adeliger sein Gepäck genommen, sich aus der billigen Absteige davongestohlen und war in eine eben vorüberfahrende Kutsche gesprungen. Und auf der kurzen Strecke über die Brücke zur anderen Flussseite ließ er nicht nur Gulliver Truepin zurück – samt einem Schauspieler, der in vielen Verkleidungen agieren konnte –, sondern auch seine Schulden in der Pension, denn getreu seinem Charakter hatte er die Rechnung nicht beglichen.
Nun, eine Woche später, genoss der Betrüger seine vornehme Identität und die komfortable Ausstattung seiner Zimmer. Er war höchst erfreut über seine Verwandlung und konnte den Blick kaum von seinem Spiegelbild wenden.
»Aber welchen Akzent soll ich mir zulegen?«, überlegte er laut, während er sich mit seinem neuen teuren Zitrusduft einsprühte. Er fand, es müsste etwas Exotischeres sein als sonst. Vielleicht sollte er in bestimmten Wörtern das E ein wenig dähnen? Ab und zu vielleicht mal einen Vokal anders aussprechen?
Ein leichter Akzent sollte ja lediglich seine fremdländische Herkunft andeuten, nicht aber ihn irgendwie festlegen. Er besaß andere Eigenschaften, mit denen er die Damenwelt faszinieren würde – und reiche Damen sollten seine bevorzugte Beute werden. (Langeweile und viel Geld waren üblicherweise eine gute Kombination für die Arbeit eines erfahrenen Hochstaplers.) Seine Nase schien im Profil wohl etwas lang, doch von vorn betrachtet war er zweifellos ein ansehnlicher Mann. Und sein fehlendes Auge erregte ohnehin immer viel Mitgefühl.
»Oh nein!«, flötete er mit piepsiger Stimme seinem Spiegelbild entgegen. »Erzählt mir doch, wie es dazu kam!«
Er richtete sich zu voller Größe auf (wobei er von speziell angefertigten Ferseneinlagen unterstützt wurde). Wegen der Narbe über dem einen Auge bewegte sich nur die andere Braue, doch in diesem Fall machte deren Bewegung die Schwäche mehr als wett und strahlte zusammen mit der gerunzelten Stirn Aufrichtigkeit mit einer Spur von Tragik aus.
»Nun, meine Liebe«, sagte er bedeutungsvoll, trat einen Schritt zurück und legte anmutig die Hand an die Hüfte, »das ist eine Geschichte, über die zu sprechen ich zögere … doch wenn Ihr darauf bestäht … Aber sagt sofort, wenn Euch die besonders schrecklichen Stellen meiner Erzählung ängstigen sollten.«
Und wieder probte er seine Geschichte von dem langwierigen Duell wegen eines Ehrenhandels. Ein Duell, aus dem er natürlich als Sieger hervorgegangen war.
Wie so oft war die Wahrheit sehr viel weniger aufregend: Als Bauernjunge, damals noch unter seinem ursprünglichen Namen Jereome bekannt, hatte er es fertiggebracht, über seine Schnürbänder zu stolpern und auf den Stoßzähnen eines wilden Keilers zu landen. Dieser Unglücksfall hatte ihm seine irreparable Augenverletzung eingebracht. Doch eine derart simple Geschichte erschien ihm hier nicht ausreichend. Außerdem, ein Mann, wie er einer zu sein vorgab, würde nie etwas so Gewöhnliches wie Schnürbänder tragen!
Mit einem herzhaften Gähnen streckte sich der gerissene Betrüger, und während er sich auskleidete und dann seine Sachen sorgsam zusammenfaltete und aufräumte, genoss er noch einmal die Berührung jedes einzelnen Teiles. Er zog ein weiches, besticktes Nachthemd und eine Schlafmütze an, er stieg ins Bett, entfernte sein Glasauge und strich zärtlich darüber, bevor er es in einen kleinen Samtbeutel auf dem Nachttisch gleiten ließ.
Aus einer Schublade nahm er das Nordstadt-Journal (auch dort hatte man ihm sehr viel mehr gezahlt als erwartet!). Obwohl der kürzliche Niedergang des Augustus Fitzbaudly noch immer die Schlagzeilen beherrschte, war er mehr an der Spalte mit den Gesellschaftsnachrichten interessiert. Er blätterte, bis er zu einer halbseitigen Abbildung kam, Damen und Herren beim Tanz, und las noch einmal die Bildunterschrift:
»Damen und Herren der Nordstadt von Urbs Umida amüsieren sich auf dem kürzlich abgehaltenen Weinhändler-Ball (sämtliche Weine wurden vom Weinhaus Faulkner in der Vine Street geliefert)«
Mit breitem Grinsen sah er sich das Bild an. Bald werde auch ich dabei sein, dachte er, sehr bald.