Kapitel 23
Verrat
Die Ecken von Withypitts Hall, dessen Grundmauern als Sechseck angelegt waren, wurden von jeweils einem Turm gebildet. Zu einem dieser Türme stieg Hector nun über eine steinerne Wendeltreppe hinauf, genauer gesagt, zu dem Turm, in dem er heute Abend Licht gesehen hatte. Er wollte herausfinden, was es damit auf sich hatte. Beim Aufstieg versuchte er, den Eindruck der sonderbaren Begegnung mit Lady Mandible aus seinen Gedanken zu vertreiben.
Die Stufen schraubten sich an der Innenwand empor und ließen in der Mitte des Turms einen großen, dunklen Abgrund offen. Etwa auf halber Höhe hing an einer langen, starken Kette ein dreireihiger Leuchter, der von der gleichen Art war wie der in Hectors Turm und wie der in dem luxuriöseren und viel weniger verdreckten, den der hinterlistige Baron bewohnte.
Das tägliche Anzünden der dicken Kerzen und Laternen im Herrenhaus gehörte zu den Pflichten des kleinen Küchenjungen. Bis vor Kurzem war er seiner Aufgabe immer gewissenhaft nachgekommen, wenn auch nur mit großem Widerwillen: Er musste sich dabei nämlich mit seinem hakenförmigen Stock oft weit über das schwache gedrechselte Geländer beugen, mit einer Hand den jeweiligen Leuchter heranziehen und gleichzeitig mit der anderen die Kerzendochte anzünden. Und wie bei den meisten Dingen in Withypitts Hall, so hatte Lady Mandible auch bei den Beleuchtungskörpern die teuersten und kunstvollsten anschaffen lassen. Die komplizierte Gestaltung ihrer Kronleuchter und Kandelaber trug allerdings nicht nur zu deren Schönheit, sondern auch zu ihrem Gewicht bei. Nach getaner Arbeit schmerzten dem Jungen vor Anstrengung die Arme, und weil er nicht schwindelfrei war und oft genug um ein Haar abgestürzt wäre, stand ihm gerade jetzt, in den letzten Wochen vor dem Fest, ständig der kalte Schweiß auf der Stirn.
Was der Junge nicht ahnen konnte: Hector hatte seit seiner Ankunft im Haus den Hakenstock mehrmals um ein Stück gekürzt, weshalb sich der kleine Lampenanzünder jedes Mal weiter vorbeugen musste. Vor einigen Tagen nun hatte Hector den Zeitpunkt abgepasst und dem Jungen angeboten, für einen geringen Teil seines Lohnes das Anzünden für ihn zu erledigen. Der Junge war bereitwillig darauf eingegangen. Ein gutes Gefühl hatte Hector nicht bei diesem Täuschungsmanöver, doch er sagte sich, dass er keine Wahl habe, es gehe nun mal um eine größere Sache. Als Lampenanzünder hatte er freien Zutritt zu sämtlichen Gängen und Türmen von Withypitts Hall – eine Möglichkeit, alles im Auge zu behalten, besonders die Zimmer des Barons. Außerdem war das zusätzliche Geld nicht zu verachten, da das Fest und somit Hectors Aufbruch unmittelbar bevorstanden.
So stieg Hector nun auf den verlassenen Turm, Stock und Span als rasche Ausrede bereit, falls ihn jemand hier fände. Am Ende der Treppe war eine Tür mit einem großen Vorhängeschloss am Riegel und einem kleinen verschiebbaren Holzeinsatz in der Füllung. Vorsichtig legte Hector das Ohr an die Tür, konnte aber von drinnen keinen Laut hören. Durch die Ritzen rund um den Holzeinsatz drang jedoch Licht und so holte er tief Luft, bewegte das Schiebeteil leise und behutsam ein Stück zur Seite und linste durch die Öffnung.
Eine Gestalt mit Hut lag auf einem schmalen Bett an der gegenüberliegenden Seite des Raumes, der ansonsten fast kahl war. Der Bursche wirkte erstaunlich unbefangen und hatte die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Nach einer Weile schob er seinen Hut zurück und fing an zu pfeifen, eine Melodie, die Hector wiedererkannte.
Er war verblüfft. Auf einmal wusste er, wer dieser pfeifende junge Mann war: der Fremde, der ihm im Wald das Leben gerettet hatte, derselbe, der ihm aus irgendeinem Grund so bekannt vorkam.
»Holla!«, rief der Mann, der durch den lauten Japser auf Hector aufmerksam geworden war. Er setzte sich auf. »Willkommen vor meinem Gelass.«
»Was machst du denn hier?«, fragte Hector. »Warum bist du eingesperrt?«
»Meine Schuld«, antwortete der fröhliche Kerl. Er erhob sich, kam an die Tür und blinzelte mit seinen grünen Augen durch die Öffnung. »Ich hätte es besser wissen müssen und mich nicht im Wald herumtreiben dürfen. Lord Mandible war gerade auf der Jagd, und als er mich aufgestöbert hat, war er sofort davon überzeugt, dass ich seine Schweine wildere.«
Hector war nahe daran, sich bei dem Fremden zu entschuldigen – aus irgendeinem Grund fühlte er sich für dessen Missgeschick verantwortlich, wenn er auch nicht wusste, warum. »Ich begreife nicht, warum du so vergnügt bist«, sagte Hector schließlich. »Hast du keine Angst? Bist du nicht wenigstens wütend? Willst du denn nicht raus hier?«
»Ich bin sicher, dass sich alles zum Guten wenden wird.« Der junge Mann lächelte geheimnisvoll, dann warf er Hector einen vielsagenden Blick zu. »Ich finde, man lebt besser, wenn man vergeben und vergessen kann, statt dauernd finstere Gedanken auszubrüten. Das süße Gefühl der Rache wird schnell bitter, diese Erfahrung habe ich gemacht, und den Nachgeschmack davon verliert man vielleicht nie wieder.« Er machte eine Pause. »Wenn ich so dein Gesicht betrachte, möchte ich die Vermutung wagen, dass du selber ein Geheimnis mit dir herumschleppst, und ich, nun, ich habe viel Zeit zum Zuhören …«
Hector blieb der Mund offen stehen; was konnte dieser fremde junge Mann über ihn oder seine Vergangenheit wissen? Wie kam er auf derart scharfsinnige Bemerkungen? Doch bevor Hector ein Wort sagen konnte, sprach der Fremde schon weiter. In seiner Stimme schwang Melancholie, aber in seinen Augen lag ein Zwinkern. »Wer weiß, wie lange ich hier aufgehalten werde? Es gibt keinen Weg hinaus, nur durch die verriegelte Tür, durch die ich hereingekommen bin.«
Hector kaute nachdenklich auf der Unterlippe herum, er war sich seiner Dankesschuld diesem unbekümmerten Burschen gegenüber wohl bewusst. Wenn es eine Möglichkeit gäbe, ihn aus diesem erbärmlichen Gefängnis zu befreien, wäre seine Schuld bezahlt. Er blickte kurz auf das unnachgiebige Vorhängeschloss. Selbst wenn er es öffnen könnte, er ginge damit ein gewaltiges Risiko ein … Womöglich würde er seine Chance, sich an Bovrik zu rächen, aufs Spiel setzen, und das durfte er nicht zulassen. »Da kann ich kaum etwas tun«, sagte er und bemühte sich um einen möglichst ruhigen Ton.
Der junge Mann grinste, anscheinend kein bisschen beunruhigt. »Wie gesagt, alles hat seine Zeit – und jetzt ist nicht die richtige.«
Bevor Hector jedoch fragen konnte, was er damit meine, legte der Fremde den Finger an die Lippen. »Schscht!«, machte er. »Da kommt jemand.«
Tatsächlich waren unten an der Treppe Stimmen zu hören. Es dauerte nicht lange, da erschienen Lady Mandible und Bovrik in Begleitung eines Wächters.
Hector zwang sich, ruhig an der Tür stehen zu bleiben, während das Duo näher kam. Außerdem war es nicht möglich, die Treppe hinunterzugehen, wenn zur selben Zeit drei Leute heraufkamen. Der Baron trug an diesem Tag Scharlachrot und Gelb, dazu Schuhe mit Silberschnallen. Eifrig zwirbelte er seinen Schnurrbart. Bei solch auffallendem und übertriebenem Bemühen, sich seiner äußeren Erscheinung zu vergewissern – sie sollte ja seine gefälschte adelige Identität unterstreichen –, hätte Hector gleichzeitig lachen und weinen können. Glaubte Bovrik wirklich, ein echter Baron würde sich derart in den Vordergrund drängen? Es war lachhaft.
»Hector!«, rief Lady Mandible sichtlich erfreut, als sie ihn sah. Der Baron dagegen runzelte finster die Stirn. »Was machst du hier?«
Als Antwort hielt Hector nur seinen Hakenstock hoch.
»In der Tat ein Zufall! Möchtest du nicht sehen, was für eine Verwendung ich für das Rätsel habe, das du mir heute Nachmittag freundlicherweise aufgeschrieben hast?«
»Äh …« Hector war wie vor den Kopf gestoßen.
»Rätsel?«, erkundigte sich Bovrik. »Ich frage mich, was Ihr vorhabt, Mylady. Es öberrascht mich auch, dass Ihr diesen … diesen Dienerjongen an Euren Plänen beteiligt, bevor Ihr mich eingeweiht habt!« Er lächelte, als wäre dies eine scherzhafte Bemerkung gewesen, aber sein Lächeln reichte nicht einmal aus, um seine gelbe Augenklappe zucken zu lassen. Nichtsdestotrotz griff er in die Tasche, förderte einen großen Schlüssel zutage und sperrte das Vorhängeschloss auf. Lady Mandible, deren Augen vor Vorfreude glitzerten, betrat mit dem Baron die Zelle, und Hector schlüpfte hinter ihnen hinein. Der Wächter bezog Posten an der offenen Tür.
Der junge Gefangene saß schweigend auf dem Bett. Hector bewunderte ihn für sein ruhiges Verhalten, aber er hatte ein ungutes Gefühl bei der ganzen Sache.
»Das also ist der onverschämte Wilddieb, den Euer Mann aufgestöbert hat«, konstatierte Bovrik in seinem starken Akzent. »Soll ich veranlassen, dass man ihn nach Orbs Omida ins Irongate-Gefängnis bringt, damit er dort verfaulen kann?«
»Ich bin kein Wilddieb«, sagte der junge Mann. »Ich bin nur zufällig vorbeigekommen.«
Lady Mandible ignorierte beide.
»Junger Mann«, sagte sie stattdessen, »ich habe dir einen Vorschlag zu machen. Es soll nicht heißen, ich gäbe einem Gefangenen nicht eine faire Chance. Ich habe also beschlossen, dass du, falls du folgendes Rätsel lösen kannst, frei bist. Kannst du es nicht … wird deine Bestrafung schrecklich werden.«
Bovrik hob die Augenbrauen, Hector atmete hörbar ein. Hatte er recht gehört? Ein Rätsel? Hatte sie »Rätsel« gesagt? Doch nicht etwa sein Rätsel! Ungläubig sah er zu, wie sie Bovrik ein Blatt Papier reichte, dasselbe Papier, das er der Lady vor kaum einer Stunde selbst gegeben hatte.
»Lest es uns vor, Baron«, befahl sie.
Bovrik grinste den Gefangenen höhnisch an. »Mylady wönscht, dass du dieses Rätsel löst, wenn du deine Freiheit erlangen willst.«
»Schön«, erwiderte der Fremde und stand auf. »Ich mag knifflige Aufgaben.«
Hector bedeckte das Gesicht mit den Händen.
»Hör gut zu«, begann Bovrik. »Ein Mann kommt in ein Land, in däm die Menschen entweder stäts nur lögen oder stäts die Wahrheit sagen. Der Wanderer erreicht eine Weggabelong. Er weiß, dass die eine Straße in giftiges Sompfland föhrt, wo er einen langsamen, qualvollen Tod störbe, wenn er die Ausdönstungen der Sömpfe einatmen mösste; där andere Weg föhrt zu seinem Ziel, einer wonderschönen Stadt. Da es keinen Wegweiser gibt, weiß er nicht, welchen Weg er einschlagen soll. Er setzt sich an die Kreuzung und nach einer Weile kommen zwei Männer die Straße entlang. Einer von ihnen ist ein Ährlicher, der andere ein Lögner, doch der Wanderer weiß nicht, welcher der Ährliche ist. Um den richtigen Weg herauszofinden, darf er nor eine einzige Frage an einen der Männer richten. Er öberlegt einen Moment, dann stellt er eine simple Frage und korz darauf ist er auf dem Wäg zor Stadt.
Das Rätsel ist non«, sagte Bovrik mit einem raschen Blick auf Lady Mandible, die gespannt zugehört hatte, ihre Finger abwechselnd verschränkte und löste und ihre Ringe blitzen ließ. »Wie lautete die Frage und welchen der beiden Männer fragte er?«
Hector schlug das Herz bis zum Hals. Hätte er doch bloß gewusst, was Lady Mandible im Sinn hatte! Aber geschmeichelt von ihrem Interesse und fasziniert von ihrer kalten Schönheit, war es ihm gar nicht eingefallen, nach dem Zweck des Rätsels zu fragen. Stattdessen war er noch stolz darauf gewesen, es so kompliziert wie möglich zu formulieren. Er war benutzt worden! Und nun hatte dieser unschuldige Junge den Schaden. »Wer mit den Wölfen heult, wird selber einer«, murmelte er vor sich hin und dachte wieder an die letzten Worte seines Vaters. Zum ersten Mal kam ihm ein leiser Zweifel. All diese Gedanken, zusammen mit Lady Mandibles selbstgefälliger Miene, die deutlich ausdrückte, wie sehr sie mit diesem geschmacklosen Spielchen ihre Macht auskostete, erfüllten Hector mit Zorn.
Aber da meldete sich der Gefangene zu Wort. »Die Lösung ist einfach, guter Mann«, sagte er mit einer kleinen Verbeugung und einer reichlichen Portion Sarkasmus in der Stimme. Dann gab er die richtige Antwort.
Und noch während er sprach, fiel Hector plötzlich ein, was ihm an dem jungen Mann so bekannt vorkam: seine Stimme. Er war der geheimnisvolle Fremde, der ihm damals auf dem Platz in Urbs Umida ein Rätsel in Reimform gestellt hatte. Hector war fassungslos. Er erinnerte sich jetzt auch an die schemenhafte Gestalt in Pagus Parvus, die ihn so offensichtlich beobachtet hatte. War ihm der Fremde etwa die ganze Zeit gefolgt? So viel konnte ihm doch unmöglich an seiner Antwort auf das Rätsel mit dem klugen Gastwirt liegen? Was führte der Bursche im Schilde?
Als Bovrik auf dem Zettel vor sich die Lösung des Rätsels las, lief er rot an vor Wut. Hector dagegen konnte trotz seiner Betroffenheit über die wiederholten Begegnungen mit diesem Rätsellöser kaum seine Erleichterung verbergen. Dann sah er Lady Mandibles Gesicht, eine ausdruckslose Maske. Würde er nun Ärger bekommen?
Doch als sie seinen Blick auffing, zog sie nur die Schultern hoch und sagte: »Interessant … er ist klüger, als ich dachte.« Sie wandte sich ab und fügte hinzu: »Lasst den Wilderer trotzdem hier.«
Hector schluckte seinen Protest hinunter. Der Gefangene jedoch schien nicht so genau zu wissen, mit wem er es zu tun hatte. »Aber Euer Ladyship«, sagte er ruhig, »ich habe die richtige Antwort gegeben. Ihr habt versprochen, in diesem Fall wäre ich frei.«
»Nun habe ich es mir eben anders überlegt«, sagte Lysandra obenhin, während sie aus dem Turmzimmer rauschte. »Ich kann tun und lassen, was ich will.«
Bovrik folgte ihr auf dem Fuß, wobei er Hector im Vorbeigehen mit einem seiner boshaften Blicke bedachte. Verzweifelt sah Hector den Gefangenen an, ging aber dann ebenfalls hinaus. Nachdem alle die Zelle verlassen hatten, musste er hilflos mit ansehen, wie Bovrik mit sichtlichem Vergnügen die Tür wieder absperrte und den Wächter davor postierte. Nun würde Hector das Geheimnis dieses unerschütterlichen Fremden nie aufdecken können.
Am Fuß der Treppe, als Lady Mandible und der Baron sich bereits entfernt hatten, wurde Hector plötzlich an der Schulter gepackt und herumgerissen – er blickte geradewegs in Lord Mandibles Augen.
»Hector?«, sagte er.
»Ja.«
»Ich habe einen Auftrag für dich.«