6.

Lane Chapman wohnte in einem großen Haus mit drei Schlafzimmern oben auf dem Hügel, oberhalb der eingeebneten Ruinen des alten Dorfes der Anasazi-Indianer. Das Haus war modern, ganz aus Holz und Glas und mit verwinkelten Ecken, und das Innere sah aus, als stammte es aus einer Architekturzeitschrift: weiße Brücken auf weißen Bodenfliesen aus Mexiko, viele weiße Sofas, Punktstrahler mit gerahmten Kunstplakaten auf ansonsten nackten weißen Wänden. Billy starrte auf den zweistöckigen Bau, während er die gepflasterte Auffahrt zum Eingang hinaufging. Er bewunderte das Haus, aber er mochte es nicht. Es erschien ihm kalt, mehr wie eine Ausstellung und nicht wie ein Haus, und die beiden Jungen verbrachten normalerweise die meiste Zeit im kleinen, aber gemütlichen Haus der Albins.

Obwohl Billy es Lane nie sagen würde, fand er auch die Eltern seines Freundes kühl und distanziert. Mr. Chapman war kaum je zu Hause, aber wenn er da war, ging Lane ihm aus dem Weg. Der Mann lächelte selten, fluchte oft und verschwendete seine Zeit nicht gerne damit, mit Kindern zu reden. Billy war sich nicht einmal sicher, ob Mr. Chapman seinen Namen kannte, obwohl er seit dem Kindergarten der beste Freund seines Sohnes gewesen war. Mrs. Chapman war immer zu Hause, doch in ihrem unerschütterlichen Lächeln lag etwas Falsches, und ihre ständige Freundlichkeit hatte etwas Künstliches. Lane, das wusste er, betete seine Mutter an, aber Billy wusste nicht, ob dieses Gefühl auf Gegenseitigkeit beruhte. Mrs. Chapman erschien ungefähr so warm und entgegenkommend wie ihre kostbaren weißen Möbel.

Ehe die Chapmans hierher nach Pine Top Acres gezogen waren, hatten sie nur ein Stück die Straße entlang von Billys Familie in einem Fertighaus aus Holz gelebt, das Lanes Dad gebaut und als Modellhaus für seine Leistungsfähigkeit als Bauunternehmer genutzt hatte. Jetzt hatten die Chapmans eine geheime Telefonnummer, und die einzigen Menschen, die das Haus betreten durften, waren die wenigen, die dorthin eingeladen worden waren.

Billy drückte auf die Türklingel und hörte dumpf das vertraute musikalische Läuten aus den Tiefen des Hauses. Wenige Augenblicke später war Lane an der Tür.

»Komm«, sagte er. »Lass uns abhauen. Mein Daddy ist zu Hause, und er ist stinksauer. Er hat gerade einen Auftrag an Gagh and Söhne verloren und schlechte Laune. Er droht damit, mich wieder zu Crazy Carl zu bringen.«

Billy lachte. Der verrückte Carl war der älteste Friseur am Ort, ein Veteran des Zweiten Weltkrieges, in dessen Laden die Wände mit Fotos aus dieser Zeit tapeziert waren; er betrachtete es als seine patriotische Pflicht, dafür zu sorgen, dass das Haar jedes Jungen auf eine Länge gekürzt wurde, die er für annehmbar hielt. Ganz egal, welcher Stil gewünscht war, Carl würde das Haar unweigerlich zu einem Militärschnitt herunterrasieren. Einmal, vor Jahren, hatte Billys Dad ihn zu Crazy Carl gebracht und ihm gesagt, dass er dem Jungen nur über den Ohren ein wenig nachschneiden sollte. Carl hatte Billy fast völlig kahl rasiert, und wochenlang war er die Zielscheibe des Spottes seiner Klasse gewesen. Weder er noch sein Vater waren jemals wieder zu Carl gegangen.

»Das meint er nicht ernst, oder?«, fragte Billy.

»Kann man bei meinem Dad schwer sagen. Er droht immer damit, mich auf eine Kadettenanstalt zu schicken oder so.« Lane schüttelte den Kopf. »Ich hab langsam genug von dem Scheiß. Ich schwöre, wenn ich achtzehn bin, mach ich den Abflug, und wenn mein Alter mich aufzuhalten versucht, hau ich ihm eine rein.«

Billy unterdrückte ein Lächeln. Lane redete immer davon, wie er seinem Dad »eine reinhauen« oder »in den Hintern treten« würde. Letzte Woche, als sie ein Lotterielos auf dem Boden gefunden hatten, hatte Lane gesagt, dass er bei einem Gewinn von zu Hause weggehen und eine Wagenladung voll Hundekacke schicken würde, die auf dem Auto seines Vaters abgeladen werden sollte. Lanes Pläne waren immer witzig, aber sie hatten auch etwas Trauriges, und Billy war dankbar, dass er nicht die Eltern seines Freundes hatte.

Lane blickte die Auffahrt entlang. »Wo ist dein Rad?«

Billy nickte in Richtung Straßenrand. »Ich habe es da hinten gelassen. Ich dachte, vielleicht schläft dein Bruder. Ich wollte ihn nicht wecken.« Als er das letzte Mal vorbeigekommen war, hatte er nach Lane gerufen, anstatt an die Tür zu klopfen oder zu klingeln, und Lanes Mutter war herausgekommen, lächelnd wie immer, und hatte ihm mit höflicher Stimme, aber stählernem Unterton mitgeteilt, dass er das Baby aufgeweckt hatte.

Lane lachte. »Du glaubst, dein Rad würde ihn aufwecken? Da ist die Türklingel ja lauter!«

»Und? Hab ich ihn wieder geweckt?«

»Nein. Es geht ihm gut. Sei nicht so ein Angsthase. Was glaubst du denn, was meine Mutter mit dir machen wird? Dir eine runterhauen?«

Das war möglich, dachte Billy, aber er sagte nichts. Er ging die Auffahrt entlang zu dem Strauch, wo er sein Rad abgestellt hatte, während Lane sein eigenes Rad holte, und bald sausten die beiden über die Straße.

Obwohl das Land auf dem Hügel seit über zwei Jahren zur Bebauung freigegeben war, waren erst wenige der großen Grundstücke verkauft worden, und noch weniger waren schon bebaut. Da war das Haus der Chapmans, Dr. Koslowskis Haus, das Haus von Al Houghton, dem Pine Top Acres gehörte, und ein paar teure Ferienhäuser, die von Leuten errichtet worden waren, die sie nie benutzten. Ansonsten war die eingeebnete Kuppe des Hügels nur die Heimat von Bäumen und Felsen und Büschen.

Billy und Lane traten in die Pedalen und fuhren auf der gepflasterten Straße an der ländlichen Residenz des Doktors vorbei. Die Aussicht von dort war spektakulär. Zur Linken lag die Stadt, weiße Gebäude aus Holz und braune Schindeldächer, die zwischen den sommerlich grünen Bäumen hervorlugten, und dahinter die gezackte Hügelkette. Zur Rechten war der Wald, der sich im wechselnden Muster von Hügel und Tal, Hügel und Tal bis zum Horizont erstreckte, unterbrochen nur von den gerodeten Flächen und den winzigen, zusammengewürfelten Flecken entfernter Ortschaften.

Die Jungen sausten die Straße entlang. Sie hatten vor, die indianischen Ruinen am Fuß des Hügels zu besuchen. Ein Team von Archäologiestudenten der Arizona State University war gestern zu ihrem alljährlichen Sommerworkshop eingetroffen, und Billy und Lane hofften, von ihnen eingeladen zu werden, sich an der Erkundung zu beteiligen.

Sie hatten das Ausgrabungsteam im vergangenen Sommer entdeckt, auf dem Labyrinth kaum erkennbarer Pfade, die vom Forstweg abzweigten, der sich durchs Tal zog. Sie hatten aus der Ferne sich bewegende Farbflecken im Grün des Waldes entdeckt und waren hingefahren, um nachzuforschen. Die Grabung war bereits seit einem Monat im Gange gewesen, und der Anblick, der sich ihnen bot, versetzte beide in Erstaunen. Fünfzehn oder zwanzig Männer und Frauen gruben mit winzigen Kellen in flachen, quadratischen Löchern, die mit Leinen und Pfosten exakt abgesteckt waren. Die Archäologen untersuchten Tonscherben und Gegenstände aus Stein und staubten die Objekte mit kleinen, schwarzen Pinseln ab. Neben einem verbeulten Pick-up in der Mitte der Wiese lagen Reihen von Knochen und Schädeln

und indianischen Schmucksteinen. Im Umkreis der Grabungsstätte waren Teile einer niedrigen Steinmauer freigelegt worden.

Die beiden Jungen hatten mit ihren Rädern am Rand der Wiese gestanden, bis jemand sie entdeckt und »He!« gerufen hatte. Daraufhin waren sie fluchtartig losgefahren und hatten wild in die Pedalen getreten.

Doch am nächsten Tag schon waren sie zurückgekehrt.

Und am Tag darauf kamen sie noch einmal wieder.

Wie neugierige wilde Tiere gewöhnten sie sich an die Archäologiestudenten, und die Studenten gewöhnten sich an sie. Eines Tages, als sie sozusagen gezähmt waren, hatten sie den Mut aufgebracht, das Camp zu betreten.

Es war eine außergewöhnliche Erfahrung gewesen. Billy und Lane hatten beobachtet und versucht, den Studenten nicht im Weg zu stehen. Dann hatte der Grabungsleiter, ein Professor, sie ein paar Pfeilspitzen aus dem harten Boden herausschaben lassen. Es hatte Spaß gemacht und war unheimlich spannend gewesen, und obwohl die Jungen keines der Fundstücke behalten durften, hatten beide auf der Stelle beschlossen, später Archäologen zu werden.

Die Straße schlängelte sich in Kurven abwärts, und sie fanden den Pfad, der vom Asphalt weg über ein freies Grundstück in den Wald führte. Billy sprang mit dem Rad die kleine Böschung hinunter; Lane folgte ihm. Dann hatten sie auch schon das Grundstück überquert und verschwanden zwischen den Bäumen. Der Pfad wand sich durchs Unterholz und folgte dem Lauf eines längst ausgetrockneten Bachs, der in das Tal am Fuße des Hügels hinabführte. Sie sausten über den sandigen Boden. Kleine Eidechsen flitzten aus der Spur ihrer rasenden Reifen; Vögel flatterten aus den Sträuchern auf und erhoben sich lautstark zeternd in die Luft. Schließlich erreichten sie den Fuß des Hügels, und Billy kam mit schlitternden Reifen zum Stehen. Lane stoppte neben ihm. Von weiter her auf der rechten Seite drangen leise Gesprächsfetzen und Rockmusik an ihre Ohren, und sie drehten ihre Räder herum.

Obwohl die niedrigen, steinernen Umrisse der Anasazi-Gebäude sich über den gesamten Talboden erstreckten, konzentrierte das Team der Universität sich jeweils nur auf einen kleinen Abschnitt. Im vergangenen Jahr hatten die Studenten am nördlichen Ende des Tals gegraben, in der Nähe der Wiese, aber dieses Jahr schien es, als hätten sie diese Idee aufgegeben und versuchten, am dicht bewaldeten Südende nach Artefakten zu suchen.

Billy und Lane hatten den Grabungsort erreicht, ehe sie es bemerkt hatten, und hielten dicht am Rand der kleinen Lichtung. Unter mehreren Bäumen waren Klapptische und -stühle aufgestellt worden; darauf lagen Bücherstapel und Schachteln und verschiedene Werkzeuge. Der Teppich aus braunen Kiefernnadeln, der normalerweise den Boden bedeckte, war entfernt worden, und die flache, nackte Erde war in quadratische Flächen aufgeteilt. Leuchtend blaue und rote Zelte waren in dem Bereich aufgestellt, allerdings nicht genug, dass das ganze Team darin schlafen konnte. Die Studenten selbst waren um ihren Professor versammelt, ein Mann mittleren Alters mit beginnender Glatze, Präsident-Lincoln-Bart und der Sonnenbräune eines Goldsuchers.

Die Jungen stellten ihre Räder an den Büschen ab und gingen langsam und scheu vorwärts. Einige Gesichter der Studenten waren ihnen vom vergangenen Jahr bekannt, aber die meisten waren neu, und Lane und Billy wussten nicht, wie man auf sie reagieren würde.

Die Blicke der Frauen und Männer schwenkten vom Professor auf die beiden Jungen, die sich vorsichtig über den aufgegrabenen Erdboden bewegten. Der Professor drehte sich um. Als er sie wiedererkannte, legte sich ein Lächeln auf sein Gesicht. »Ich habe mich schon gefragt, wann ihr auftaucht«, sagte er. Seine Stimme war brüchig und heiser. »Bereit zur Arbeit?«

»Deshalb sind wir gekommen«, antwortete Lane.

Der Professor lachte. »Freut mich, dass ihr an Bord seid. Ich bin sicher, wir finden Arbeit für euch.« Er wandte sich seiner Studentengruppe zu. »Den Kommilitonen, die in unserem Aufbaukurs neu sind, möchte ich vorstellen: Lane ...«

»Chapman«, soufflierte Lane.

»Und Billy ...«

»Albin.«

»Genau.« Der Professor wollte gerade etwas hinzufügen, als seine Aufmerksamkeit auf das andere Ende der Lichtung gezogen wurde. Billy folgte seinem Blick. Er sah Bewegung im Unterholz. Es war ein Mann in blauer Uniform und mit schmalem weißem Gesicht.

Und leuchtend rotem Haar.

Von der anderen Seite trat der Postbote auf die Lichtung. Offensichtlich war er den ganzen Weg von der Straße aus, die das Tal am Südende durchquerte, durch Büsche und Bäume gelaufen, doch seine Postuniform zeigte keinerlei Schmutzspuren; keine toten Blätter oder Zweige waren an seiner Mütze, und die goldenen Knöpfe an seiner Jacke glänzten. In der Hand hielt er einen einzelnen Umschlag.

»Dr. Dennis Holman?«, fragte er mit seiner glatten, tiefen Stimme.

Der Professor nickte.

»Ich habe einen Brief für Sie.« Er reichte den Brief dem Professor; dann sah er Billy an. Auf seinem Gesicht lag dasselbe vielsagende Lächeln, das Billy an jenem Tag am Briefkasten gesehen hatte. Ihm wurde flau im Magen, und er bekam Angst. Sein Herz klopfte, und er blickte zu Lane hinüber, um zu sehen, ob auch er es bemerkt hatte, doch Lane hatte seine Aufmerksamkeit auf eine Frau ohne BH in der vorderen Reihe der Studenten gerichtet.

Billy zwang sich, nur den Professor anzusehen, und versuchte, den unheimlichen, vieldeutigen Blick des Postboten zu ignorieren.

Dr. Holman öffnete den Umschlag und überflog den Inhalt. »Unsere Projektmittel sind bewilligt«, verkündete er der versammelten Gruppe und hielt den Brief hoch. »Die Universität hat beschlossen, unser Forschungsprojekt fortzusetzen!«

Die Studenten brachen in spontanen und zum größten Teil ehrlich gemeinten Jubel aus.

Der Professor grinste und nickte dem Postboten zu. »Das ist die beste Neuigkeit, die ich im ganzen Semester bekommen habe.«

»Freut mich, wenn ich Ihnen dienen konnte«, sagte der Postbote.

Normalerweise, überlegte Billy, wäre das das Stichwort gewesen, um zu gehen, aber der Mann machte keinerlei Anstalten. Er verschränkte die Hände hinter dem Rücken und blieb ruhig stehen, schaute sich im Lager um und nahm alles in sich auf. Seine Miene war neutral, auf Ausdruckslosigkeit bedacht; dahinter jedoch lag unterschwellige Selbstgefälligkeit. Sie gab Billy das Gefühl, dass der Postbote über alle, die er beobachtete, sein Urteil fällte - und dass er glücklich war, dass sie seinen Ansprüchen nicht genügten. Er war schweigsam, doch Billy konnte sehen, dass er sich innerlich daran weidete.

Die Augen des Postboten musterten die Gesichter der Studenten und landeten dann wieder bei Billy.

Billy schwitzte. Er spürte, wie aus den Achselhöhlen Schweißperlen herunterrannen. Auch seine Stirn war schweißbedeckt, und er wischte sie mit der Handfläche ab. Es war heiß draußen, aber nicht so heiß, und er schluckte heftig und wollte losrennen, von hier abhauen, nichts wie weg. Doch er konnte sich nicht bewegen. Er war wie versteinert durch diesen Blick und das scheinbar wohlwollende Lächeln, sodass er es nicht einmal schaffte, zu Lane hinüberzuschauen.

Der Postbote nickte ihm zu - ein bestätigendes Nicken, das Billy sagte: »Ich weiß, was du gerade denkst.« Dann drehte er sich um und ging mit forschem Schritt auf dem Weg, den er gekommen war, durch den Wald zurück.

»Wir haben unsere Finanzierung«, begeisterte sich der Professor. »Endlich haben wir unsere Finanzierung!« Stolz hielt er den Brief in die Höhe. »Jetzt können wir wirklich Fortschritte machen!«

Lane verpasste Billy mit dem Ellbogen einen Rippenstoß. »Das ist stark, was? Wir werden noch mehr ausgraben können.«

»Super, ja«, wiederholte Billy. Doch seine Gedanken waren nicht beim Professor oder der Archäologie. Seine Augen und Gedanken konzentrierten sich auf die Stelle zwischen den Bäumen, wo wenige Augenblicke zuvor der Postbote mit seiner weißen Hand langsam und beinahe liebevoll zum Abschied gewunken hatte.

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