35.

Trish starrte im Dunkeln an die Decke. Sie musste dringend ins Badezimmer, hatte aber Angst, das Bett zu verlassen. Sie wusste, er war da draußen. Irgendwo in der Nähe. Sie hatte das leise, gleichmäßige Geräusch seines näher kommenden Wagens gehört, der dann verstummt war. Doch Trish hatte nicht gehört, dass er den Motor wieder angelassen hatte. Also war er wohl noch da. Sie wusste, dass sie Doug wecken sollte, aber er war in letzter Zeit sehr angespannt und hatte große Probleme mit dem Einschlafen gehabt. Sie wollte ihn nicht stören.

Oben hatte Billys Bett geknarrt, als der Junge sich im Schlaf ruhelos hin und her wälzte. Er war die letzten beiden Tage nervös und ängstlich gewesen, seitdem sie und Doug zum Einkaufen gefahren waren und ihn allein gelassen hatten. Trish machte sich Sorgen um ihn. Er wurde immer verschlossener. Wieder einmal beschäftigte Billy etwas, was er nicht mit ihnen bereden wollte, und obwohl Trish versuchte, geduldig und verständnisvoll zu sein, war es schwer, von Billys mangelndem Vertrauen nicht enttäuscht zu sein.

Der Druck in ihrem Unterbauch wurde stärker. Sie würde bald ins Bad gehen müssen, daran führte kein Weg vorbei. Und sie würde sich entscheiden müssen, ob sie Doug wecken sollte oder nicht. Er schnarchte leise neben ihr; sein Atem ging rau und unregelmäßig, und aus irgendeinem Grund musste Trish an Schlafapnoe denken, eine Krankheit, bei der das schlafende Hirn vergisst, die unwillkürlichen Körperfunktionen zu steuern, sodass die Gefahr bestand, dass der Betreffende zu atmen aufhört und sein Herz stehen blieb.

Hör damit auf, sagte sie sich. Du machst dich nur verrückt.

Der Druck wurde immer stärker. Sie erinnerte sich mit Furcht einflößender Deutlichkeit an den Traum, den sie in der letzten Nacht gehabt hatte. In diesem Traum hatte sie ein Bad genommen und sich in das warme, schaumige, entspannende Wasser gelegt, als sie plötzlich bemerkte, dass der Körper des Postboten unter ihr lag. Eine Hand war aus dem Schaum hervorgeschossen und hatte ihren Schrei erstickt, während sein brennendes Glied von hinten in sie eindrang.

Trish streckte den Arm aus und stupste vorsichtig ihren Mann an. »Doug?«, sagte sie leise.

»Was?« Er schreckte aus dem Schlaf, sofort in Alarmbereitschaft.

»Ich habe Angst, allein ins Badezimmer zu gehen«, sagte sie schüchtern. »Würdest du mitkommen?«

Doug nickte, und selbst in der Dunkelheit konnte sie die Ringe unter seinen Augen erkennen. Er stieg taumelnd aus dem Bett und zog seinen Morgenmantel an, und zusammen gingen sie zum Bad. Aus der Küche kam das leise Brummen des Kühlschranks. Trish tastete um die Ecke, fand den Lichtschalter und knipste die Badezimmerlampen ein.

Auf dem Toilettendeckel lag ein weißer Umschlag.

»Oh, den habe ich da vergessen«, sagte Doug rasch, nahm den Umschlag und steckte ihn ein. Doch Trish begriff im selben Augenblick, dass er den Umschlag noch nie gesehen hatte. Sie war die Letzte gewesen, die das Bad benutzt hatte, und da war noch keine Post im Badezimmer gewesen.

Er war im Haus.

»Sieh nach Billy«, stieß sie hervor und lief den Flur entlang durch die Küche. Sie war in Panik, rang nach Atem. Im Geiste sah sie das leere Bett ihres Sohnes vor sich, die Bettdecke weggezerrt, auf dem Kopfkissen ein Umschlag, der eine Lösegeldforderung enthielt ... oder Schlimmeres.

Billy ist auch hübsch. Billy ist auch hübsch ...

Doug folgte Trish die Treppe zum Loft hinauf.

Wo Billy fest schlief.

Trish hatte nie verstanden, was ein »Seufzer der Erleichterung« war, obwohl sie diese Worte oft in Romanen gelesen hatte. Jetzt seufzte sie selbst erleichtert und stieß die Luft aus, die sie angehalten hatte, als sie auf das Schlimmste gefasst gewesen war. Doug stand neben ihr. Ihre Blicke trafen sich, und beide machten sich schweigend daran, das Loft zu durchsuchen, um sicherzugehen, dass der Postbote sich nirgends versteckte.

Das Loft war leer.

Sie durchkämmten auch den Rest des Hauses und schauten gründlich in den Kleiderschränken, Küchenschränken und unter den Betten nach. Doug überprüfte die Fenster und die Schlösser an den Türen, aber alles war so, wie es sein sollte. Schließlich kehrten sie ins Bad zurück.

Doug legte Trish zur Beruhigung die Hand auf die Schulter.

»Was ist nur los mit dir, verdammt noch mal!«, stieß sie hervor und schob seine Hand weg, wobei sie sich zu ihm umdrehte.

Überrascht von ihrer plötzlichen Wut, wich er einen Schritt zurück. »Was?«

»Ich habe gefragt, was mit dir los ist. Du bist ganz wild darauf, zur Polizei zu gehen, damit sie etwas gegen den Postboten unternimmt, aber wenn er in unser Haus eindringt, während wir schlafen, und einen Brief auf der Toilette zurücklässt, tust du so, als hättest du ihn da vergessen und alles wäre in Ordnung.«

»Ich habe nicht so getan, als wäre alles in Ordnung!«

»So? Was hast du dann getan?«

»Ich wollte dir nur keine Angst machen.«

»Du wolltest mir keine Angst machen? Hast du überhaupt nicht an unseren Sohn gedacht? Was, wenn der Postbote noch im Haus gewesen wäre? Er hätte uns alle umbringen können.«

»Ich hab nicht richtig nachgedacht, okay.«

»Nein, das ist nicht okay. Du hättest uns alle in Gefahr bringen können. Du wolltest mir keine Angst machen? Ich habe schon Angst. Ich habe schon den ganzen Sommer Angst! Aber ich bin kein hilfloser Dummkopf. Verdammt, Doug, behandle mich wie eine Erwachsene!«

»Du weckst Billy«, sagte Doug.

»Dieser verfluchte Postbote war in unserem Haus!«, schrie Trish. »Was erwartest du denn von mir? Dass ich flüstere?«

»Wir wissen nicht, ob er hier war. Die Türen sind verriegelt, die Fenster sind alle geschlossen ...«

Trish schlug die Badezimmertür zu und traf beinahe Dougs Nase. Er stand im Flur, wütend auf sie, und wollte nichts mehr, als ins Schlafzimmer gehen, ins Bett kriechen und Trish in dem verdammten Badezimmer allein lassen. Das würde ihr genug Angst machen, um ihr eine Lektion zu erteilen. Aber so wütend er auch war, seine Furcht war größer. Sie hatte recht. Sie waren in Gefahr. Der Postbote war im Haus gewesen, wo sie sich bislang immer sicher gefühlt hatten. Er hatte ihre Festung gegen die Welt draußen gestürmt. Doug stand da und drückte das Ohr an die Badezimmertür. Er hörte nur Trish.

Die Toilettenspülung wurde betätigt, und kurz daraufkam sie heraus. »Lass mich den Brief sehen«, verlangte sie.

Doug zog ihn aus der Tasche seines Morgenmantels. »Vielleicht sollten wir ihn nicht anfassen«, meinte er. »Er könnte ein Beweismittel sein ...«

Trish riss den Umschlag auf. Er war an sie adressiert, und es lag ein Blatt weißes Papier darin, auf dem in einer blumigen, weiblichen Handschrift ein einziges Wort stand:


Hallo


Trish zerriss das Blatt in kleine Fetzen.

»He«, sagte Doug. »Tu das nicht! Wir brauchen ...«

»Wir brauchen was?«, schrie sie ihn an. »Das?« Sie zerriss den Brief in winzige Schnipsel. »Weißt du denn nicht, wie dieser Irre vorgeht? Verstehst du es denn immer noch nicht? Bist du wirklich so dumm? Er ist nicht zu fassen! Die Polizei wird kommen, und da werden keine Fingerabdrücke sein, keine Anzeichen für gewaltsames Eindringen, keine Beweise für gar nichts. Nichts, womit sie weitermachen können!«

Doug starrte sie schweigend an.

»Er weiß genau, was er tut. Selbst dieser Brief bedeutet absolut gar nichts, es sei denn, die Fingerabdrücke des Postboten sind darauf, oder wir können beweisen, dass es seine Handschrift ist.«

Trish hatte recht, und Doug wusste es, und dieses Wissen machte ihn wütend und hilflos zugleich. Trish zerriss das Papier in immer kleinere Schnipsel. Ihre Hände bewegten sich schnell, hastig, während ihr Tränen über die Wangen liefen. Doug wollte ihre Hände nehmen und festhalten, doch Trish drehte sich von ihm weg. »Fass mich nicht an!«

Doug kam noch näher, legte die Arme um sie und zog sie an sich. Sie wehrte sich. »Fass mich nicht an«, wiederholte sie. Doch ihre Gegenwehr wurde immer schwächer, ihr Protest halbherzig, und bald schluchzte sie in seinen Armen.


Der Bronco jagte am Circle-K-Einkaufszentrum, an der Bank und am Kindergarten vorbei. Es war noch keine acht Uhr, aber Doug wusste, dass das Postamt geöffnet hatte. Er wusste, dass der Postbote da sein würde - falls er von seiner nächtlichen Runde zurück war.

Nachdem Trish und Doug letzte Nacht wieder zu Bett gegangen waren, hatten sie nicht geschlafen, sondern geredet, hatten mit Flüsterstimme über ihre Ängste und Gefühle gesprochen, über ihre Gedanken und Theorien. Nichts hatte sich aufgeklärt, keine Frage war beantwortet worden, doch beide hatten sich danach besser gefühlt.

Dougs Wut aber loderte so heiß wie zuvor. Am Morgen hatte er geduscht, rasch gefrühstückt und Trish gesagt, sie solle zu Hause bleiben und auf Billy aufpassen. Er selbst würde den Postboten zur Rede stellen, solange er noch wütend genug war, keine Angst zu haben. Trish hatte seinen Zorn und seine Entschlossenheit gespürt und gar nicht erst mit ihm diskutiert. Sie hatte einfach genickt und ihn gebeten, vorsichtig zu sein.

Doug fuhr auf den Parkplatz des Postamts. Das einzige andere Fahrzeug in Sichtweite war der rote Wagen des Postboten. Doug parkte direkt daneben, stieg aus dem Bronco und ging auf die gläserne Doppeltür zu.

Trish, Billy und er selbst waren das Ziel dieses Irren, auch wenn Doug nicht wusste warum. Alles andere jedoch passte wenigstens zusammen und ergab auf perverse Weise einen Sinn: Ronda und Bernie waren umgebracht worden, weil sie Rivalen waren. Stockley war beseitigt worden, um ihn zum Schweigen zu bringen. Die Hunde waren getötet worden, weil - wie jeder weiß - Postboten Hunde hassen. Doch es ließen sich keine solchen Erklärungen für die unablässige Verfolgung Dougs und seiner Familie und Freunde durch den Postboten finden. Natürlich waren auch andere Leute belästigt worden, aber nicht so subtil, so vorsätzlich. Doug wusste, was sich abspielte - und der Postbote wusste, dass Doug es wusste, und trieb seine Spielchen mit ihm. Das Grauen nahm immer mehr zu und bewegte sich in konzentrischen Kreisen auf Doug, Billy und Trish zu.

Die Tür war offen, und Doug betrat das Postamt. Die Kühle des Morgens war nicht ins Gebäude eingedrungen. Die abgestandene, feuchtheiße Luft war unerträglich. Doug ging direkt zum Schalter, ohne die perversen und abstoßenden Plakate an den Wänden zu betrachten. Der Boden unter seinen Füßen fühlte sich klebrig an.

Der Postbote kam aus dem Hintergrund. Er lächelte. Wie immer trug er Uniform, und wie immer war seine Stimme glatt und aufgesetzt. »Was kann ich für Sie tun, Mister Albin?«

»Lassen Sie den Quatsch«, sagte Doug. »Wir wissen beide, warum ich hier bin.«

»Ach ja? Warum denn?« Das Lächeln des Postboten wurde breiter.

Doug beugte sich vor. »Weil Sie meine Familie bedrohen. Weil Sie letzte Nacht in mein Haus gekommen sind und uns eine Notiz hinterlassen haben.«

»Was für eine Notiz?«

»Das wissen Sie verdammt gut. In der Notiz stand ›Hallo‹.«

Der Postbote kicherte. »Das ist ja schrecklich bedrohlich.«

Doug ballte die Faust und hielt sie drohend hoch. »Spielen Sie nicht das Unschuldslamm! Es ist niemand hier außer Ihnen und mir, und wir wissen beide, dass Sie letzte Nacht in mein Haus eingebrochen sind.«

»Ich habe nichts dergleichen getan. Ich war den ganzen Abend daheim, zusammen mit Mister Crowell.« Der Ausdruck auf dem Gesicht des Postboten war eine Parodie verletzter Unschuld.

»Und wo ist Mister Crowell?«

Der Postbote grinste. »Leider ist er heute krank.«

»Verdammt, hören Sie damit auf!«, stieß Doug hervor.

»Aufhören? Womit?«

»Mit allem. Hauen Sie ab aus Willis, oder ich schwöre bei Gott, dass ich dafür sorgen werde, dass Sie verschwinden.«

Der Postbote lachte. Diesmal lag Härte unter der Fassade falscher Freundlichkeit. Seine Augen, blau und tot, blickten kalt, und seine Stimme hatte nichts mehr von der gewohnten berechnen den Höflichkeit. »Sie können mich zu gar nichts zwingen«, sagte er.

Sein Ton ließ Doug das Blut in den Adern gefrieren. Er wich einen Schritt zurück. Er begriff, dass er zum ersten Mal das wahre Gesicht des Postboten sah, und musste dem instinktiven Verlangen widerstehen, panisch die Flucht zu ergreifen. Die Tatsache, dass er Smith so weit aus der Reserve gelockt hatte, dass dieser seine Tarnung fallen ließ, machte ihm sehr viel mehr Angst, als er gedacht hatte. Er hätte nicht alleine hierherkommen sollen. Er hätte Mike oder Tim oder einen anderen Polizisten mitbringen sollen. Doch Doug wollte den Postboten seine Angst nicht spüren lassen. »Warum verfolgen Sie meine Familie?«, fragte er, und seine Stimme klang fest. »Warum haben Sie gerade mich ausgesucht?«

»Weil Sie es wissen«, antwortete der Postbote.

»Ich weiß gar nichts.«

»Weil Sie sich beschwert haben.«

»Viele Leute haben sich beschwert.«

»Weil mir danach ist«, sagte der Postbote, und Doug begriff schlagartig, dass der Irrsinn dieses Eingeständnisses, das völlige Fehlen von Gründen und Erklärungen tatsächlich der Wahrheit entsprach. Er starrte in die kalten Augen und sah nichts. Keine Leidenschaft, kein Gefühl - nichts.

Der Postbote lächelte, und seine Stimme hatte einen hässlichen Unterton, in dem bedrohliche Sexualität lag. »Wie geht es der kleinen Frau und dem kleinen Mann?«

»Sie Bastard!« Doug schlug nach dem Postboten, aber dieser wich leichtfüßig zurück. Doug verlor das Gleichgewicht und taumelte gegen den Schalter.

Der Postbote kicherte; dann setzte er wieder seine übliche, harmlose Maske auf. »Es tut mir leid, Mister Albin. Das Postamt ist noch nicht geöffnet, aber wenn Sie ein Briefmarkenheftchen kaufen möchten ...«

»Lassen Sie uns in Ruhe!«, brüllte Doug und richtete sich auf.

»Es ist meine Aufgabe, die Post zuzustellen, und ich werde meine Pflicht erfüllen, so gut ich kann.«

»Warum? Es liest sowieso keiner die verdammte Post.«

»Jeder liest seine Post.«

»Ich nicht. Ich habe schon vor Wochen aufgehört, die Post zu lesen.«

Smith starrte ihn an und blinzelte. »Sie müssen Ihre Post lesen.«

»Ich muss gar nichts. Ich bringe meine Post direkt vom Briefkasten zum Mülleimer, ohne Zwischenstopp.«

Zum ersten Mal hatte Doug den Eindruck, dass der Postbote nach Worten suchte. Er schüttelte den Kopf, als hätte er Doug nicht verstanden. »Aber Sie müssen Ihre Post lesen«, wiederholte er.

Doug lächelte. Ihm wurde klar, dass er einen wunden Punkt getroffen hatte. »Ich lese meine Post nicht. Meine Frau liest ihre Post nicht. Wir schauen sie gar nicht erst an. Wir sehen nicht einmal nach, von wem sie kommt oder an wen sie adressiert ist. Wir werfen sie einfach weg. Also hören Sie auf, Ihre Zeit zu verschwenden, und lassen Sie uns in Ruhe.«

»Aber Sie müssen Ihre Post lesen.«

Aus dem hinteren Teil des Gebäudes kam Giselle in die Schalterhalle.

»Lassen Sie uns einfach in Ruhe«, sagte Doug zu dem Postboten. Er drehte sich um und verließ mit langen Schritten das Gebäude. Er zitterte am ganzen Leib.

Doug glaubte, den Postboten irgendetwas sagen zu hören, als er zu seinem Wagen ging, doch er hatte nicht verstanden. Und er war nicht sicher, ob er es überhaupt wissen wollte.

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