20.

Doug hockte auf der Veranda und blickte durch das Teleskop auf die Bäume, die sich den Bergrücken entlangzogen. In dieser Nacht war Vollmond, und er hatte das Teleskop nach draußen gebracht, damit er die Mondkrater betrachten konnte. Sie hatten das Gerät letztes Jahr für Billy zu Weihnachten besorgt, und das Interesse des Jungen für Astronomie hatte seitdem im Rhythmus der Mondphasen zu- und abgenommen. Als Billy das Teleskop das letzte Mal benutzt hatte, war das Bild ein wenig unscharf gewesen, und er hatte Doug gebeten, es sich anzusehen, doch bis jetzt hatte Doug noch keine Gelegenheit gehabt.

Er fokussierte das Okular, bis er die einzelnen Äste der Kiefern auf dem Bergrücken erkennen konnte. Billy hatte recht: Das vergrößerte Bild war ein wenig unscharf, aber sie würden die Mondkrater immer noch ziemlich deutlich sehen können.

Doug schwenkte das Teleskop, bis er die Ridge Road im Blick hatte. Es war nach sieben, und die Sonne ging unter. Die ungepflasterte Straße, die sich bis zur Spitze des Kliffs hinaufwand, leuchtete orangefarben im verblassenden Licht. Doug wollte das Teleskop gerade auf etwas anderes richten, als er am unteren Rand seines Blickfelds eine Bewegung bemerkte.

Ein roter Wagen, der langsam die Straße hinaufkroch.

Dougs Herz setzte einen Schlag aus.

Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. Die Ridge Road verlief parallel zum Highway durch den Ort, ehe sie sich zum Bergrücken hochschwang und dort auf einem öden Geländestück endete, das von Felsblöcken übersät war. Der Weg kreuzte die Oak Street gleich neben der Highschool und wurde von vielen Schülern als Liebesnest benutzt. Doch oben auf dem Hügelrücken wohnte niemand.

Dort gab es keine Adresse, an die Post zuzustellen wäre.

Der Wagen verschwand hinter dem Hügelrücken, und Doug blickte vom Teleskop hoch und stand auf. Selbst mit bloßem Auge konnte er von hier aus die Straße deutlich sehen: ein heller Schlitz, der sich durch die Dämmerung auf den Berg wand. Es würde kein Problem sein, einen Wagen zu erkennen, der hinauf- oder herunterfuhr.

Er beobachtete, wartete.

Wartete, beobachtete.

Die Sonne im Westen sank tiefer. Die Flanke des Bergkammes lag nun im Schatten, sodass Doug Bäume, Fels und Straße nicht mehr auseinanderhalten konnte. Er würde keine Schwierigkeiten haben, den Wagen des Postboten den Berg herunterkommen zu sehen, wenn die Scheinwerfer eingeschaltet waren, doch bei ausgeschalteten Scheinwerfern hatte er keine Chance, das Fahrzeug zu entdecken.

Doug hatte allerdings das unbestimmte Gefühl, dass der Postbote noch da oben auf dem Bergrücken war - und auch noch einige Zeit dort bleiben würde.

Was machte er da? Doug öffnete rasch die Gittertür und schlüpfte ins Haus, ehe die Insekten, die in der Nähe der Verandaleuchte surrten, ihm folgen konnten. Trish stellte gerade das letzte Geschirr vom Abendessen weg, und Billy war schon nach oben gegangen.

»Ich fahre noch mal zum Einkaufszentrum«, verkündete Doug.

Trish schloss den Geschirrschrank. »Wozu?«

Dougs Stimme zitterte nicht, als er sich spontan eine Erklärung einfallen ließ. »Ich hab einen Wahnsinnsappetit auf Schokoriegel. Willst du auch einen?«

Trish schüttelte den Kopf. Ihr Gesichtsausdruck verriet Misstrauen, aber sie sagte nichts.

»Aber ich!«, rief Billy von oben.

»Okay.« Doug wandte sich wieder Trish zu. »Irgendwas anderes für dich? Einen Granola-Riegel vielleicht?«

»Nein.« Sie schwieg einen Augenblick, schien etwas sagen zu wollen, blieb dann aber still.

»In einer Viertelstunde bin ich wieder da.« Doug öffnete die Gittertür, ging hinaus und schloss sie hinter sich.

Trish folgte ihm bis auf die Veranda. »Sei vorsichtig«, sagte sie leise.

Doug drehte sich um und schaute sie an. Sie wusste oder spürte etwas. Er merkte, dass sie sich Sorgen machte. Er wollte mit ihr sprechen, wollte sie wissen lassen, was er vorhatte, doch irgendwie brachte er die Worte nicht über die Lippen. Ohne etwas zu sagen, nickte er und stieg die Stufen hinab zum Bronco.

Sobald er außer Sicht- und Hörweite des Hauses war, fuhr er schneller, denn es drängte ihn, den Bergrücken zu erreichen, obwohl er das Gefühl hatte, dass der Postbote nirgendwo anders hingehen würde.

Es war merkwürdig. Seines Wissens hatte noch niemand den Postboten dabei beobachtet, wie er einkaufte, tankte, aß oder irgendetwas tat, was nicht zu seinem offiziellen Postdienst gehörte. Doch in einer solch kleinen Stadt war es kaum möglich, ganz für sich zu bleiben. Selbst wenn jemand krankhaft ungesellig war, würden seine Nachbarn doch mitbekommen, wann er kam und ging, welche Gewohnheiten er hatte, und würden mit ihren Freunden darüber reden. Eine kleine Stadt war kein Ort für jemanden, der Anonymität und Ungestörtheit suchte, kein Ort für einen Einsiedler. Aber dem Postboten schien dieses Kunststück zu gelingen.

Nun allerdings hatte Doug die Gelegenheit, ihn nach Dienstschluss zu beobachten.

Und Doug hatte das Gefühl, dass der Mann etwas anderes tat, als für die Post zu arbeiten.

Er bog auf den Highway ein und raste durch den Ort, wobei er vor der Radarfalle neben der Bank kurz die Geschwindigkeit drosselte. Dann bog er in die Oak Street ein und folgte ihr bis zur Ridge Road, wobei seine Hände am Lenkrad immer stärker schwitzten. Hier gab es keine Straßenbeleuchtung, und der Weg war dunkel. Doug bremste weiter ab und kroch bald nur noch, bis er schließlich den höchsten Punkt des Bergrückens erreichte. Er wollte sich nicht verraten, denn er wusste nicht, was er vorfinden würde.

Das Gelände auf der Kuppe war flach, und überall ragten Felsblöcke unterschiedlicher Größe aus dem hohen Gras, doch es gab kaum Gebüsch, hinter dem man sich hätte verstecken können. Doug schaltete die Scheinwerfer aus, fuhr an den Straßenrand und stellte den Motor ab, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Er hatte Angst, aber er musste jetzt da durch. Er kurbelte das Seitenfenster des Bronco herunter. Im Osten ging langsam der Mond auf und warf lange Schatten über die Hügelkuppe. Die Straße, das wusste Doug, endete knapp zwei Kilometer weiter; wenn der Postbote inzwischen nicht weggefahren war, befand er sich irgendwo zwischen diesen beiden Punkten.

Doug blieb noch ein paar Sekunden im Wagen sitzen und nahm seinen Mut zusammen, während er seinen Augen Zeit gab, sich an das Dämmerlicht zu gewöhnen. Es wehte eine ganz leichte Brise, ein dünner, kaum wahrnehmbarer Luftzug, der über die Grashalme strich, raschelte und wisperte. Nur ... nur war da außer dem Wispern des Windes noch ein anderes Geräusch. Ein leises, kaum hörbares Murmeln, das von weiter vorn kam und mit der Brise an- und abschwoll.

Der Postbote.

Doug bekam eine Gänsehaut. Vorsichtig öffnete er die Wagentür, stieg aus und drückte sie fast geräuschlos zu. Er ging los, wobei er sich am Rand der Straße hielt, dankbar, dass er dunkle Kleidung trug.

Der Bergrücken war nicht vollkommen flach, sondern stieg unmerklich weiter an, gerade genug, um die Mitte des Rückens vor Blicken zu verbergen, wie Doug nun sah.

Das Murmeln wurde ein wenig lauter.

Doug ging weiter. Seine Schlüssel und das Kleingeld klimperten in seiner Hosentasche, und er legte die Hand darum, um das Geräusch zu dämpfen. Die Straße machte eine leichte Kurve. Das Gelände wurde jetzt eben. Doug blieb abrupt stehen, während das Herz in seiner Brust heftig pochte. Der Postbote war drei-, vierhundert Meter vor ihm, abseits der Straße mitten im Gelände. Selbst von hier aus konnte Doug den dünnen Körper wie verrückt zwischen den Steinen und Felsblöcken tanzen sehen, hingebungsvoll, mit wild rudernden Armen. Doug wollte nahe genug heran, um besser zu sehen, und er verließ die Straße und bewegte sich geduckt durchs Gras. Überall in seinem Körper war die Angst wie mit Händen zu greifen. Hinter ihm ging der Mond auf, voll und leuchtend, verwandelte den Bergrücken in ein phosphoreszierendes Relief und tauchte die Landschaft in weiches Licht.

Leise bewegte Doug sich vorwärts. Das Geräusch wurde lauter. Der Postbote skandierte etwas. Zuerst klang es wie eine Fremdsprache, so merkwürdig und fremdartig waren Rhythmus und Tonfall. Doch als Doug genauer hinhörte, als er sich dem Postboten näherte, erkannte er, dass die Worte des Sprechgesangs Englisch waren.

»Weder Regen noch Schnee, Eis oder Hagel ...«

Er skandierte das Motto des US Postal Service.

Doug spürte ein Kribbeln, als seine Nackenhärchen sich aufrichteten. Er kroch hinter einen großen, unregelmäßig geformten Felsblock und spähte aus dessen Deckung hervor. Der Postbote sprang in die Luft, wirbelte herum, tanzte wild und ausgelassen. Aus dieser kurzen Entfernung konnte Doug erkennen, dass der Mann die vollständige Uniform trug: Hose und Schuhe, Hemd und Mütze. Messingknöpfe glänzten im Mondlicht. Blauschwarz schimmerten seine auf Hochglanz geputzten Schuhe.

Dougs Mund war trocken und wie aus Watte; sein Herz hämmerte so laut, dass er sicher war, der Postbote konnte es hören. Doug hatte gewusst, dass der Mann etwas Merkwürdiges, Fremdartiges, Böses an sich hatte. Aber nun wurde ihm klar, dass es viel mehr war als das: Der wahnsinnige Tanz des Postboten war spontan und konnte sehr gut etwas mit Zauberei oder Satanismus zu tun haben - mit etwas, das er nicht verstand und vielleicht nie verstehen würde.

Der Postbote verstummte und grinste irre. Seine perfekten Zähne schienen im Mondschein zu leuchten, und er starrte selbstvergessen in den Himmel, während seine Beine sich in unmöglichen Schrittfolgen bewegten und seine Arme jede Bewegung der Füße nachahmten. Dann nahm er den Sprechgesang wieder auf. Das Motto des US Postal Service.

Der Postbote hatte nun wenigstens fünf Minuten lang getanzt, unter Einsatz all seiner Kräfte, doch er zeigte keine Zeichen der Ermüdung. Er schien nicht einmal zu schwitzen.

Doug hatte keinen Zweifel, dass der Mann bis zur Morgendämmerung so weitermachen konnte.

Er zog sich auf demselben Weg zurück, den er gekommen war. Eine Sekunde lang hatte Doug das Gefühl, dass der Postbote ihn direkt ansah und lachte; dann rannte er und eilte durchs Gras und die Straße hinunter zu seinem Bronco.

Ohne die Scheinwerfer einzuschalten, wendete er und jagte über die Ridge Road nach Hause.

Er hatte Billys Schokoriegel und seine angebliche Fahrt zum Einkaufszentrum völlig vergessen, doch weder Trish noch Billy sagten irgendetwas, als er zurückkam, und er wusste, dass sie wussten, dass er gelogen hatte.

In dieser Nacht starrte er in die Dunkelheit, als er im Bett lag, und lauschte Trishs tiefem, gleichmäßigem Atem und den Geräuschen der nächtlichen Natur. Irgendwo in der Nähe zirpte unermüdlich eine Grille, und aus den Bäumen hinter dem Haus kam immer wieder der klagende Schrei einer Eule.

Normalerweise hatte Doug keine Schwierigkeiten einzuschlafen. In dieser Nacht aber lag er lange wach, und während er im Bett lag und in die Dunkelheit starrte, vermeinte er, in der leichten Brise den Klang weit entfernten Sprechgesangs zu hören.

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