55.

Doug fuhr aus dem Schlaf hoch, während der Traum verschwand, den er gerade gehabt hatte, ohne die geringste Spur in seinem Gedächtnis zu hinterlassen. Zuerst glaubte er, von einem Geräusch geweckt worden zu sein - das Telefon, ein Klopfen an der Tür, irgendein Gegenstand, der umgefallen war -, doch die Luft war ruhig und still. Nur das allgegenwärtige Zirpen der Grillen störte die friedvolle Nacht. Doug warf einen Blick auf die Uhr, deren blaue Ziffern in der Dunkelheit leuchteten: drei Uhr nachts. Die dunkle Stunde der Seele. Das hatte er irgendwo gelesen - »die dunkle Stunde der Seele«. Drei Uhr morgens war angeblich die Stunde, da der menschliche Körper dem Tod am nächsten war, da die Körperfunktionen ihren Tiefststand erreichten.

Warum war er dann so hellwach, so alarmiert?

Das Zirpen der Grillen draußen verstummte, und in der Stille hörte er eine tiefe Bass-Schwingung, eine kaum wahrnehmbare Störung, von der er wusste, dass sie sich zu etwas Vertrautem entwickeln würde. Das Geräusch wurde lauter, kam näher, und er erkannte, dass es ein Motor war.

Das Auto des Postboten.

Das war nicht möglich. Gestern noch war der Postbote zu schwach gewesen, um sich zu bewegen, und gewiss nicht in der Verfassung, um einen Wagen zu steuern. Selbst wenn es ihm seitdem gelungen war, einen Brief zuzustellen, oder mehrere Briefe, war es unmöglich, dass er sich so plötzlich erholt hatte.

Doch es handelte sich zweifellos um das Geräusch eines Wagens. In der Stille der Nacht hörte Doug das Knirschen der Reifen auf dem Kies und das leise Schnurren, als der Wagen am Ende der Auffahrt im Leerlauf verharrte.

Das Geräusch machte ihm keine Angst, doch es war unwiderstehlich, und er horchte aufmerksam.

Die Wachsamkeit, mit der er aufgeschreckt war, ließ allmählich nach. Eigentlich wollte er aufstehen, ins Wohnzimmer gehen und durch das vordere Fenster spähen, um nachzusehen, was los war. Doch entweder war sein Verstand zu müde, um den Befehl an den Körper weiterzugeben, oder seine Beinmuskeln waren zu müde, um ihn zu befolgen, und so blieb er im Bett liegen und lauschte dem leisen Motorgeräusch.

Ihm wurde klar, dass das tiefe Brummen beruhigend wirkte, dass der gleichmäßige Rhythmus ihn in den Schlaf hypnotisierte, doch er war unfähig, dagegen anzukämpfen. Ihm fielen die Augen zu. Er glitt ins Traumland zurück, wobei er immer noch das leise Geräusch des Motors hörte.


Als er aufwachte, wusste er, dass der Postbote verschwunden war. Er wusste es, ohne es zu hören, ohne es zu sehen, ohne es nachzuprüfen. Es war ein Gefühl, ein kaum merklicher Unterschied in der Luft, den er nicht hätte erklären können, wäre es von ihm verlangt worden. Es fehlte ein Gefühl der Bedrücktheit und der lauernden Bedrohung, an das er sich gewöhnt hatte, das am Morgen mit ihm aufgewacht und inzwischen fast ein Bestandteil seiner Persönlichkeit geworden war. Nun war es verschwunden.

Doug nahm den Telefonhörer und rief Mike an. Der Polizist meldete sich sofort. »Polizeirevier Willis, Mike Trenton.«

»Mike? Hier ist Doug.«

»Er ist weg.«

Doug war einen Augenblick lang still, schloss die Augen, spürte die Erleichterung, die ihn überflutete. Die Bestätigung. Er war weg. »Das wusste ich«, sagte Doug.

»Heute Morgen, als ich zum Revier gefahren bin, habe ich gesehen, dass sein Wagen nicht auf dem Parkplatz vor dem Postamt stand, und ich bin mit Tegarden und Jeff reingegangen. Nichts. Das Gebäude war leer. Aber vielleicht wird er zurückkommen ...«

»Wird er nicht«, widersprach ihm Doug.

»Wir wissen nicht ...«

»Wird er nicht.«

»Vielleicht haben Sie recht«, sagte Mike langsam. »Heute Morgen haben wir über Polizeifunk einen Bericht vom Amt für öffentliche Sicherheit bekommen, dass es draußen im Black Canyon in Richtung Camp Verde einen Unfall mit einem einzelnen Fahrzeug gegeben hat. Einzelheiten sind nicht bekannt, aber es könnte der Postbote gewesen sein. Fahrzeug und Fahrer waren verbrannt, sodass sie nicht zu identifizieren waren, aber wir werden bald Gewissheit haben. Selbst wenn wir keine Gebissunterlagen finden, sollte eine Untersuchung des Wagens uns weiterbringen.«

»Das spielt keine Rolle mehr.«

»Das spielt keine Rolle? Sie scheinen sich keine allzu großen Sorgen um die Sache zu machen.«

»Er ist weg. Spüren Sie es denn nicht? Ich weiß nicht, ob wir ihn vertrieben haben oder ob er erreicht hat, was er erreichen wollte, oder ob er gestorben ist oder was auch immer. Aber er ist fort. Er ist nicht mehr hier. Und er wird nicht wiederkommen.«

»Ich hoffe, Sie haben recht.«

»Ich habe recht.«

»Warten Sie mal ...« Am anderen Ende der Leitung waren gedämpfte Stimmen zu hören, während Mike die Hand auf den Hörer legte. »Sind Sie noch dran?«, fragte er schließlich.

»Ja.«

»Ich habe gerade eine Notiz von Jeff gekriegt, dass ein Postinspektor angerufen hat. Er kommt gegen Ende der Woche.«

Doug lächelte. »Ein bisschen spät, oder?«

Der Polizist kicherte. »Ein bisschen.«

Einen Augenblick lang schwiegen sie, und Doug wurde klar, dass die beiden sich zum ersten Mal seit über einem Monat nichts zu sagen hatten. »Also, ich lasse Sie dann mal in Ruhe«, sagte er. »Aber später komme ich vorbei. Dann reden wir weiter.«

»Okay.«

»Es ist vorbei, Mike.«

»Ich glaube Ihnen.«

Doug lachte. »Jetzt glauben Sie mir.«

»Nun hauen Sie schon ab.«

»Bis später.« Doug verharrte am Telefon. Was hatte der Postbote eigentlich gewollt, fragte er sich, und hatte er es gefunden oder getan oder vollendet? Vor zwei Monaten war der Mann in Willis erschienen und hatte die Stadt als Schlachtfeld zurückgelassen. War das sein Ziel gewesen? Oder etwas anderes, mehr als das? Vielleicht hatten sie seine Pläne durchkreuzt, bevor er vollenden konnte, was er angefangen hatte. Oder er hatte überhaupt kein Motiv gehabt.

Unwillkürlich dachte Doug an das Kündigungsschreiben, das William Faulkner eingereicht hatte, nachdem er für kurze Zeit beim Postal Service gearbeitet hatte: »Ich will verflucht sein, wenn ich mich bereit erkläre, nach der Pfeife eines jeden dahergelaufenen Schurken zu tanzen, der zwei Cents für eine Briefmarke hat.«

Vielleicht hatte John Smith ein Motiv gehabt, das genauso einfach war.

Aber Doug wusste, dass sie das nie erfahren würden. Sie würden nie erfahren, was der Postbote gewollt hatte, ob er gescheitert war oder Erfolg gehabt hatte.

Das war auch nicht mehr wichtig.

Nichts davon war jetzt noch wichtig.

Es war zu Ende. Es war vorbei.


Am späten Vormittag holten Doug und Trish Billy vom Krankenhaus ab, und Doug schaltete den Fernseher ein, während Trish für ihren Sohn ein Bett auf der Couch machte. Zum ersten Mal seit fast zwei Wochen kam Doug das Haus nicht wie eine belagerte Festung vor, wie ein zeitweiliger Unterschlupf, in dem er schlief. Jetzt war es wieder ein Zuhause.

Trish goss ein Glas Limonade ein und brachte es Billy.

»Dad?«, fragte Billy von der Couch aus.

Doug drehte sich um. »Ja?«

»Es ist vorbei, oder?«

Er nickte seinem Sohn zu. »Ja«, sagte er. »Endgültig.«

»Endgültig.« Billy atmete dankbar auf und lehnte sich in sein Kissen zurück.

Sie überzeugten sich davon, dass Billy es bequem hatte; dann ging Trish in die Küche, um ihm sein Lieblingsessen zu kochen: Makkaroni mit Käse und klein geschnittenen Würstchen. Das war ungefähr so nahrhaft wie Verbandmull, aber dies war ein besonderer Anlass, und er verdiente es, dass er sein Leibgericht bekam.

Doug schaltete im Fernsehen Channel 5 ein, damit Billy Dick Van Dyke sehen konnte, und ein paar Minuten lang blieb er bei ihm sitzen. In einer Werbepause ging er auf die Veranda. Eine Zeitlang blieb er dort stehen; dann ging er über die Auffahrt zum Briefkasten. Es war ein schöner Spätsommertag. Es war heiß, aber nicht unangenehm; die unbarmherzige Hitze im Juni und Juli war vorbei. In den Bäumen zwitscherten die Vögel, und der Himmel war wolkenlos und blau. Ein leichter Wind wehte, der Dougs Gesicht kühlte, als er zum Briefkasten ging.

Der Kasten war offen.

Doug trat vor, um hineinzuspähen.

Er erinnerte sich an das Geräusch des Wagens in der vergangenen Nacht und spürte, wie die vertraute Kälte in seinen Körper zurückkroch. Zögernd griff er in den Kasten und holte die Umschläge heraus. Das Papier war schwarz und fühlte sich merkwürdig an, dick und leicht schleimig, als wäre es aus irgendetwas Organischem hergestellt. Der Inhalt war schwer und besaß eine seltsame Form.

Eine Woge der Abscheu überschwemmte Doug. Er verspürte das plötzliche Verlangen, die drei Umschläge auf den Boden zu werfen und zu zertrampeln. Ohne sich ihren Inhalt anzusehen, wusste er: Was immer die Umschläge enthielten, war böse, schlecht und verderbt.

Er sah sich jeden Umschlag genau an. Auf der Vorderseite standen Trishs, Billys und sein eigener Name, geschrieben in altenglischer Schrift. Keine Adressen.

Doug fragte sich, ob andere Leute in der Stadt auch solche Briefe bekommen hatten. Ob jeder in der Stadt solche Briefe bekommen hatte.

Er starrte auf die Schreiben.

In dem Umschlag, der an ihn adressiert war, wand sich etwas.

Doug ließ die drei Umschläge auf den Boden fallen und sprang schaudernd zurück. Er wollte schon darauf treten, wollte töten und zerquetschen, was immer sich in dem schwarzen Papier befand; dann aber hatte er eine bessere Idee und lief so schnell er konnte über die Einfahrt zum Wagen. Er öffnete die Fahrertür, beugte sich über den Fahrersitz und klappte das Handschuhfach auf. Er kramte unter der Taschenlampe, den Reparaturrechnungen, den Putztüchern und den Landkarten vom Automobilclub herum, bis er fand, was er suchte.

Ein Streichholzheftchen.

Er ging die Auffahrt zurück zu der Stelle, wo die Umschläge lagen. Behutsam hob er die beiden Briefe mit Billys und Trishs Namen auf und legte sie auf seinen. Er zündete ein Streichholz an, schirmte die zaghafte Flamme mit der gewölbten Hand ab und beobachtete, wie sie größer wurde. Dann beugte er sich vor, hielt die Flamme an den Rand des obersten Umschlags.

Doug sah zu, wie die seltsamen, vielfarbigen Flammen, mal blau, mal rot, sich über das dicke, schleimige Papier ausbreiteten. Irgendwie hatte er gehofft, sehen zu können, was darin war, sobald die Flammen den Umschlag verzehrt hatten, doch in letzter Sekunde schaute er weg.

Irgendetwas sagte ihm, dass er es gar nicht wissen wollte.

Die Umschläge verbrannten rasch, hell leuchtend, und als das Feuer seine Arbeit getan hatte, war nur noch ein kleines Häufchen schwelender Asche übrig. Doug stampfte mit dem Fuß in den Haufen, und schwarze Flocken wirbelten über die Straße. Die leichte Brise wehte den Aschenstaub über den Boden und verteilte ihn. Doug beobachtete, wie die Asche in den Graben tanzte und unter die Sträucher schwebte, bis jede Spur verschwunden war.

Eine Zeitlang blieb er stehen und starrte auf die Stelle, an der die Briefe gelegen hatten. Als er zum offenen, leeren Briefkasten schaute, wurde ihm bewusst, dass dies das erste Mal seit Beginn des Sommers war, dass er sich nicht vor diesem Anblick fürchtete.

Er war frei.

Die Stadt war frei.

Der Postbote war verschwunden.

Er atmete tief durch. Das Mittagessen wartete auf ihn. Er roch die Würstchen, die Makkaroni und den Käse. Vom Haus her hörte er die willkommenen Klänge von Billys und Trishs Stimmen und das Lachen aus dem Fernsehen.

Er hatte viel zu tun. Er musste einen Geräteschuppen bauen. Er fühlte sich gut, ja glücklich. Lächelnd schloss er die Klappe des Briefkastens und ging über die Auffahrt zum Haus zurück.

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