40.

Das Begräbnis war kurz und spärlich besucht. Hobie Beecham war auch zu seinen besten Zeiten nicht der beliebteste Mann in Willis gewesen, und die erfolgreiche Verleumdung Hobies durch den Postboten hatte ein Übriges getan. Während Doug am offenen Grab stand, ertappte er sich bei dem Gedanken, ob wohl mehr Leute gekommen wären, wäre der Mord nicht geschehen. Der ständige psychische Angriff des Postboten auf die Stadt schien den Menschen viel Energie entzogen zu haben, hatte sie weniger gesellig und weniger vertrauensvoll gemacht. Er fragte sich, ob Bob Rondas Tod heute noch dieselbe Menschenmenge anziehen könnte wie vor einem Monat.

Es war makaber, ein Begräbnis als einen Beliebtheitswettbewerb zu betrachten, bei dem das abschließende Urteil über das Leben eines Menschen durch die Zahl der Trauergäste gefällt wurde. Doch es war auch auf merkwürdige Weise angemessen, denn viele Menschen bemaßen den Wert eines anderen nach der Zahl seiner gesellschaftlichen Beziehungen. Besonders in einer kleinen Stadt wie Willis. Ein Mann konnte reich, berühmt, erfolgreich sein, aber wenn er in Willis lebte und nicht verheiratet war, wenn er am Freitagabend allein zu Haus blieb, anstatt mit Freunden oder Familie auszugehen, dann stimmte definitiv etwas nicht mit ihm.

Und mit Hobie hatte schon immer etwas nicht gestimmt. Er hatte es selbst oft zugegeben. Sich Freunde zu machen, wie er immer gerne sagte, war nicht sein wichtigstes Ziel im Leben. Doug ertappte sich dabei, dass er lächelte, auch wenn seine Augen feucht waren. Hobie war laut gewesen, anstößig und leidenschaftlich unabhängig. Er war so, wie er war, und wenn es jemandem nicht gefiel, war es dessen Problem.

Hobie war überdies ein guter Freund und ein verdammt guter Lehrer gewesen. Der Friedhof wäre voll gewesen, wären all die Schüler gekommen, die Hobie im Lauf der Jahre unterrichtet hatte, denen er behilflich gewesen war, die er unterstützt und beraten hatte.

Doug blickte zu Trish hinüber. Zwischen Hobie und ihr war wirklich keine Liebe verloren gegangen, aber nun weinte sie, und mehr als der Sarg in der Grube, mehr als die Trauergemeinde, mehr als der Grabstein machten ihre Tränen ihm bewusst, dass sein Freund sie wirklich und wahrhaftig verlassen hatte.

Doug blickte zum Himmel, während auch ihm die Tränen über die Wangen liefen, und versuchte, an etwas anderes zu denken, damit er nicht zu schluchzen begann.

Billy nahm es schwer. Diesmal hatten Doug und Trish sich mit ihm zusammen hingesetzt, hatten alles besprochen und es ihm überlassen, ob er an der Beerdigung teilnehmen wollte oder nicht. Er hatte beinahe Ja gesagt, weil er sich verpflichtet fühlte und seine Betroffenheit zeigen wollte. Doch Trish hatte ihm versichert, dass sie nicht von ihm erwarte, mit zur Beerdigung zu gehen, und dass Hobie, wo immer er jetzt sei, das verstehen würde. Und so hatte Billy es vorgezogen, zu Hause zu bleiben. Diesmal gab es niemanden, der auf ihn aufpasste; deshalb machten Trish und Doug sich Sorgen, ihn allein zurückzulassen. Doch Billy hatte versprochen, alle Türen abzuschließen, die Fenster zu verriegeln und im oberen Stock zu bleiben, bis sie zurückkehrten. Doug sagte ihm, dass es in Ordnung sei, wenn er unten fernsah oder sich in der Küche etwas zu essen machte, doch Billy erklärte mit einer Unerbittlichkeit, die seine Eltern überraschte, dass er nicht nach unten gehen würde, bis sie zurück wären.

Passenderweise war der Himmel an diesem Morgen bedeckt, begräbnisgrau. Die Sturmsaison stand bevor, und von jetzt bis zum Herbst würde das Wetter durch die sich abwechselnden Extreme von trockener Hitze und kaltem Regen bestimmt. Doug sprach ein paar Worte am Sarg, ebenso wie mehrere andere Lehrer, und dann begann der Grabredner, der keiner Glaubensgemeinschaft angehörte, mit seiner Lobpreisung und Totenweihe. Noch ehe er geendet hatte, fiel bereits leichter Regen, der sich rasch in einen regelrechten Platzregen verwandelte. Niemand hatte einen Schirm mitgebracht, und so rannten alle über den Friedhof zu ihren Wagen.

Doug dachte an die Autos und Fahrzeugteile auf Hobies Grundstück und fragte sich, was wohl damit geschehen würde.

Er und Trish verließen als Letzte den Friedhof und gingen langsam zwischen den Grabsteinen entlang, obwohl der Regen heftig auf sie niederprasselte. Sie sahen, wie Yard Stevens' Lincoln den Parkplatz verließ und der kurzen Reihe von Fahrzeugen folgte, die die Straße entlangfuhren.

Hobies Eltern waren nicht gekommen, obwohl Mike gesagt hatte, dass sie benachrichtigt worden waren und sich um alle Arrangements gekümmert hatten. Doug ertappte sich bei der Frage, ob sie vielleicht das Begräbnis ihres Sohnes verpasst hatten, weil ihre Post manipuliert worden war. Es war gut möglich, dass sie einen Brief von der Friedhofsverwaltung bekommen hatten, in denen ihnen mitgeteilt wurde, dass Hobies Begräbnis auf Grund von Terminschwierigkeiten um einen Tag verschoben werden müsste. Vielleicht kamen sie erst morgen - nur um festzustellen, dass ihr Sohn bereits beerdigt und das Begräbnis vorbei war.

»Er hat ihn umgebracht«, sagte Doug laut. »So sicher, als hätte er ihm eine Kugel in den Kopf gejagt.«

»Ich weiß«, sagte Trish und drückte seine Hand.

Doug schwieg eine Zeitlang, während sie weitergingen. Seine Schuhe sanken im Matsch ein. »Lass uns von hier weggehen«, sagte er. »Lass uns diese verdammte Stadt verlassen.« Er blickte Trish an. »Lass uns abhauen.«

»Auf Dauer oder für einen Urlaub?«

»Beides.«

»Ich weiß nicht«, sagte sie zögernd. »Es kommt mir nicht richtig vor, alle hier im Stich zu lassen.«

»Im Stich lassen? Wen?«

»Alle. Unsere Freunde.«

»Diejenigen, die tot sind? Die verrückt geworden sind? Oder die, die verschwunden sind?«

Trish drehte sich zu ihm um. »Was ist los mit dir?«

»Nichts ist los mit mir. Ich will nur von hier weg, damit wir unser Leben zurückbekommen, solange wir noch ein Leben haben.«

»Und wer wird diesen Irren aufhalten?«

»Wer wird ihn denn aufhalten, wenn wir hier sind?« Doug fuhr sich mit der Hand durch das nasse Haar. »Falls du es noch nicht bemerkt haben solltest - wir haben ihn nicht dazu gebracht, seine Sachen zu packen. Zum Teufel, wir haben keinen einzigen Punkt gegen ihn herausgespielt. Wir haben absolut nichts erreicht. Vielleicht beruhigt sich alles, wenn wir gehen.«

»Und wer wird ihn bekämpfen?«

Sie starrten sich durch den Regen an. Doug blickte den Hügel hinunter zum Postamt und sah, dass die Flagge wie zum Hohn auf Halbmast hing.

»Wir können nicht gehen«, sagte Trish. »Wir haben hier eine Verantwortung.«

»Ich habe genug von der Verantwortung.«

Der Regen hörte abrupt auf, als wäre im Himmel ein Hahn zugedreht worden, aber Doug liefen immer noch Rinnsale übers Gesicht, und ihm wurde bewusst, dass er weinte. Trish streckte zögernd die Hand aus, berührte seine Wange, seine Stirn, sein Kinn. Sie trat auf ihn zu, legte die Arme um ihn und zog ihn zu sich heran. Sie hielt ihn fest, und sie blieben lange, lange Zeit so stehen.


Zum Abendessen gab es Tortillas mit Hühnchen - ein Gericht, das sie alle drei mochten. Trish hatte den größten Teil des Nachmittags mit der Zubereitung verbracht, doch keiner schien großen Appetit zu haben, und sie stocherten schweigend in ihrem Essen herum, jeder in seine Gedanken versunken.

Mitten in der Mahlzeit fiel wieder der Strom aus, und Trish nahm die Streichhölzer und zündete die Kerzen an, die sie auf den Tisch gestellt hatte. Der Strom war in letzter Zeit so oft ausgefallen, dass sie jetzt als Ersatzbeleuchtung in jedem Zimmer Kerzen und Taschenlampen aufbewahrten. Es wurde langsam zu einer Selbstverständlichkeit. Wenn dieses Martyrium sie etwas lehrte, dann war es Genügsamkeit und die Einsicht, dass sie all die Annehmlichkeiten, von denen sie bisher gedacht hatten, dass sie zum Überleben notwendig seien, eigentlich nicht brauchten. Trish fragte sich, wie einige der älteren Leute in der Stadt zurechtkamen.

Der Grund für die ständigen Stromausfälle war offensichtlich: Der Postbote wollte ihren Widerstand brechen, wollte sichergehen, dass sie wussten, dass sie sich auf nichts verlassen konnten. Wie er die Stromausfälle zuwege brachte, wie er die Einwohner der Stadt von Wasser, Gas und Telefonanschluss abschnitt, wusste noch immer niemand. Trish und Doug hatten inzwischen oft mit den Büros der jeweiligen Versorger gesprochen, doch die Antworten, die sie bekamen, waren vage und wenig aufschlussreich und hatten meist etwas mit Bußgeldern, gesetzlichen Strafen und Korrespondenz zu tun.

Papiere, die von der Post durcheinandergebracht worden waren.

Einem Vertreter der städtischen Gas- und E-Werke zufolge konnten sie ihre Dienste nicht leisten, weil ihnen selbst das Wasser und die Elektrizität vom Erzeuger - dem Salt River Project in Phoenix - abgestellt worden waren. Das Project hatte abwechselnd gesagt, dass die Stadt Willis ihre Rechnungen nicht bezahlt habe oder dass ihre Quote bereits geliefert worden sei. Als Beweis wurde auf Rechnungen verwiesen, die sie mit der Post bekommen hätten.

Doch der Vertreter versicherte Doug und Trish, dass die Probleme bald gelöst und die Wasser- und Stromversorgung wiederhergestellt würden.

Ironischerweise wohnten diejenigen, die wohl die geringsten Schwierigkeiten hatten, sich an die neuen Umstände anzupassen, in den Außenbezirken der Stadt; es waren die Leute, die ohnehin unter einfachen Bedingungen lebten. Mit ihren Brunnen, Abwassertanks und den mit Butan betriebenen Generatoren ging ihr Leben weiter wie bisher, während die anderen Einwohner sich an kalte Küche, kalte Duschen und Kerzenlicht gewöhnen mussten.

»Ich hoffe, das geht jetzt nicht die ganze Nacht so«, sagte Trish.

Doug biss in seine Tortilla. »Wahrscheinlich schon.«

Billy ließ seine Gabel fallen, und sie schepperte laut auf den Teller. Er hatte kaum etwas gegessen, hatte die Tortilla nur klein geschnitten und damit herumgespielt.

Trish warf ihm einen strengen Blick zu. »Iss auf«, sagte sie.

Billy stöhnte. »Ich will ...«

Ein Stein krachte durchs Fenster. Das Glas zersplitterte explosionsartig, ohne durch die geschlossenen Vorhänge gedämpft zu werden. Mit dumpfem Knall traf ein zweiter Stein gegen die Außenwand.

»Scheißkerl!«, schrie jemand wütend. Es war die Stimme eines erwachsenen Mannes, nicht die eines Teenagers.

Sofort schob Doug den Stuhl zurück und warf ihn um, als er um den Tisch herum zur Vordertür rannte.

»Lass es!«, rief Trish. Ihr Gesicht war weiß vor Angst. Auch Billy sah verängstigt aus.

Doug spürte, wie sein Herz hämmerte, doch er stürzte trotzdem zur Tür.

Wieder krachte ein Stein gegen die Wand.

Wieder die Stimme: »Scheißkerl!«

Und dann das Geräusch von aufspritzendem Kies und dem aufheulenden Motor eines Pick-up, der davonraste.

Doug riss die Tür auf und kam noch rechtzeitig auf die Veranda, um die Rücklichter des Kleinlasters zu sehen, der zwischen den Bäumen verschwand. Über der Auffahrt schwebte noch eine Wolke aus Staub und Auspuffgasen. Doug blickte auf den Boden. Auf der Veranda zu seinen Füßen lagen mehrere Steine, die ungefähr die Größe von Softbällen hatten. Sie waren mit solcher Wucht geworfen worden, dass sie splittrige Dellen in die Holzwand des Hauses geschlagen hatten. Wie zum Teufel hatte jemand dicht genug an das Haus heranfahren können, um Steine dieser Größe zu werfen, ohne gehört zu werden?

Weiter die Straße hinunter, im stillen Wald, hörte Doug triumphierendes Geheul und Geschrei, das leiser wurde, während der Pick-up sich entfernte.

»Was war das?« Trish stand in der Tür, zitternd, die Hände auf Billys Schultern.

»Ich weiß es nicht.«

»Warum wirft jemand Steine gegen unser Haus?«

»Warum glauben die Nelsons, dass wir ihren Hund getötet haben? Warum hat Todd geglaubt, dass ich ihn verfolge?« Doug blickte seinen Sohn an. »Du weißt nicht, wer das war, oder?«

Billy, noch immer voller Angst, schüttelte den Kopf.

»Ich habe auch nicht damit gerechnet. Kommt, gehen wir rein.« Doug ließ Trish und Billy ins Haus gehen; dann schloss er die Tür hinter sich und verriegelte sie. Morgen würde er jemanden suchen müssen, der das Fenster ersetzte. Er schaute sich im vorderen Teil des Wohnzimmers um. Im Kerzenlicht glitzerten Glasscherben und Splitter auf dem Stuhl und einem Teil der Couch. Für den Fall, dass so etwas noch einmal geschah, würden sie die Möbel umstellen müssen. Sonst bestand die Gefahr, dass Trish, Billy oder er selbst von einem Stein getroffen oder von herumfliegenden Glasstücken verletzt wurden.

Dougs Muskeln waren angespannt. Obwohl er wissen wollte, wer die Steine geworfen und in dem Pick-up gesessen hatte, erkannte er verwundert, dass er nicht allzu wütend auf die Angreifer war. Er betrachtete die Einwohner von Willis immer mehr als Opfer des Postboten oder als Marionetten, die von seinem Willen gelenkt wurden. Es war der Postbote, den Doug für alles verantwortlich machte - vom Tod der Menschen und Hunde über die rassistischen Angriffe bis zum Ausfall der Strom-, Wasser- und Gasversorgung und des Telefons. Oder litt er bereits unter Verfolgungswahn? Nein, so weit hergeholt es auch klingen mochte - Doug wusste, dass es die Wahrheit war. Er schrieb dem Postboten keine Allmacht zu; er erkannte nur eine gegebene Situation an. Er wäre kein bisschen überrascht gewesen, hätte er erfahren, dass der Postbote alle Ereignisse so hatte ablaufen lassen, dass sie in ihm genau jene Art von Zweifeln weckten, die er jetzt verspürte.

Doug schüttelte den Kopf. Er sah wirklich schon Gespenster.

Trish räumte bereits das Abendessen ab. Sie hatten noch nicht zu Ende gegessen, doch ihnen war der Appetit vergangen. Doug ging zu ihr, um ihr zu helfen. Sogar Billy brachte seinen Teller in die Küche, obwohl es ihm sonst nicht im Traum eingefallen wäre, sich freiwillig an irgendwelcher Schwerstarbeit für die Familie zu beteiligen.

Auf der Straße fuhr ein Wagen mit voll aufgedrehter Stereoanlage vorbei, und alle drei verspannten sich, als sie warteten, ob er in ihre Auffahrt einbog. Der Wagen fuhr weiter, der Lärm der Musikanlage und des Motors wurde leiser. Schweigend blickten die drei sich an; dann räumten sie weiter das Geschirr ab.

Der leichte Nachtwind blies den Vorhang vor dem zerbrochenen Fenster ins Zimmer.

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