14.

Trish saß allein auf der Veranda. Sie war deprimiert, was untypisch für sie war. Doug und Billy waren nicht da: Doug war bei seinem Meeting und Billy irgendwo mit Lane unterwegs. Trish war ganz allein. Normalerweise war sie gerne für sich. Sie hatte nur noch so selten Zeit für sich selbst, dass sie dankbar war, wenn sich die Gelegenheit bot. Aber heute hatte sie ein seltsames Gefühl.

Der Kassettenrecorder stand neben ihr auf den Holzdielen der Veranda. Als sie ihn vorhin eingeschaltet hatte, hatte das Band sich viel zu langsam gedreht, aber sie hatte drei Batterien aus einem von Billys alten, ferngesteuerten Autos stibitzt und eine vierte in einer Küchenschublade gefunden, und jetzt spielte das Gerät perfekt. Sie hatte die Lautstärke aufgedreht. George Winston. Normalerweise wählte sie etwas aus, das zu ihrer Stimmung passte, aber heute erschien ihr die Musik völlig ungeeignet. Sie passte zwar zum blauen Sommerhimmel und dem grünen Wald, doch nicht zu Trishs Innerem. Sie fühlte sich hoffnungslos aus dem Takt.

Trish starrte in die Bäume, ohne sie wahrzunehmen. Ihr Bewusstsein war weit weg.

Trish dachte an etwas ganz anderes.

Sie dachte an den Postboten.

Sie hatte Doug nicht erzählt, dass sie den Mann in der vergangenen Nacht gesehen hatte, und auch nichts von dem Albtraum danach, auch wenn sie sich nicht sicher war, warum sie es verschwieg. Es war eigentlich nicht ihre Art, Doug etwas vorzuenthalten. Sie hatten immer eine enge und ehrliche Beziehung gehabt, hatten einander alles anvertraut, hatten ihre Hoffnungen geteilt, ihre Ängste, Gedanken und Meinungen. Doch aus irgendeinem Grund brachte Trish es nicht fertig, mit Doug über den Postboten zu reden. Die Wahrheit war, dass sie nicht mit Doug reden und ihm nicht sagen wollte, was passiert war. Trish hatte sich noch nie so gefühlt, hatte noch nie so etwas erlebt, und es machte ihr mehr Angst, als sie sich einzugestehen bereit war.

Doug hatte an diesem Morgen nicht die Post geholt, ehe er gegangen war, und Trish selbst war zu verängstigt gewesen, um zum Briefkasten zu gehen. Also hatte sie Billy geschickt und ihn von der Veranda aus beobachtet, um sicherzugehen, dass nichts passierte. Billy kam mit drei Briefen zurück: zwei für Doug und einer für sie. Der Brief lag jetzt rechts neben ihr auf dem kleinen Tisch, auf den sie ihren Eistee gestellt hatte. Sie hatte den Umschlag nicht gleich öffnen wollen, obwohl er von Howard kam und sie eigentlich nichts Schlimmes erwartete, und hatte ihn erst einmal beiseitegelegt. Nun nahm sie den Brief in die Hand und riss ihn auf. Er war an sie adressiert, doch in der ersten Zeile stand »Liebe Ellen«. Trish runzelte die Stirn. Das war seltsam. Andererseits hatte Howard in letzter Zeit eine Menge Stress gehabt. Das musste sich schließlich irgendwie zeigen. Sie las weiter:


Liebe Ellen,

es tut mir leid, dass ich am Samstag nicht kommen konnte, aber ich musste zu einem Dinner zu den Albins. Was für ein schrecklicher Abend. Das Essen war schrecklich, das Kind ist ein verzogenes Balg, und Albin und seine Frau sind so stinklangweilig wie immer. Trish, diese scheinheilige Ziege ...


Sie las nicht weiter. Sie fühlte sich, als ob man ihr alle Luft aus den Lungen gesogen hätte und als hätte sie plötzlich ein Loch in der Magengrube. Sie blickte wieder auf den Brief, doch die Worte verschwammen vor ihren Augen, in denen Tränen standen.

Trish war überrascht von der Heftigkeit ihrer Reaktion. Sie war kein allzu empfindlicher Mensch, wenn es um sie selbst oder ihre Kochkunst ging, und sie hatte nichts gegen konstruktive Kritik einzuwenden. Doch diese Art von Verrat ihrer Familie gegenüber - und das von einem Freund wie Howard - schmerzte heftig. Verdammt heftig. Wütend wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht, faltete den Brief zusammen und steckte ihn in den Umschlag zurück. Howard hatte offensichtlich vorgehabt, sowohl ihr als auch Ellen Ronda einen Brief zu schicken, und unbedacht die Briefe in die falschen Umschläge gesteckt.

Ellen las jetzt zweifellos von dem netten Abend und dem wunderbaren Abendessen, das Howard gehabt hatte.

Normalerweise war Trish nicht so emotional und leicht zu verletzen, aber, verdammt noch mal, sie hatte versucht, Howard durch eine schwere Zeit zu helfen, und dieser hinterhältige Dolchstoß traf sie tief. Sie und Doug hatten Howard stets für einen Freund gehalten. Vielleicht kein enger Freund, aber ein guter Bekannter, mit dem sie beide gerne zusammen waren.

Warum tat er so etwas? Wie konnte er so heuchlerisch sein? Howard war nie ein hinterlistiger oder doppelzüngiger Mann gewesen. Ehrlichkeit war immer seine größte Stärke und zugleich seine größte Schwäche gewesen. Er hatte nie gezögert auszusprechen, was er dachte, ungeachtet der Folgen. Es wäre eine Sache gewesen, hätte Howard offen gesagt, dass er nicht zum Abendessen kommen wollte oder nicht gerne mit ihnen zusammen war oder dass ihm das Essen nicht schmeckte, aber dazusitzen und sie anzulügen ...

Das Telefon klingelte. Trish ließ den Brief auf das Tischchen fallen, erhob sich von ihrem Butterfly Chair und eilte über die Veranda ins Haus zurück. Beim fünften Klingeln erwischte sie den Telefonhörer und räusperte sich, um die Gefühle aus ihrer Stimme zu vertreiben. »Hallo?«

»Er ist hinter mir her.« Das Flüstern am anderen Ende der Leitung war voller Panik, an der Grenze zur Hysterie, und zuerst erkannte Trish die Stimme nicht. »Er ist jetzt hier ...«

»Wie bitte?«, fragte Trish verwirrt.

»Ich glaube, er ist jetzt im Haus«, flüsterte die Frau.

Jetzt erkannte Trish die Stimme. Ellen Ronda. Trish war schockiert, wie anders Bobs Witwe mit einem Mal klang. Verschwunden war die kühle Stimme, die Trish gehört hatte, solange sie zurückdenken konnte, verschwunden auch die schmerzerfüllte Verzweiflung am Tag des Begräbnisses. An ihre Stelle war nun Furcht getreten. Panische Angst.

»Wer ist hinter Ihnen her?«, fragte Trish.

»Er hält sich für schlau. Aber ich kann seine Schritte hören.«

»Verlassen Sie das Haus. Rasch!«, sagte Trish. »Gehen Sie irgendwohin, und rufen Sie die Polizei.«

»Die Polizei habe ich schon angerufen. Sie wollten mir nicht helfen. Sie haben gesagt ...«

Ellens Stimme wurde abrupt abgeschnitten, und der tiefe Bariton eines Mannes erklang. »Hallo?«

Trish schlug das Herz bis zum Hals. Sie brauchte all ihren Mut, ihre ganze innere Stärke, um nicht aufzulegen. »Wer ist da?«, fragte sie mit der einschüchterndsten Stimme, die sie zustande brachte.

»Hier ist Doktor Roberts. Wer sind Sie?«

»Oh, Sie, Doktor!« Trish entspannte sich und atmete erleichtert auf. Im Hintergrund konnte sie hören, wie eine männliche und eine weibliche Stimme miteinander sprachen. »Hier ist Trish Albin.«

»Hallo, Trish. Ich habe den Rest Ihres Gesprächs mitgehört. Ellen hat Ihnen gesagt, dass sie verfolgt wird, stimmt das?«

»Ja.«

»Tut mir leid, dass Sie sie gestört hat. Ihre Söhne haben versucht, ein Auge auf sie zu halten, aber sie können Ellen nicht vierundzwanzig Stunden am Tag beobachten, und in letzter Zeit erzählt sie jedes Mal, wenn sich die Gelegenheit bietet, dass sie verfolgt wird.« Er atmete tief ein, und das Atmen kam schwer und rau durchs Telefon. »Ich weiß noch nicht, was wir unternehmen werden. Die Jungs wollen nicht einmal darüber nachdenken, aber ich habe ihnen gesagt, dass ihre Mutter professionelle Hilfe braucht. Ich kann sie nicht einfach nur mit Medikamenten vollpumpen. Und ihre emotionale Situation ist bei weitem zu schlecht, als dass ich als Arzt damit fertig werden könnte. Sie braucht einen Psychologen. Vielleicht muss sie sogar für einige Zeit in eine Klinik. Wer weiß? Ich bin mit Sicherheit kein Experte für diese Dinge.«

»Was ist mit ihr passiert?«, fragte Trish.

»Trauer und Schmerz. Unterdrückte, aufgestaute Gefühle, die plötzlich ein Ventil finden. Wie ich schon sagte, ich bin kein Experte, aber es ist klar, dass Bobs Selbstmo ... äh, sein Tod der Auslöser ist und wie ein Katalysator gewirkt hat.« Der Streit im Hintergrund wurde lauter, hitziger. »Tut mir leid, aber Sie müssen mich jetzt entschuldigen. Ich glaube, hier entwickelt sich gerade ein Notfall. Vielen Dank für Ihre Geduld und Unterstützung. Wir bleiben in Kontakt.«

Er unterbrach das Gespräch, ehe Trish sich verabschieden konnte. Langsam legte sie den Hörer auf. Aus irgendeinem Grund fühlte sie sich schuldig, als hätte sie irgendwie Ellens Vertrauen missbraucht. Es war ein merkwürdiger Gedanke, völlig unlogisch - andererseits war das ganze Gespräch mehr als nur ein wenig seltsam gewesen. Trish war erleichtert gewesen, als der Arzt sich gemeldet hatte, und dankbar die Zügel der Verantwortung weiterreichen zu können, aber sie war nicht in der Lage gewesen, dies aus vollem Herzen oder mit reinem Gewissen zu tun, obwohl sie dem Arzt völlig vertraute.

Trish verließ das Haus, ging auf die Veranda zurück und setzte sich benommen wieder auf ihren Stuhl. Ellen hatte offensichtlich ernste emotionale oder psychische Probleme, doch für einen Augenblick, bevor der Arzt sich gemeldet hatte, hatte Trish tatsächlich geglaubt, dass jemand hinter Ellen her sei ... dass jemand in ihrem Haus gewesen sei ...

Und sie wusste genau, wer dieser Jemand war.


»Wow, jetzt guck dir mal die Titten von der da an.« Lane grinste breit.

Billy lächelte schwach. Sie saßen auf dem Boden im Fort und blätterten die Playboys durch. Normalerweise wäre Billy von der Lektüre genauso gefesselt gewesen wie Lane, aber heute war es anders. Er fühlte sich ruhelos, unbehaglich, gelangweilt. Er starrte auf das Magazin auf seinem Schoß, auf das Foto der Frau mit der Postbotenmütze. Sie war ohne Zweifel die schönste und perfekteste Frau in all den Playboys, aber heute empfand Billy keine Erregung, wenn er sie betrachtete. Er fühlte sich nicht wohl. War da etwas Vertrautes in ihren Augen? Sah ihr Mund aus wie ... seiner?

Hör damit auf, sagte er sich. Er zwang sich, ihre braunrosa Brustwarzen und die perfekt geformten Brüste anzuschauen. An ihrem Busen war nichts, was ihn an den Postboten erinnerte oder was auch nur eine Spur ungewöhnlich oder maskulin gewesen wäre. Es waren schöne, erregende Frauenbrüste.

Und doch ...

»Weißt du was?«, sagte Lane. Seine Stimme klang beiläufig, gleichgültig, aber es war keine echte Gleichgültigkeit. Billy kannte Lane fast sein Leben lang und konnte schon am Klang seiner Stimme erkennen, wann sein Freund log, und manchmal sogar, was er dachte. Deshalb wusste Billy, dass Lanes Gleichgültigkeit nur gespielt war.

»Was?«, fragte Billy ebenso cool.

Lane blickte sich langsam um, als wollte er sichergehen, dass niemand von draußen in das Hauptquartier spähte. Dann zog er einen zerknitterten, gefalteten Umschlag aus der Hosentasche und reichte ihn Billy. »Sieh dir das mal an.«

Billy besah sich die Außenseite des Umschlags. Er war an Lane adressiert; der Absender in der oberen linken Ecke lautete »Tama Barnes«. »Guck rein«, drängte Lane.

Billy nahm das gefaltete Papier heraus. Es war ein Brief, offensichtlich in weiblicher Handschrift. Er drehte den Brief um. Unter den geschwungenen Buchstaben war die kopierte Fotografie einer nackten Hispano-Frau. Sie lächelte. Ihre Hände hatte sie um die Brüste gelegt, die Beine waren weit gespreizt. Das fotokopierte Bild war zu verwaschen, dunkel und verschwommen, um Details zu erkennen, doch Billy hatte jede Menge Details in den Magazinen auf dem Boden gesehen, und sein Gedächtnis ergänzte, was seine Augen nicht sehen konnten.

»Lies den Brief«, sagte Lane und grinste.

Billy drehte den Brief um und las. Das Schreiben begann mit einer normalen Begrüßung, kam dann aber rasch auf die sexuellen Freuden zu sprechen, die Tama Lane bereiten wollte, all die Techniken, in denen sie Expertin war. Billy musste grinsen, als er las, was Tama mit Lanes »Liebespumpe« machen wollte. »Worüber lachst du?«, fragte Lane. »Ich wette, sie weiß nicht, dass du erst elf bist.«

»Ich bin alt genug«, verteidigte er sich. »Und außerdem hab ich ihr schon einen Brief zurückgeschickt.«

»Du hast was?« Billy starrte ihn an. »Lies das Ende.«

Billy drehte den Brief um. Sein Blick huschte zum letzten Absatz:


... Vielleicht könnten wir uns mal treffen. Ich glaube, wir würden viel Spaß miteinander haben. Wenn du mir zehn Dollar schickst, schicke ich dir ein paar scharfe Fotos von mir und meiner Schwester, zusammen mit unserer Adresse. Ich hoffe, bald von dir zu hören. Ich würde mich sehr freuen, wenn du kommst und mich besuchst.


Billy schüttelte den Kopf und blickte von dem Brief hoch. »Was bist du für ein Trottel. Siehst du denn nicht, dass das nur ein Trick ist, um an dein Geld zu kommen?« Billy zeigte auf das fotokopierte Bild. »Das haben sie wahrscheinlich aus einem Magazin ausgeschnitten.«

»Ach ja?«

»Ja. Außerdem ... sieh mal, wo dieses Postfach ist. New York. Selbst wenn sie dir wirklich ihre echte Adresse schickt, was wirst du dann machen? Nach New York fahren?« Er gab Lane den Brief. »Du hast keine zehn Dollar geschickt, oder?« Lane nickte. »Doch«, gab er zu.

»Blödmann«, sagte Billy und blickte seinen Freund neugierig an. »Woher hast du eigentlich das Geld?« Lane sah zur Seite. »Von meinem Alten.«

»Du hast es geklaut?« Billy war entsetzt.

»Was sollte ich denn machen? Ihm erzählen, dass ich zehn Dollar brauche, um sie Tama Barnes zu schicken, damit ich ihre Bilder und ihre Adresse kriege?«

»Du hättest das Geld nicht klauen sollen.«

»Ach, du kannst mich mal. Mein Alter hat massenweise Knete. Er hat nicht mal gemerkt, dass es weg war.«

Billy blickte auf die Zeitschrift, die aufgeschlagen auf seinem Schoß lag, und sagte nichts. Er und Lane stritten sich öfters, beleidigten sich manchmal sogar, aber jetzt lag in der Stimme seines Freundes etwas anderes - eine Härte, eine Streitlust, eine Drohung, die besagte, dass dies kein Thema für einen Streit war, zumindest nicht für ihre übliche, spielerische Art der Auseinandersetzung.

Eine Zeitlang waren sie still. Das einzige Geräusch im Fort war das leise Rascheln beim Umblättern der Seiten.

»Wahrscheinlich hast du recht«, sagte Lane schließlich. »Wahrscheinlich kriege ich gar nichts. Wahrscheinlich bekomme ich nicht mal meine Bilder. Aber wer weiß?«

»Ja«, sagte Billy.

»Aber ich wette, sie hat eine hübsche Muschi.«

Lanes Stimme war wieder normal, doch unter der Oberfläche hatte sich etwas verändert, etwas, was sich nicht wieder zurücknehmen ließ, und irgendwie wusste Billy, dass dieser Augenblick ein Wendepunkt in ihrer Beziehung war. Er und Lane würden sich vielleicht nie wieder so nahe stehen wie zuvor, oder auch nur wie in diesem Augenblick. Es war eine traurige Erkenntnis, eine deprimierende Entdeckung, und obwohl Lane bald keine Lust mehr hatte, die Playboys anzuschauen und stattdessen zur Ausgrabungsstätte fahren und sehen wollte, was da vor sich ging, überzeugte Billy ihn, im Fort zu bleiben.

Als ob er so die Veränderung zwischen ihnen verhindern könnte ...

Die beiden blieben für den Rest des Morgens im Fort und redeten, sahen sich die Bilder an, lasen laut die Partywitze, waren die Freunde, die sie immer gewesen waren und - so hatten sie zumindest geglaubt - immer bleiben würden.

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