47.

Doug rief im Krankenhaus an, ehe er sich auf den Weg machte. Billy schlief immer noch. Gut. Das würde ihm Zeit verschaffen, rechtzeitig da zu sein. Er wollte an der Seite seines Sohnes sein, wenn dieser aufwachte.

Trish saß mit müden Augen auf ihrem Bett, das neben Billys stand. Sie war angezogen. Ihre Kleidung war verknittert, weil sie in den Sachen geschlafen hatte, und ihr Haar war zerzaust. Doug umarmte sie.

»Du siehst furchtbar aus«, sagte sie.

»Du siehst auch nicht viel besser aus.«

Beide schauten auf Billy. Im Schlaf sah sein Gesicht ausgeruht und völlig normal aus, als wäre nichts mit ihm geschehen und als würde er derselbe sein wie immer, sobald er aufwachte. Aber er würde nicht derselbe sein. Er würde nie wieder derselbe sein.

»Er ist wieder da«, sagte Doug. »Der Postbote. Ich habe ihn letzte Nacht gesehen. Er hat unsere Post gebracht.« Er hatte Trish bereits erzählt, dass der Mann erschossen worden war, hatte ihr aber verschwiegen, dass die Leiche verschwunden war; wider besseres Wissen hatte Doug gehofft, dass er und die Polizisten Smith' Körper in der Nacht einfach nicht gesehen hatten, dass er in irgendeinem Schatten lag oder irgendwohin gekrochen war, um zu sterben.

Trish wurde blass. »Er ist gestorben und zurückgekehrt?«

»Oder er ist gar nicht gestorben«, erwiderte Doug.

Ihre Miene ließ erkennen, wie ihr Mut schierer Angst und Verzweiflung wich. »Das war's dann also.«

Billy streckte sich, gähnte, stöhnte im Schlaf. Doug setzte sich auf die Bettkante und legte eine Hand auf die Stirn seines Sohnes. Er ertappte sich bei der Frage, warum der Postbote Billy und Trish nicht wirklich verletzt hatte. Smith war von Anfang an hinter ihm und seiner Familie her gewesen, doch als er Billy und Trish in seiner Gewalt gehabt hatte, hatte er ihnen praktisch nichts angetan.

Vielleicht konnte er ihnen nichts antun.

Billy fuhr hoch. »Nein!«, schrie er. »Nein!«

Doug packte Billys Schultern und drückte ihn sanft zurück. »Ist schon okay, Billy«, sagte er leise. »Du bist in Sicherheit. Du bist im Krankenhaus. Es ist vorbei. Dir kann nichts geschehen.«

Der Junge sah sich mit wildem Blick um wie ein verängstigtes Kaninchen.

»Wir sind hier. Es ist alles okay.«

Trish kam zu Billys Bett und nahm ihn in die Arme. Sie weinte. »Wir sind hier«, sagte sie. »Alles wird gut.«

Doug spürte die Tränen in seinen Augen, als er die Hand seines Sohnes nahm.

»Mom?«, sagte Billy zögernd. »Dad?«

»Ist alles in Ordnung?« Der Arzt kam ins Zimmer geeilt. Er sah, dass Billy wach war. »Wie fühlst du dich?«

Der Junge blickte ihn benommen an. »Müde.«

»Das liegt an den Beruhigungsmitteln«, erklärte der Arzt Doug und Trish. Er wandte sich wieder an Billy. »Du hast keine Schmerzen, oder?«

Billy schüttelte den Kopf.

»Gut. Dann ist es wahrscheinlich nur der Schock.« Er lächelte Billy an. »Ich möchte später noch ein paar Untersuchungen machen, wenn du dich dazu in der Lage fühlst. Doch erst einmal lasse ich dich mit deiner Mom und deinem Dad allein, okay?«

Billy nickte.

Der Arzt lächelte Trish und Doug zu, reckte den Daumen empor und verließ das Zimmer.

Als Trish, Doug und Billy allein waren, schwiegen sie eine Zeitlang.

»Kannst du dich erinnern, was passiert ist, Billy?«, fragte Doug schließlich mit leiser Stimme.

»Doug!« Trish funkelte ihn wütend an.

»Erinnerst du dich?«

»Lass ihn in Ruhe!«

Billy nickte schweigend.

»Hat er dir wehgetan?«, fragte Doug.

Billy schüttelte den Kopf. »Er konnte mich nicht berühren«, sagte er. Seine Stimme war nur ein brüchiges, geflüstertes Krächzen. »Er wollte es, aber er konnte nicht.«

Dougs Herz schlug schneller. »Was meinst du damit, dass er dich nicht berühren konnte?«

»Er konnte mich nicht berühren.«

»Warum?«

Billy blickte seinen Vater an; dann sah er zur Seite, beschämt, verlegen und unfähig zum Blickkontakt. »Ich weiß es nicht.«

»Denk nach.«

»Doug«, mahnte Trish.

»Er hat versucht, mir Briefe zu geben«, flüsterte Billy. »Er wollte, dass ich sie lese, und er wurde richtig wütend, als ich es nicht getan habe. Er hat gesagt, es wäre eine ... eine Einladung. Ich hab gedacht, er würde mich schlagen, aber es war, als ob ... als könnte er mich gar nicht anfassen. Als würde irgendwas ihn aufhalten. Er hat mich angeschrien und bedroht, aber ich wollte seine Einladung nicht haben. Er ist total ausgeflippt, hat mich aber nicht angefasst.«

»Du hast schreckliche Dinge durchgemacht«, sagte Trish. »Kein Wunder, dass du jetzt glaubst ...«

»Lass Billy reden.« Doug nickte seinem Sohn ermutigend zu. »Sprich weiter.«

»Das war's.«

»Er konnte dich nicht berühren?«

Billy schüttelte den Kopf.

»Was ist mit dem Kleid?«

Billy verbarg sein Gesicht im Kopfkissen. Seine Stimme war gedämpft. »Ich bin müde«, sagte er. »Hör mit den Fragen auf.«

»Was ist mit dem Kleid?«

»Er wollte, dass ich es anziehe.«

Doug strich seinem Sohn sanft übers Haar. »Okay«, sagte er. »Ist gut.« Er starrte auf das Kopfteil des Krankenhausbettes und versuchte sich zu erinnern, ob er jemals gesehen hatte, dass der Postbote jemanden berührt hatte oder nicht. Er hatte nicht.

Mit einem Mal erkannte Doug, weshalb der Postbote niemals mit einem der Morde in Verbindung gebracht werden konnte: Er hatte keinen dieser Morde begangen. Bob Ronda und Bernie hatten sich selbst umgebracht - ebenso wie Irene, Stockley und Hobie in den Selbstmord getrieben worden waren. Und so unvorstellbar es auch sein mochte: Giselle hatte Ellen Ronda mit dem Baseballschläger getötet.

John Smith' einzige Macht war die Post.

Was hatte Howard gesagt? Der Postbote verbrachte den ganzen Sonntag damit, in seinem Zimmer zu hocken? Und wenn er am Montag herauskam, war er müde, so als wäre er krank gewesen? Doug erinnerte sich, wie blass und schwach der Postbote am Tag nach dem vierten Juli gewirkt hatte.

Er musste die Post austragen, um zu überleben.

Trish schob Doug beiseite und strich Billy übers Haar. »Was ist nur los mit dir?«, fragte sie wütend. »Hat er nicht schon genug durchgemacht, auch ohne dass sein Vater ihn dazu bringt, sich noch einmal an alles zu erinnern?«

»Ich habe eine Idee«, sagte Doug. »Ich glaube, ich weiß jetzt, wie wir den Postboten loswerden.«

Ihre Blicke trafen sich, und er sah einen Funken Hoffnung in Trishs Augen. »Wie?«, fragte sie.

»Es ist verrückt, und vielleicht funktioniert es nicht ...«

»Wenn nicht, können wir immer noch nach Phoenix gehen und nie mehr zurückkommen.« Ihre Miene verdüsterte sich. »Das heißt, wenn er uns nicht folgt und uns findet.« Sie blickte Doug wieder an. »Und was ist das für eine Idee?«

»Wir kappen seine Lebensader. Wir stoppen die Post.«

»Was?«

»Das ist die einzige Möglichkeit für ihn, an uns heranzukommen. Du hast gehört, was Billy gesagt hat. Der Postbote konnte ihn nicht berühren. Und du? Dich hat er auch nicht berührt, oder?«

Trish erinnerte sich mit ekelhafter Deutlichkeit an das Gefühl seiner Erektion unter dem Uniformstoff, als sie sich im Badezimmer an ihm vorbeigeschoben hatte. Langsam schüttelte sie den Kopf.

»Siehst du? Er kann nichts weiter, als Menschen durch die Post zu manipulieren. Wenn wir die Leute dazu bringen können, keine Post mehr zu lesen oder zu schicken, können wir ihn loswerden. Aber wir müssen dafür sorgen, dass alle in der Stadt sich einig sind. Wirklich alle. Wenn es funktionieren soll, muss jeder in Willis mitmachen.«

»Ich habe mit einer der Krankenschwestern gesprochen«, sagte Trish. »Das dürfte kein Problem sein. Sämtliche Einwohner wissen, was vor sich geht, und alle haben Angst. Sie würden alles tun.«

»Wir müssen schnell handeln. Ich werde die Polizei bitten, mir zu helfen, und ein paar Lehrerkollegen anrufen. Ich möchte, dass sich heute Abend die ganze Stadt versammelt.«

»Heute Abend ist zu früh. So schnell verbreitet sich so etwas nicht ...« Trish verstummte. In der Tür stand Dr. Maxwell.

»Ich habe gehört, was Sie gesagt haben.« Er kam ins Zimmer. »Ich bin bereit, es zu versuchen.«

Doug blickte ihn an und lächelte. »Danke sehr.«

»Ich glaube, Sie werden es auf morgen Nacht verlegen müssen. Ich kann nicht da sein, und der größte Teil meines Personals ebenfalls nicht, aber Sie können ja vorher schon mit den Leuten reden. Ich nehme an, dass alle mitmachen.« Er sah Billy an, der immer noch sein Gesicht ins Kissen drückte. »Wir müssen ihn stoppen.«

»Falls man ihn stoppen kann«, sagte Trish.

»Ich glaube, das kann man«, erwiderte Doug.

Billys Stimme wurde vom Kissen gedämpft, war aber deutlich zu hören. »Das glaube ich auch«, sagte er.

Doug ergriff Trishs Hand und drückte sie fest.

Загрузка...