44.

Der Morgen war klar, kühl und sonnig. Es war der erste August. Doug wachte früh auf, duschte, rasierte sich und ging hinaus, um in den Briefkasten zu sehen. Erleichtert stellte er fest, dass dieser leer war.

Als er zum Haus zurückkam, war Trish aufgestanden. Sie machte Kaffee. Als Doug »Guten Morgen« sagte, lag Verärgerung in ihrer Miene, und als er den Gruß wiederholte, gab sie als Antwort nur ein unverständliches Grunzen von sich.

Doug schaltete den Fernseher ein. News at Sunrise, die vertraute, allmorgendliche Nachrichtensendung von NBC, erschien auf dem Bildschirm. Seitdem der Postbote verschwunden war, hatte es keine Probleme mit der Elektrizität gegeben, und auch Gas, Wasser und Telefon hatten ohne Unterbrechungen funktioniert. Das Leben, so schien es, kehrte langsam zur Normalität zurück.

Billy schlief noch. Trish trug Doug auf, ihn zu wecken und zum Frühstück herunterzuholen; sie weigerte sich, ihre kulinarischen Bemühungen zu unterbrechen, ehe Billy nicht auftauchte.

Trish machte Tortillas für alle und verwendete dazu Gemüse, das sie in ihrem Garten gezogen hatte. Sie frühstückten zusammen, und Trish kündigte an, dass sie an diesem Morgen zum Supermarkt fahren und ausgiebig einkaufen würden. Der Küchenschrank war nahezu leer, ebenso der Kühlschrank, und Trish hatte einen Stapel von Rabattcoupons, deren Verfallsdatum beinahe erreicht war. Sie machte sich daran, eine Einkaufsliste zu erstellen, während Doug das Geschirr abwusch und Billy abtrocknete.

»Okay«, sagte sie schließlich. »Fertig.«

»Ich will nicht mit«, sagte Billy.

»Du musst aber.«

»Warum?«

Trish blickte ihren Sohn an. Billy war reif für sein Alter, intelligent und kräftig, doch in den vergangenen zwei Monaten hatte er mit Dingen klarkommen müssen, mit denen die meisten Erwachsenen es nie zu tun bekamen. Trish spürte, wie eine seltsame Traurigkeit sie überkam, während sie in Billys müdes Gesicht blickte. Sie hatte immer gewollt, dass Billy so lange wie möglich Kind blieb und nicht zu schnell erwachsen wurde. Die Kindheit war eine besondere, eine magische Zeit, die man nur einmal erlebte. Zugleich war Trish der Ansicht, dass man Kinder nicht vor der Wirklichkeit abschirmen sollte. Ob es ihnen gefiel oder nicht, am Ende mussten sie in der realen Welt leben, und sie konnten sich besser in diese Welt hineinfinden, wenn sie angemessen darauf vorbereitet wurden.

Dieser Sommer jedoch - das war nicht die reale Welt gewesen. Die entsetzlichen Ereignisse der letzten zwei Monate würden Billy nicht auf die Zukunft vorbereiten. Nichts Vergleichbares würde jemals wieder geschehen.

Trish starrte Billy an, sah das Flehen in seinen müden Augen. Ihre Stimme wurde weich. »Okay«, sagte sie. »Du musst nicht mitfahren.«

Billy lächelte erleichtert, auch wenn in seinen Augen noch etwas anderes, Lauerndes lag. Die furchtbaren Geschehnisse hatten bei ihm wahrscheinlich Narben hinterlassen, von denen sie niemals erfahren würde. »Danke«, sagte er.

»Aber du musst im Haus bleiben«, warnte sie ihn. »Schließ alle Türen ab, und lass niemanden rein, bis wir zurück sind. Verstanden?«

Billy nickte.

»Okay.« Sie blickte zu Doug hinüber und sah sein zustimmendes Lächeln. Es schadete nie, vorsichtig zu sein.

Billy zog sich an und stand auf der Veranda, als seine Eltern in den Wagen stiegen und die Auffahrt hinunterfuhren.

Er ging ins Haus zurück und schloss die Tür ab. Sein Blick wurde auf die Sperrholzplatte gezogen, die immer noch das zerbrochene Fenster abdeckte. Er hoffte, dass bald dieser Typ kommen und das Fenster reparieren würde. Die Platte half beim Fernsehen am Nachmittag, weil sie das blendende Sonnenlicht nahezu völlig aussperrte, aber sie machte das Haus auch dunkel.

Dunkelheit mochte er nicht.

Billy wusste noch nicht, was er unternehmen würde, wenn seine Eltern zurück waren. Er überlegte, ob er die Zwillinge anrufen sollte, kam dann aber zu dem Schluss, dass er sie eigentlich nicht sehen wollte. Viel lieber wollte er etwas mit Lane unternehmen, aber er hatte Angst, seinen alten Freund anzurufen. Nachdem der Postbote weg und alles vorbei war, war Lane vielleicht wieder normal ... Aber vielleicht auch nicht, und Billy war nicht mutig genug, das herauszufinden.

Jetzt musste er erst einmal zur Toilette. Er ging durch die Küche in den Flur, betrat das Badezimmer und öffnete seinen Gürtel.

Dann erstarrte er.

Auf dem Rand des Waschbeckens stand ein Umschlag.

Ein zweiter lag auf dem geschlossenen Toilettendeckel.

Am liebsten hätte Billy losgeschrien, aber er wusste, dass niemand ihn hören würde. Seine Schreie würden nur alarmieren, wer immer da draußen war.

Der Postbote ...?

Oder hier drinnen.

Billy zog sich in das Schlafzimmer seiner Eltern zurück. Auf der Frisierkommode sah er einen verschlossenen Umschlag, einen anderen auf dem Bett.

Das Haus erschien ihm plötzlich unheimlich und Furcht erregend. Langsam, schweigend, ging er in das vordere Zimmer. Er merkte, dass die Platte vor dem Fenster fast den halben Raum ins Dunkel tauchte und schattige Ecken erzeugte, in denen sich jemand verstecken konnte.

Dann entdeckte Billy eine Spur aus Umschlägen, die die Treppe hinauf in sein Schlafzimmer führte.

Vorsichtig hob er den Hörer des Telefonapparats neben dem Fernseher ab. Die Leitung war tot.

Von oben hörte er ein Rascheln.

Er musste hier raus! Aber wohin konnte er gehen? Es gab nicht viele Häuser in der Nähe. Er konnte mit Sicherheit nicht zu den Nelsons gehen. Er konnte auch nicht zu Lanes Haus.

Das Fort!

Ja, das Fort. Er konnte zum Fort gehen und dort warten, bis seine Eltern nach Hause kamen. Er würde sich dort verstecken können und wäre in Sicherheit.

So leise er konnte öffnete Billy die Vordertür und ging auf die Veranda. Die Holzdielen knarrten unter seinen Füßen. Er blieb bewegungslos stehen und horchte, ob sich oben irgendetwas tat, bereit, sofort loszurennen. Doch er hörte nichts.

Billy war sich vorher nie bewusst gewesen, wie viele Geräusche die Veranda tatsächlich machte, und es schien eine quietschende und knarrende Ewigkeit zu dauern, ehe er die Stufen erreichte und sie hastig hinunterstieg. Der Kies unter seinen Füßen knirschte laut wie Donner, doch er ignorierte es und rannte so schnell er konnte den Weg zum Fort entlang. Er sprang über die vertrauten Felsbrocken und Baumstämme, machte einen Bogen um die berüchtigten Mesquitebüsche mit ihren langen Dornen. Mit einem Sprung war er auf dem getarnten Dach des Forts. Dann ließ er sich hineinfallen, schloss und verriegelte die Klapptür.

Einen Augenblick lang lag er am Boden, nach Atem ringend, versuchte die Luft anzuhalten und horchte, ob jemand ihn verfolgte. Doch das einzige Geräusch, das er hörte, war das abscheuliche Krächzen eines Eichelhähers in einem weit entfernten Baum.

Er war in Sicherheit.

Billy stand auf und betete, dass seine Eltern bald nach Hause kommen würden. Dass er bald das Geräusch ihres Wagens hören würde.

Wieder horchte er auf jedes fremde Geräusch, doch es war still.

Billy schaute sich im Hauptraum um. Jetzt, da Lane weg war, wirkte das Fort verlassen. Wenn er sonst ohne Lane hierhergekommen war, war es auch merkwürdig gewesen, aber es war immer noch ihr Fort gewesen. Jetzt wusste Billy nicht genau, wem es eigentlich gehörte. Das Fort befand sich im Grüngürtel nahe dem Haus seiner Eltern, aber das Baumaterial stammte von Lanes Vater, und sie hatten die ganze Arbeit gemeinsam erledigt. Es war seltsam ohne Lane.

Langsam bewegte Billy sich durch den Raum wie ein Fremder, berührte Gegenstände, die ihm einst vertraut gewesen waren, von denen er sich nun jedoch unglaublich weit entfernt fühlte. Alles kam ihm fremd vor, unheimlich, als gehörte es ihm nicht mehr. So musste ein Haus auf Leute wirken, die sich hatten scheiden lassen.

Immer wieder blieb er stehen, verharrte, horchte, ob es draußen irgendwelche Geräusche gab. Aber da war nur Stille.

Billy ging ins Hauptquartier und blickte auf den Stapel Zeitschriften auf dem Boden. Sogar die Playboys schienen ihm nicht mehr zu gehören - und ebenso wenig Lane. Die Zeitschriften schienen irgendwo in einer zeitlosen Zwischenwelt gefangen zu sein, ohne Eigentümer. Billy nahm eines der Hefte in die Hand. Es klappte »Girls in Uniform« auf und sah den nackten Körper der Briefträgerin.

»Billy Albin«, sagte eine Stimme.

Er bewegte sich nicht, hielt den Atem an und versuchte, kein Geräusch zu machen. Sein Herz hämmerte wild.

»Billy Albin.«

Der Postbote war direkt vor dem Fort. Irgendwie hatte er Billy aufgespürt und war ihm gefolgt. Billy war zu entsetzt, um sich zu bewegen. Unfähig, noch länger den Atem anzuhalten, versuchte er, leise auszuatmen, doch in der Stille klang das Geräusch wie ein Hurrikan. Die Schritte draußen verstummten.

»Billy.«

Er rührte sich nicht.

»Billy.«

Nun kam die Stimme von der anderen Seite, obwohl Billy keine Schritte gehört hatte, kein raschelndes Laub, überhaupt kein Geräusch.

»Billy.«

Wieder war da die Stimme - ein leises, beharrliches Wispern. Er wollte schreien, wagte es aber nicht. Der Postbote wusste offensichtlich, wo er war, doch Billy wollte es ihm nicht auch noch bestätigen. Vielleicht, wenn er sich ganz ruhig verhielt und abwartete, vielleicht würde der Postbote dann weggehen ...?

»Billy.«

Nein. Er würde bestimmt nicht weggehen.

Billy stand starr vor Angst da und überlegte verzweifelt, was er tun konnte. Es gab nur einen Eingang zum Fort und damit keine Möglichkeit, hier herauszukommen, ohne dass der Postbote ihn sah. Lane und Billy hatten oft darüber geredet, einen Notausgang zu bauen, indem sie einen Tunnel unter der Erde gruben, aber sie hatten es nie getan.

Billy zitterte jetzt am ganzen Körper. Welche Möglichkeiten hatte er? Nur eine: Wenn er es zum Dach schaffte, durch die Klapptür, ohne dass der Postbote ihn sah oder hörte ...

»Billy.«

... dann konnte er springen und sich in Sicherheit bringen.

Auf Zehenspitzen ging er in den Hauptraum zurück.

»Billy.«

Diesmal war die Stimme näher. Ganz nahe. Über ihm. Billy sah nach oben.

Grinsend starrte der Postbote durch die offene Klapptür auf ihn herunter. Lüsternheit lag in diesem Grinsen, und eine verrückte Grausamkeit funkelte in den kalten blauen Augen.

»Willst du ein bisschen Spaß haben?«, fragte der Postbote.

Billy wich ins Hauptquartier zurück. Dabei fiel sein Blick auf den Stapel Playboys. Aber es waren keine Playboys. Es waren Playgirls.

»Billy«, sagte der Postbote wieder.

Er war jetzt in Panik. Wild trat er gegen die Rückwand des Hauptquartiers und versuchte, eines der Bretter loszutreten, sodass er nach draußen kriechen konnte. Er trat, so fest er konnte, legte in jeden Tritt die Kraft der Verzweiflung. Doch Lane und er hatten das Fort zu stabil gebaut. Die Bretter wollten nicht nachgeben.

Billy hörte, wie der Postbote sich durch die Klapptür auf den Boden des Hauptraums fallen ließ.

»Ich habe dir ein Geschenk mitgebracht, Billy«, sagte der Postbote.

»Hilfe!«, schrie Billy so laut er konnte. Panisch trat er gegen die Wand. »Mom! Dad!«

»Möchtest du ein bisschen Spaß haben, Billy?«

Billy drehte den Kopf und sah über seine Schulter den Postboten, der lächelte und sein Geschenk darbot.


Als Trish und Doug vom Supermarkt zurückkamen, war Billy nicht zu Hause. Als er auch eine Stunde später noch nicht zurück war, geriet Trish in Panik. Sie bat Doug, Mike im Polizeirevier anzurufen. Dieser versprach, die Stadt zu durchkämmen, angefangen beim Postamt. Trish selbst rief der Reihe nach Billys Freunde an. Sie wählte die Nummer der Chapmans. Lane nahm den Hörer ab.

»Hallo, Lane«, sagte Trish. »Mrs. Albin hier. Ist Billy bei euch?«

»Nein.« Lanes Stimme klang kalt, beinahe wie die des Postboten, und Trishs Furcht wuchs.

»Hast du ihn heute schon gesehen?«

»Nein.« Lane machte eine kleine Pause. »Aber ich habe Sie gesehen.«

Es klickte in der Leitung, als die Verbindung abgebrochen wurde.

Trish legte den Hörer auf. Was hatte das zu bedeuten? Sie wusste es nicht, und sie war nicht sicher, ob sie es überhaupt wissen wollte. Sie wollte gerade die Nummer der Zwillinge wählen, als sie Doug durch die Hintertür hereinkommen hörte.

»Er ist nicht vor dem Haus oder bei der Wäscheleine«, sagte er und versuchte, die Besorgnis in seiner Stimme zu verbergen, doch es gelang ihm nicht. »Sein Rad ist noch da. Ich gehe jetzt hinter dem Haus und beim Grüngürtel suchen.«

»Okay«, sagte Trish. »Ich rufe weiter an.«

Doug ging zur Vordertür hinaus.

O Gott, betete sie stumm, bitte mach, dass es ihm gut geht.


Doug ging die gesamte Länge des Grundstücks ab und sah auf beiden Seiten im Grünstreifen nach. Er suchte unter jedem Strauch, blickte hinter jeden Baum, rief den Namen seines Sohnes. »Billy! Billy!«

Eidechsen huschten erschreckt davon.

»Billy!«

Er arbeitete sich weiter vor zum Hügel hinter ihrem Haus, bis er das getarnte Äußere des Forts vor sich sah. »Billy!«, rief er.

Keine Antwort.

Doug starrte auf das Fort, von dem etwas Düsteres, Unheilvolles auszugehen schien. Er hatte das Fort nie als bedrohlich empfunden, doch als er es jetzt betrachtete, kam es ihm dunkel und beängstigend verschlossen vor. Ihm wurde bewusst, dass das Gefühl, das der Anblick des Forts ihm bereitete, auf schreckliche Weise den Empfindungen ähnelte, die ihn beim Anblick von Ellen Rondas Haus beschlichen hatten, in dem Ellen auf so bestialische Weise ermordet worden war.

Zögernd machte er einen Schritt vorwärts. »Billy?«

Er drückte ein Ohr an die Holzwand. Aus dem Innern des Forts hörte er leises Wimmern.

»Billy!«, rief er. Hektisch suchte er nach einem Schwachpunkt in der Außenwand, wo er ein Brett abreißen und ins Innere kommen konnte, doch es gab keine vorstehenden Ecken oder Kanten oder andere erkennbare Schwachstellen. Verzweifelt klammerte Doug sich an den Dachrand und versuchte, sich hinaufzuziehen. Er war erschreckend außer Form und stöhnte vor Anstrengung. Er zog sich einen Splitter in die Handfläche, und sein rechter Ringfinger schrammte über den Kopf eines rostigen Nagels, doch indem er die Füße an die Seitenwand drückte, schaffte er es aufs Dach.

Dort sah Doug die offene Klapptür, die ins Fort führte. Er spähte hinein, konnte aber nichts erkennen. Rasch ließ er sich durch die Öffnung fallen und prallte hart auf. Das Wimmern war jetzt lauter. Doug fuhr herum.

»Billy?«

Sein Sohn kauerte in fötaler Haltung, die Knie bis unter das Kinn angezogen, in einer dunklen Ecke. Sein Hemd war zerfetzt und verdreckt. Sein Gesicht war ausdruckslos.

Er trug keine Hose.

»Billy!« Doug stürzte zu ihm, fiel auf die Knie und nahm seinen Sohn in den Arm. Die Wut, die Angst und der Schmerz hatten sich zu einem einzigen, alles verzehrenden Gefühl des Hasses vereint. Tränen strömten ihm übers Gesicht, als er Billy fest an sich drückte.

»Nein«, wiederholte Billy immer wieder. »Nein. Nein. Nein ...«

Doug lehnte sich ein wenig zurück, ohne seinen Sohn loszulassen. Durch einen Schleier aus Tränen blickte er Billy ins Gesicht. Die Augen des Jungen waren weit aufgerissen, voller Angst und namenlosem Grauen.

»Nein. Nein. Nein ...«

Auf der Erde neben Billy lag ein verschmutztes Hochzeitskleid.

Und blutige Unterwäsche.

Und mehrere frankierte und gestempelte Päckchen und Umschläge.

Der Schmerz traf Doug wie ein Schlag in den Magen.

Einen Augenblick lang richtete Billys leerer Blick sich auf ihn. »Das zieh ich nicht an!«, kreischte er. »Sie können mich nicht zwingen!« Er zitterte am ganzen Körper.

Doug zog ihn an sich. Erst jetzt fiel ihm auf, dass Billys Haut heiß und fiebrig war. Er zwang sich, logisch zu handeln, auch wenn der bittere Hass, der sein Inneres erfüllte, gegen jede Vernunft rebellierte. Er stand auf und wollte Billy hochheben, als er die Ecke eines Umschlags bemerkte, die unter einer der Falten des schmutzigen Kleides hervorlugte. Doug nahm den Umschlag, sah seinen Namen auf der Vorderseite und riss das Schreiben auf. Auf dem ansonsten leeren Blatt standen nur fünf Worte und ein Ausrufungszeichen:


Deine Frau gefällt mir auch!


»Nein!«, schrie Doug. Es war ein Schrei aus tiefster Seele, der sich an jemanden richtete, der ihn nicht hören konnte.

»Nein«, wiederholte Billy. »Nein. Nein. Nein ...«

Ohne nachzudenken, hob Doug seinen Sohn hoch und schob ihn durch die Klapptür, drückte den schlaffen Körper von der Öffnung weg und zog sich dann selbst hoch. Seine Muskeln schmerzten, sein gequältes Inneres brannte. Doch er hatte keine Wahl. Er musste nach Hause zu Trish.


Mit schweißnassen Handflächen, von fiebriger Angst erfüllt, legte Trish den Hörer auf. Sie ging in die Küche, um sich ein Glas Wasser zu holen. Erst da sah sie den Umschlag auf der Theke neben der Mikrowelle. Stirnrunzelnd nahm sie ihn in die Hand. Sie konnte sich nicht erinnern, den Umschlag vorher schon gesehen zu haben. Außerdem hatte sie heute noch gar nicht in den Briefkasten gesehen, und sie war sich ziemlich sicher, dass weder Doug noch Billy es getan hatten. Trish blickte auf die Vorderseite des Umschlags. Er war an sie adressiert, doch es gab keinen Absender.

Es geht wieder los, dachte sie. Und Billy ist weg. Sie öffnete den Umschlag und zog das Blatt heraus, das darin steckte.


Ich bin im Schlafzimmer.


Die Worte sprangen sie förmlich an und trafen sie wie ein Keulenschlag. Er war wieder da. Es war noch nicht vorbei.

Er war wieder da - und er war hinter ihr her.

Mit zitternden Händen öffnete sie die oberste Schublade gleich neben der Spüle. Sie holte ein Tranchiermesser heraus, umklammerte es fest und hielt es vor sich, während sie über den Flur zum Schlafzimmer ging, bereit, bei der geringsten Bewegung zuzustechen. Sie wusste, wie dumm und lächerlich der Versuch war, es allein mit dem Postboten aufzunehmen - sie sollte zu einem Nachbarhaus laufen und die Polizei rufen -, aber er war zu weit gegangen. Trish hatte ihre Grenze erreicht, und sie wollte verdammt sein, wenn sie es zuließ, dass dieses Ungeheuer sie alle noch weiter terrorisierte.

Wenn er hier war, würde sie ihn umbringen.

Sie würde ihm seine verdammte Kehle durchschneiden.

Er war nicht im Schlafzimmer. Das Messer in der Hand und bereit, jederzeit zuzustoßen, sah Trish im Schrank nach und schaute unter das Bett. Nichts. Sie steckte den Kopf ins Badezimmer. Alles leer. Sie wusste, dass er weder in der Küche noch im Wohnzimmer war, weil sie in beiden Räumen gewesen war.

Blieb nur das Loft.

Trish glaubte, oben einen Schritt knarren zu hören. Lauf weg, schrie ein Teil ihres Verstandes - der vernünftige Teil. Sieh zu, dass du hier rauskommst. Doch sie umklammerte das Messer noch fester und ging durch die Küche und das Wohnzimmer zur Treppe. Es war Tag, aber der obere Teil der Treppe lag wie immer im Schatten.

Trish schlich nach oben, so leise sie konnte; ihre Fingerknöchel am Messergriff waren weiß. Sie hatte beinahe den oberen Treppenabsatz erreicht und den Kopf eingezogen, damit er nicht sehen konnte, dass sie sich näherte, als sie den Fuß auf eine lose Treppenstufe setzte. Die Stufe knarzte. Trish erstarrte und hielt den Atem an, doch aus dem Loft kam kein Geräusch. Sie hielt das Messer vor sich und sprang die letzten fünf Stufen hinauf.

Das Loft war verlassen. Es war niemand dort.

Immer noch das Messer in der Hand, durchsuchte sie rasch den Kleiderschrank und den Bereich hinter Billys Bett, aber der Raum war leer.

Er war weg.

Es war niemand im Haus.

Trish ging wieder nach unten. Im Wohnzimmer spähte sie aus dem Fenster und suchte nach irgendetwas Auffälligem auf der Auffahrt und in den Sträuchern und Bäumen in der Umgebung, doch die Ruhe auf dem Grundstück wurde nur von zwei Eichelhähern gestört, die sich zankten. Sonst war kein Geräusch zu hören, keine Bewegung zu sehen. Noch einmal überprüfte Trish die Vordertür, dann die Hintertür. Nachdem sie festgestellt hatte, dass beide abgeschlossen waren, entspannte sie sich ein wenig.

Erst jetzt spürte sie den Druck auf ihrer Blase, und sie ging ins Bad, wobei sie immer noch das Messer in der Hand hielt. Sie würde kein Risiko eingehen - vielleicht hatte sie den Postboten bei ihrem eher oberflächlichen Blick nach draußen übersehen. Er hätte sich unter einem Strauch oder hinter einem Baum verstecken können, weil er wusste, dass sie nicht aus dem Haus kommen würde, um ihn zu suchen. Vielleicht horchte er gerade jetzt an der Tür, wartete auf einen Augenblick wie diesen, um hereinzukommen und anzugreifen.

Trish ließ die Badezimmertür offen, zog rasch ihren Slip herunter und setzte sich auf die Toilette.

Der Postbote trat aus der Dusche.

Trish schrie in Panik auf, ließ das Messer fallen und griff dann hastig nach unten, um es wieder aufzuheben. Der Postbote trat auf die Klinge. Sein glänzender schwarzer Schuh verdeckte die Schneide vollständig. Er trug seine frisch gebügelte Postuniform, doch Trish konnte die Ausbeulung vorn an seiner Hose sehen, als er direkt vor ihr stand. Mit einer Hand bedeckte sie ihren Schoß und hielt die andere zitternd vor sich, um ihn wegzuschieben.

Sie hatte nicht zu schreien aufgehört, aber das schien ihn nicht zu stören. Er grinste sie an. »Hübsche Muschi«, sagte er, und die Derbheit seiner Worte, gepaart mit der glatten Sanftheit seiner Stimme, ließ Trish erschaudern.

Warum hatte sie die Dusche nicht überprüft?

Er bückte sich, um das Messer aufzuheben, und instinktiv sprang Trish von der Toilette auf und flüchtete kreischend aus dem Badezimmer. In dem engen Raum vor der Tür prallte ihr Körper gegen seinen, und für einen Übelkeit erregenden Augenblick, als sie an ihm vorbeihuschte, spürte Trish, wie sein hartes Glied sich durch den Stoff gegen ihre nackte Haut presste. Sie hastete über den Flur ins Schlafzimmer und knallte die Tür ins Schloss. Ihr Blick huschte durch den Raum, als sie nach irgendetwas suchte, das sie als Waffe benutzen konnte.

Draußen im Flur hörte sie ein Klappern, als der Postbote das Messer über den Flur in die Küche schleuderte.

Offensichtlich wollte er sie nicht umbringen.

Was wollte er dann?

Trish drückte die Schulter gegen die Schlafzimmertür und stieß unwillkürlich einen Laut animalischer Angst aus. Sie hatte zu viel Angst, das Zimmer zu durchqueren und zum Telefon zu gehen. Das Türschloss war billig und schwach. Wenn sie nur eine Sekunde lang den Druck verringerte, wäre er im Zimmer.

Bei ihr.

Trish knirschte mit den Zähnen. Sie war entschlossen, sich nicht von ihrer Angst überwältigen zu lassen. »Verschwinden Sie aus meinem Haus«, befahl sie, doch ihre Stimme bebte und war kraftlos. »Verschwinden Sie. Sofort.«

»Du willst es doch auch«, sagte er kühl und gelassen. »Du weißt, dass du es willst.«

»Verdammt, hauen Sie ab!«, schrie Trish. »Ich rufe die Polizei.«

Seine Stimme fiel um eine Oktave und hatte nun einen vieldeutigen, intimen Tonfall. »Soll ich deine Post an der Hintertür zustellen ...?«

»Hilfe!«, schrie Trish mit aller Kraft, die ihre Lunge aufbrachte. Sie wollte, dass ihr Schrei laut und durchdringend klang, ein Schrei schierer Panik und greller Wut, doch er war beinahe ein Schluchzen, das von Verzweiflung verzehrt wurde. Trish verstummte augenblicklich. Sie wollte nicht, dass der Postbote ihre Schwäche spürte; sie wollte diesem Monstrum vor der Tür keinen Zentimeter nachgeben.

»Magst du Blut?«, fragte der Postbote mit derselben tiefen, intimen Stimme. Er war direkt hinter dem Türspalt, und sie konnte das Geräusch seiner trockenen Lippen hören, die er beim Sprechen aufeinanderpresste. »Magst du warmes, dickes, salziges Blut?«

»Hilfe!« Diesmal war Trishs Stimme kaum mehr als ein Schluchzen. Als Antwort hörte sie das tiefe Kichern des Postboten.

Und das Geräusch eines Reißverschlusses, der heruntergezogen wurde.

»Du weißt, dass du es willst«, wiederholte er.

Trish hielt den Atem an.

Sie hörte ein leises, klatschendes Geräusch.

Er spielte an sich selbst herum.

»Billy bekommt seine Post gerne im Obergeschoss und an der Hintertür zugestellt.«

Diese Worte gaben Trish die Kraft, die ihr bisher gefehlt hatte. Grelle Wut loderte in ihr auf. »Du Hurensohn!«, schrie sie. »Wag es ja nicht, ihn anzufassen!«

Von außerhalb des Hauses, von der Rückseite, hörte sie Dougs Stimme. »Trish!« Dann noch einmal: »Trish!« Seine Stimme wurde schnell lauter: Er rannte, und Trish hörte Furcht und Wut in seiner Stimme.

Irgendetwas war geschehen.

Doch Trish war dankbar, überhaupt Dougs Stimme zu hören. Sie war gerettet. Was immer sonst passiert war - Doug war da und würde sie retten. »Hier drinnen!«, rief sie so laut sie konnte. »Ich bin im Schlafzimmer!«

Sie hatte nicht gehört, wie der Postbote gegangen war, doch die Stille auf der anderen Seite der Tür verriet ihr, dass er verschwunden war.

Auf der Veranda waren schnelle, schwere Schritte zu hören. »Trish!«, rief Doug voller Panik. Die Gittertür fiel krachend zu.

»Ich bin hier! Hier drin!« Ungeschickt öffnete sie die Schlafzimmertür und stürzte schluchzend aus dem Zimmer. »Ich ...«

Ihr Schluchzen versiegte, als sie sah, dass Doug Billy ins Wohnzimmer trug. Ihr stockte der Atem. Die Zeit stand still. Der regungslose Körper des Jungen hing schlaff in den Armen seines Vaters, und eine schreckliche Sekunde lang musste sie verrückterweise an eine Szene aus Frankenstein denken. Dann war der Moment vorüber, und sie lief zu Doug und drückte ein Ohr auf Billys Brust. »Was ist passiert?«, fragte sie atemlos.

»Ich habe Billy im Fort gefunden.« Dougs Stimme klang vor Schock beinahe emotionslos. »Der Postbote hat ihn zuerst gefunden.«

Jetzt erst bemerkte Trish, dass Billy keine Hose trug.

Vorsichtig legte Doug seinen Sohn auf die Couch. Billys Haut war grau und blass. Seine Lippen bewegten sich stumm in fiebrigen Sätzen. Trish konnte nicht verstehen, was er sagte.

»Wenn wir im Krankenhaus sind, rufe ich die Polizei an«, sagte Doug mit derselben tonlosen Stimme. »Wenn die das Ungeheuer nicht jagen wollen, tue ich es selbst.«

Mit zitternder Hand fühlte Trish die Temperatur an Billys Stirn. »Was ist passiert?«

»Ich weiß es nicht. Er hat so im Fort gelegen. Er hatte keine Hose an, und seine Unterwäsche war blutig, und da lag ein ... ein Hochzeitskleid neben ihm.«

Trish schlug die Hand vor den Mund. »Mein Gott.«

Doug spürte die heißen Tränen, die ihm übers Gesicht liefen. Seine Stimme brach. »Ich glaube, er wurde vergewaltigt.«

»Wir müssen ihn ins Krankenhaus bringen. Ich rufe den Rettungswagen.«

»Nein. Wir haben keine Zeit.«

Trish barg den Kopf ihres Sohnes in ihren Armen.

»Nein«, stöhnte Billy. »Nein, ich will nicht. Nein. Nein. Nein ...«

»Fahren wir«, sagte Trish.

Die Gedanken, die Doug durch den Kopf schossen, als der Bronco über die unbefestigte Straße jagte, waren bruchstückhaft und unzusammenhängend: Was hätte er tun sollen? Was hätte er tun können? Was hatte er falsch gemacht? Was würde er noch einmal genauso machen, wenn er die Gelegenheit dazu bekäme?

Billy stöhnte auf dem Rücksitz, ein gedämpftes, gequältes Geräusch, dem sofort Trishs sanfter Trost folgte. Doug fluchte, dass er nicht näher am Krankenhaus wohnte.

Sie fuhren am Wohnwagenpark vorbei und kamen auf die gepflasterte Straße. Der Schock war ebenso rasch von Doug abgefallen, wie er gekommen war, und von brodelnder, grenzenloser Wut verdrängt worden, die nur durch Rache gestillt werden konnte. Sobald Billy in ärztlichen Händen war, würde er zur Polizei gehen. Und wenn die Polizei sich weigerte, etwas zu unternehmen, würde er den Postboten selbst verfolgen. Der Kerl würde auf keinen Fall ungeschoren davonkommen.

Das Willis Community Hospital war ein flaches Gebäude aus weißen Ziegeln im Stadtzentrum abseits der Hauptstraße. Es lag zwischen der Presbyterianer-Kirche und einer kleinen Reihe von Siedlungshäusern, den Modellhäusern für eines der fehlgeschlagenen Bebauungsprojekte der Stadt. Obwohl das Krankenhaus die neueste und am besten ausgestattete medizinische Einrichtung des Countys war - es hatte sogar einen eigenen Hubschrauberlandeplatz, um schwere Fälle nach Phoenix oder Flagstaff zu transportieren -, erschien es Doug nun klein, heruntergekommen und hoffnungslos veraltet. Er wünschte sich, sie würden in einer Großstadt leben, mit Zugang zur modernsten Medizintechnik.

Sie fuhren zum Eingang der Notaufnahme, und Doug lief um den Bronco herum, um die Beifahrertür zu öffnen. Er ließ Trish aussteigen, und sie rannte ins Krankenhaus, um Bescheid zu sagen, was geschehen war, während Doug seinen Sohn vorsichtig vom Rücksitz hob und ins Gebäude trug.

Ein Arzt, ein Pfleger und zwei Krankenschwestern kamen ihm bereits mit einem Rollbett entgegen, und Doug legte Billy vorsichtig auf das knisternde Papier, das die dünne Matratze bedeckte. Der Arzt, Ken Maxwell, stellte eine Frage nach der anderen, als sie durch die Doppeltür und über den Flur eilten, sodass Doug und Trish kaum die Chance hatten, angemessen zu antworten. Eine Frau mit verkniffenem Gesicht saß am Empfangsschalter und verlangte, dass jemand dablieb und die Anmeldeformulare ausfüllte. Doch der Arzt sagte ihr kurz angebunden, dass sie den Mund halten das später erledigen solle, während er dem Pfleger folgte, der das Rollbett über den Korridor schob. Die beiden Schwestern waren schon vorausgeeilt, um das Untersuchungszimmer vorzubereiten.

Das Bett wurde neben einen Operationstisch in der Mitte des Raumes geschoben, und der Arzt half dem Pfleger, Billy auf den hochgefahrenen Tisch zu heben. Mit einem Stethoskop horchte er Billys Brustkorb ab und untersuchte seine Augen mit einer kleinen Taschenlampe. Seine Hände drückten und tasteten geübt den Körper des Jungen ab, der auf dem Rücken lag, doch Billy bekam nichts davon mit. Er bewegte sich nicht, zuckte nicht einmal zusammen. Er sagte nur immer wieder leise und beharrlich die Worte, die er wiederholte, seitdem Doug ihn gefunden hatte.

Doug leckte sich über die trockenen Lippen. Der Arzt war beschäftigt. Jetzt wäre ein guter Moment, die Polizei anzurufen. Dougs Blick traf sich mit dem des Pflegers. »Wo ist hier ein Telefon?«, fragte er. »Ich muss die Cops anrufen und denen sagen, was passiert ist.«

»Da ist eins im Wartebereich.«

Der Arzt beendete die äußere Untersuchung von Billys Körper und sagte etwas zu der Krankenschwester, die neben ihm stand. Dann blickte er Doug und Trish an. »Ich muss ihn gründlich untersuchen«, sagte er. »Und ich muss ihn röntgen und ein paar Standardtests machen.« Die Schwester reichte ihm ein Paar durchsichtige Gummihandschuhe, die sie aus einer frisch geöffneten Verpackung genommen hatte. »Da Sie die Eltern sind, können Sie hierbleiben, aber es könnte ein bisschen grob auf Sie wirken.« Er zog die Gummihandschuhe an und nahm seine Taschenlampe. Die beiden Schwestern rollten Billy vorsichtig auf den Bauch. Doug sah den Schmutz auf den Hinterbacken seines Sohnes und drehte sich weg.

»Ich bleibe hier«, sagte Trish und drückte leicht seine Hand. »Geh du nur, und mach deinen Telefonanruf.«

Doug nickte zögernd. Er musste tatsächlich die Polizei anrufen, war aber dankbar, diese Entschuldigung zu haben, und hatte deswegen ein schlechtes Gewissen. Er wusste, dass er für Billy da sein sollte, konnte aber nicht dabei zuschauen, wie der Arzt seinen Sohn untersuchte. Trish wusste es - und auf diese Weise gab sie Doug zu verstehen, dass es in Ordnung sei. Doug fühlte sich trotzdem schrecklich. Doch so war er immer schon gewesen. Er hatte schon nicht bei der Geburt seines Sohnes dabei sein wollen, und es würde ihn alle Überwindung kosten, beispielsweise bei einer Operation dabei zu sein.

Doug blickte auf seinen Sohn.

»Nein«, stöhnte Billy. »Nein. Nein. Nein ...«

»Geh jetzt«, drängte ihn Trish.

Der Arzt beugte sich über Billys Körper.

Doug drückte Trishs Hand und verließ rasch den Raum. Er war wütend auf sich selbst und zuckte zusammen, als Billys Gemurmel mit einem scharfen Einatmen verstummte. Die Türflügel schlossen sich hinter ihm, und Doug war im Korridor. Auf demselben Weg, auf dem er gekommen war, eilte Doug zurück. Er war dem Arzt für sein rasches Handeln dankbar, und trotz seiner anfänglichen Befürchtungen war er nun zuversichtlich, dass Billy die bestmögliche medizinische Versorgung bekam.

Was Billys Psyche betraf, war allerdings ein hoher Preis zu zahlen. Was dem Jungen passiert war, würde für den Rest seines Lebens Narben auf seiner Seele hinterlassen. Zorn loderte in Doug hoch, wenn er daran dachte. Er und Trish würden lange suchen müssen, um jemanden zu finden, der Billy psychologische Hilfe geben konnte.

Aber jetzt war es Zeit, dass der Postbote bezahlte.

Die Frau mit dem verkniffenen Gesicht funkelte Doug vom Empfang aus an, als er an ihr vorbei zum Münztelefon im Wartebereich ging. Er beachtete sie gar nicht und wählte die Nummer des Polizeireviers. Er schloss die Augen. Das Telefon klingelte einmal, zweimal, dreimal ...

Eine unbekannte Stimme meldete sich: »Polizeirevier Willis.«

Doug räusperte sich. »Ich würde gerne mit Mike Trenton sprechen.« Er hörte sich wie ein Fremder an, sogar in den eigenen Ohren.

Die Stimme am anderen Ende war vorsichtig. »Wer spricht da bitte?«

»Doug Albin.« Es entstand eine Pause; dann kam Mike an den Apparat. Doug umklammerte fest den Hörer und hielt sich nicht mit Belanglosigkeiten auf. »Der Postbote ist wieder da.«

»Ich weiß.«

»Er hat meinen Jungen angegriffen, Mike, und er hat meine Frau bedroht. Ich werde ihn verfolgen.«

»Das werden wir ebenfalls tun. Er hat den Chief umgebracht.«

Es dauerte einen Augenblick, bis die Information zu Doug durchgedrungen war. Ihm wurde plötzlich kalt, und er bekam Angst. Der Postbote trieb jetzt keine Spielchen mehr. Er versteckte sich nicht mehr hinter Bestimmungen und Regeln, beschränkte sich nicht mehr auf Briefe. Jetzt mordete er. Doch so höllisch Dougs Angst auch war - sie verblasste neben seiner unermesslichen Wut.

»Gerade vor ein paar Minuten haben wir die Leiche des Chiefs gefunden«, fuhr Mike fort. »Wie geht es Ihrem Sohn? Kommt er wieder in Ordnung?«

»Wir wissen es nicht.«

»Wir versammeln uns alle hier. In zehn Minuten gehen wir los.«

»Moment mal, Mike.« Doug bekam ein flaues Gefühl. Er sah, wie Trish den Flur entlang auf ihn zulief und dabei fast auf den rutschigen Fliesen stolperte. Sie weinte, schluchzte, und mit einem Gefühl tiefer Mutlosigkeit dachte Doug eine Sekunde lang, dass Billy tot war. Dann kam Trish näher, und Doug sah, dass sie Tränen der Erleichterung vergoss.

»Er ist okay«, rief sie. »Es geht ihm gut.«

»Bitte bleiben Sie dran, Mike«, sagte Doug in den Hörer. Er ließ den Hörer hängen, während er Trishs Hand nahm und über den Flur zum Untersuchungsraum lief. Der Arzt schwenkte gerade einen großen Röntgenapparat über Billys Rücken.

»Wie geht es ihm?«, fragte Doug.

»Billy leidet unter einem traumatischen Schock«, erklärte ihm der Arzt, »aber er scheint keine ernsten körperlichen Verletzungen erlitten zu haben. Es gibt ein paar Kratzer und blaue Flecken, aber ich denke, er ist weitgehend unverletzt.«

»Aber das Blut auf seiner Unterwäsche ...?«

»Das ist nicht Billys Blut.«

Eine Woge der Erleichterung erfasste Doug, und er nahm die immer noch schluchzende Trish in den Arm. Der Arzt lächelte die beiden aufmunternd an; dann brachte er das Röntgengerät in Position.

Wenig später war Doug wieder im Warteraum. Er nahm den Hörer. »Mike? Sind Sie noch da?«

Am anderen Ende der Leitung war es still. »Mike!« Doug hörte ein leises Poltern, als offenbar jemand den Hörer von dem Platz aufhob, an dem er gelegen hatte. »Mike?«

»Ja?«

»Es geht ihm gut.«

»Gott sei Dank.«

»Ich will bei der Aktion mitmachen«, sagte Doug.

»Wie schnell können Sie hierher zum Revier kommen?«

»Ich werde mich beeilen. Warten Sie auf mich.«

»Wir wollen ihn erwischen, bevor er die Stadt verlässt. Sie haben fünf Minuten.«

»Verdammt noch mal, Mike!«

»Schon gut«, gab der Polizist nach. »Wir warten. Aber machen Sie schnell.«

»Ich bin in zehn Minuten da.«

»Dann treffen wir uns hier.« Mike legte auf, und Doug kehrte in den Untersuchungsraum zurück, wo der Arzt gerade eine Spritze zur Seite legte. Eine der Schwestern deckte Billy mit einer Decke zu. »Bringt ihn auf die Station«, ordnete der Arzt an; dann richtete er den Blick auf Doug und Trish. »Billy wird jetzt eine Weile schlafen. Ich würde Ihnen vorschlagen, sich auch ein bisschen auszuruhen. Billy wird vor dem Morgen wieder aufwachen, und dann wird er Sie bei sich haben wollen.«

»Ich bleibe hier«, sagte Trish.

Der Arzt nickte. »Wir können einen Stuhl in sein Zimmer stellen. Oder ein Klappbett, wenn Sie wollen.«

Trish blickte Doug an, der seine Arme um sie legte. »Haben sie ihn erwischt?«

Er schüttelte den Kopf. »Wir werden ihn verfolgen.«

»Wir?«

»Die Polizei und ich.«

Der Arzt, der Pfleger und die Schwestern arbeiteten geschäftig an Billys Bett.

Doug drückte Trish ganz fest. »Pass gut auf ihn auf«, sagte er. »Kümmere dich um ihn.«

Fröstelnd rieb sie sich die Arme, als er sie losließ. »Wo gehst du hin? Was hast du vor?«

»Ich treffe mich mit Mike im Revier. Dann gehen wir zum Postamt.«

Sie folgten beide dem Krankenhausteam, als der nun schlafende Billy in sein Zimmer gerollt wurde, ein großes Privatzimmer mit einem Farbfernseher unter der Decke und zwei nebeneinander stehenden Betten. Doug gab Trish die Versicherungsnummer und erforderlichen Papiere aus seiner Brieftasche, und Trish versprach, sich um alles zu kümmern.

Sie folgte ihm bis zum Wartebereich. »Sei vorsichtig!«, rief sie ihm nach, als er durch die gläsernen Flügel der automatischen Schiebetür ging.

Загрузка...