22.

Doug saß auf dem Stuhl mit der harten Lehne und sah den Polizeichef wütend an. »Ich habe es gesehen!«

»Okay, nehmen wir mal an, dass der Postbote im Dunkeln getanzt hat. Ja und? Das verstößt nicht gegen das Gesetz. Tanzen wird als eine legitime Form des Selbstausdrucks angesehen.«

»Spielen Sie keine Spielchen mit mir. In dieser Stadt passieren ein paar verdammt seltsame Dinge, und Sie kommen hier mit diesem lächerlichen Scheiß.«

Der Chief betrachtete ihn mit kühlem Blick. »Das Gesetz ist kein ›lächerlicher Scheiß‹, Mister Albin. Mir ist Ihre Meinung in dieser Angelegenheit wohl bewusst, und ich will ehrlich sein und Ihnen sagen, dass wir bei unseren Ermittlungen sämtlichen Hinweisen nachgehen.«

Mike Trenton, der neben dem Chief saß, starrte stumm auf den Tisch.

»Behandeln Sie mich nicht von oben herab wie ein zweitklassiger Film-Cop. Sie wissen so gut wie ich, dass hier etwas Merkwürdiges im Gange ist.«

»Ich sage Ihnen nicht, wie Sie unterrichten sollen, also sagen Sie mir nicht, wie ich meinen Job tun soll.« Der Chief stand auf. »Ich würde es sehr schätzen, wenn Sie sich aus polizeilichen Angelegenheiten heraushielten. Wir sind absolut in der Lage, die Dinge ...«

»Absolut in der Lage?«

»Das war's dann, Mister Albin.« Der Chief legte die Hände auf den Tisch und beugte sich vor. »Ich habe genug Zeit damit verschwendet, mit Ihnen zu reden und mir Ihre Theorien anzuhören. Bitte belästigen Sie diese Polizeiwache nicht noch einmal, oder Sie werden sich wegen Behinderung der Justiz verantworten müssen. Habe ich mich klar ausgedrückt?«

Doug sah zu Mike hinüber, aber der junge Cop starrte immer noch auf den Tisch und wich seinem Blick aus. »Perfekt«, sagte Doug.


Doug verbrachte den Rest des Tages so, wie er den ganzen Sommer verbringen wollte: Er saß auf der Veranda und las. Aber so sehr er sich auch bemühte, er konnte sich nicht entspannen und seine Freizeit genießen. Er wusste, dass er die Sache auf dem Polizeirevier gewaltig in den Sand gesetzt hatte, und das Wissen, dass er die Position des Postboten in den Augen der Polizei gestärkt haben konnte, machte ihm zu schaffen. Er hätte es besser wissen müssen. Er hätte vorsichtiger sein müssen, hätte wenigstens den Anschein von Ruhe und Vernunft wahren müssen. Stattdessen hatte er herumgemeckert wie ein Fanatiker.

Er legte sein Buch hin und starrte zu den Bäumen hinüber. War es möglich, dass er in die Ereignisse irgendwelche Bedeutungen hineinlas, die gar nicht existierten? Dass er unter irgendeiner Art von zwanghafter Einbildung litt?

Nein.

Er hatte den Beweis mit eigenen Augen gesehen.

Ein Bluebird flitzte auf der Suche nach Nahrung von Baum zu Baum, und Doug beobachtete ihn gleichgültig. Er wusste, dass viele seiner Lehrerkollegen in ihrer eigenen kleinen, akademischen Welt lebten, völlig isoliert vom Leben um sie herum. Er konnte das nicht. Es wäre schön, wenn er es könnte, aber Gott sei Dank - oder leider - lebte er in der realen Welt. Er war betroffen von der Politik, von der Wirtschaft, vom Wetter.

Vom Postboten.

Eines hatte er in den letzten zwei Wochen gelernt: Wie sehr er von der Post betroffen war, wie sehr sie in alle Bereiche seines Lebens eindrang.

»Doug!«

Er blickte auf. Trish stand im Türrahmen und hielt die Gittertür auf.

»Möchtest du auf der Veranda zu Mittag essen oder drinnen?«

Unentschlossen zuckte er mit den Schultern und nahm das Buch von seinem Schoß.

Im nächsten Augenblick spürte er Trishs Hand auf seinem Arm. »Warum fahren wir nicht für einen Tag nach Sedona und lassen das alles mal hinter uns? Wir lassen uns viel zu sehr davon beeinflussen.«

Er nickte langsam. »Du hast recht.«

»Es würde uns guttun, mal wegzufahren.«

»Ja. Wir können den Oak Creek Canyon bis nach Flagstaff hinauffahren. Da gibt es ein richtiges Postamt. Vielleicht kann ich da mit ...«

»Nein«, sagte Trish mit Bestimmtheit. »Gerade davon sollten wir wegkommen. Von all diesen Verrücktheiten. Es scheint, als ob das einzige Thema, an das wir noch denken oder worüber wir noch reden, die Post ist. Wir fahren mit Billy nach Sedona und machen einen schönen Tagesausflug, so wie früher. Wir gehen schön essen und ein bisschen shoppen. Wir sind typische Touristen. Wie hört sich das an?«

»Hört sich gut an«, gab er zu.

»Dann willst du es versuchen?«

Doug nickte.

»Also, willst du jetzt drinnen oder auf der Veranda essen?«

»Auf der Veranda.«

Trish ging zur offenen Tür zurück. »Das Essen ist unterwegs.«


Sie fuhren früh am nächsten Morgen los und hielten zunächst bei der Bäckerei an, um Donuts, Kaffee und Schokoladenmilch zu kaufen. Trish hatte recht, dachte Doug, während er aus der Stadt fuhr. Vielleicht brauchten sie ein bisschen Erholung, mussten einmal raus aus der Mühle, um wieder klar zu werden. Während er mit der zugelassenen Höchstgeschwindigkeit dahinrollte, flitzten die Bäume an ihm vorbei. Schon fühlte Doug sich leichter, glücklicher, entspannter als in den Wochen zuvor. Es war, als hätte er den Mantel der Verantwortung, den er sich selbst umgelegt hatte, an der Stadtgrenze zurückgelassen. Obwohl er wusste, dass diese Verantwortung wieder auf ihn wartete, wenn er zurückkam, war er dankbar, sie wenigstens eine Zeitlang los zu sein, und er war entschlossen, den Tag zu genießen.

Je weiter sie nach Norden fuhren, umso dichter wurde der Wald. Der schmale Highway wand sich zwischen Felsen und durch Schluchten und folgte dabei den Konturen der Landschaft. Sträucher und Baumschösslinge wuchsen im Schatten riesiger Ponderosa-Kiefern. Niedriges Gebüsch bedeckte jeden freien Flecken. Hier und da konnten sie die kargen, laublosen Skelette vom Blitz getroffener Bäume sehen, nackte Äste, die in schroffem Kontrast zum üppigen Laub der Umgebung standen. Einmal, an einem kleinen Teich, sahen sie einen Hirsch, der vor Schreck erstarrte, als er ihren Wagen sah.

Dann ging der Wald allmählich in Wüste über, und nach einer weiteren Stunde traf die Straße auf den Black Canyon Highway.

»Burger King«, sagte Billy, als sie an einem Schild vorbeikamen, auf dem stand, dass es noch fünfundsechzig Kilometer bis Sedona waren.

Das war das Höchste an Interesse, was Billy den ganzen Tag über an irgendetwas gezeigt hatte, und Doug wollte schon sein Okay geben, doch Trish sagte entschlossen: »Nein, wir essen in Tlaquepaque.«

»Och, nicht schon wieder«, stöhnte Billy.

»Da sind wir über ein Jahr lang nicht gewesen«, erwiderte seine Mutter.

»Nicht lange genug.«

»Hör auf damit, Billy.«

Danach waren sie alle still und lauschten dem Surren der Reifen und den Klängen der Countrymusik der Radiostation in Flagstaff. Fünfzehn Minuten, nachdem sie an der Abfahrt zu Montezuma's Castle, der über sechshundert Jahre alten Klippensiedlung der Sinagua-Indianer, vorbeigekommen waren, verließ Doug den Black Canyon Highway und folgte der zweispurigen Straße, die nach Sedona führte. Von den drei Anfahrten zur Stadt war diese die spektakulärste. Es gab keinen allmählichen Wechsel in den Farben der Felsen wie auf der Anfahrt von Camp Verde, und es gab keine den Blick verstellende Bäume wie längs der Straße durch den Oak Creek Canyon. Das Land hier war wie maßgeschneidert für Westernfilme: großartige, freie Flächen, die von dramatischen Felsformationen aus rotem Sandstein durchbrochen wurden. Die Farben waren lebhaft: blauer Himmel, weiße Wolken, grüne Bäume, rote Felsen - scharfe Kontraste, die keine Kamera einfangen konnte.

Sie fuhren am Bell Rock und Frank Lloyd Wrights Heiligkreuz-Kirche vorbei, während die Straße sich immer dichter an den Creek und die Felsen schmiegte und die ersten Läden und kleinen Feriendomizile auftauchten.

Sie gingen direkt zum Tlaquepaque Arts & Crafts Village, einem Gebäudekomplex im spanischen Stil mit Galerien, Läden und Boutiquen, der an einer bewaldeten Stelle am Ufer des Oak Creek lag. Sie schlenderten durch die Läden und ließen sich Zeit. Billy wurde es bald langweilig, und er lief voraus. Er schaute in die gekachelten Brunnen, die sich in jedem Innenhof befanden, und zählte die Münzen im Wasser, während er heimlich die Schaufensterpuppen in Badeanzügen in den Vitrinen der Läden musterte. Trish verliebte sich in einen Druck von Dan Namingha, den sie in einer der Galerien entdeckt hatte, und während sie und Billy weitergingen, kehrte Doug unter dem Vorwand zurück, zur Toilette zu gehen, kaufte den Druck und versteckte ihn unter einer Decke hinten im Wagen.

Wie Trish es versprochen hatte, aßen sie im offenen Patio des kleinen mexikanischen Restaurants zu Mittag und lauschten dabei dem Murmeln des Bachs. Ihr Blick wurde durch die Bäume und die Wände des Hofes begrenzt, aber sie konnten immer noch Hügel aus rotem Sandstein sehen, deren Farbe durch den Kontrast mit dem grünen Laub noch leuchtender wirkte.

Es war ein entspannendes Mittagessen; für eine Weile konnte Doug beinahe die Post vergessen und alles, was in letzter Zeit in Willis passiert war. Dann kam ein Kurier in blauer Uniform vorbei, die braune Tasche um die Schulter gehängt, und übergab dem Mädchen hinter der Kasse einen Stapel Umschläge. Der Postbote lächelte das Mädchen an, ganz normal und freundlich, doch für Doug war die Stimmung verdorben, und als er sein Chili Relleno aß, beobachtete er, wie der Postbote seine Runde durch alle Läden machte.


Die Heimfahrt war ereignislos. Billy schlief auf dem Rücksitz, während Doug und Trish die vorbeiziehende Landschaft betrachteten und einer alten Kassette mit Musik von Emerson, Lake & Palmer lauschten. Kurz nach vier Uhr passierten sie das grüne Schild, das die Stadtgrenze von Willis markierte. Doug fuhr an Henrys Autowerkstatt und dem Maklerbüro Ponderosa Realty Office vorbei, doch gleich hinter der Texaco-Tankstelle wurde die Straße von zwei Streifenwagen mit flackerndem Blaulicht versperrt. Neben jedem Wagen stand ein einzelner Polizist, zusammen mit einer Gruppe von Autofahrern, denen es nicht erlaubt worden war, an der Sperre vorbeizufahren. In der Nähe lief eine Reihe von Anwohnern herum. Am Rand der Menschenmenge entdeckte Doug die braune Uniform eines Mitarbeiters des Sheriffs.

Er hielt hinter einem verbeulten Jeep und sagte zu Trish und Billy, dass sie im Wagen warten sollten, während er ausstieg, um nachzuforschen, was los war. Als er sich der improvisierten Barrikade näherte, bemerkte er, dass einer der Polizisten Mike Trenton war. Rasch ging er zu dem jungen Cop hinüber. »Mike, was ist passiert?«

»Bitte bleiben Sie zurück, Mr. Albin. Wir können Sie nicht durchlassen.«

»Aber was ist denn passiert?«

»Ben Stockley ist durchgedreht. Vor ungefähr einer Stunde hat er eine Pistole genommen, ist in die Bank gegangen und hat um sich geschossen.«

»Mein Gott.« Doug atmete schwer. »Wurde jemand verletzt?«

Das Gesicht des Officers war blass und angespannt. »Vierzehn Personen sind tot, Mr. Albin.«

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