Das Begräbnis war gut besucht. Fast jeder im Ort kannte Bob Ronda und hatte ihn mit Vornamen angeredet, und fast jeder hatte ihn gemocht. Auf dem Friedhof drängten sich die Menschen, und viele der zu spät Gekommenen mussten außerhalb des schmiedeeisernen Tores auf dem Hang des kleinen Hügels stehen. Bob war nie ein Kirchgänger gewesen, und so hatte Ellen beschlossen, dass der gesamte Gottesdienst am Grab gehalten werden sollte. Sie stand neben dem Pfarrer, in einem schlichten schwarzen Kleid, und starrte auf den Boden. Mit der Rechten umklammerte sie ein verknittertes weißes Taschentuch und knetete es geistesabwesend zwischen den Fingern. Es ging das Gerücht, dass Ellen fast verrückt geworden sei, als sie die Leiche ihres Mannes gefunden hatte, dass sie geschrien und gekreischt und alles im Haus kurz und klein geschlagen und sich sogar die Kleider vom Leib gerissen hätte und dass Dr. Roberts sie seitdem unter schwere Beruhigungsmittel gesetzt habe. Als Doug sie nun sah, wie sie von ihren erwachsenen Söhnen gestützt wurde, konnte er es sich beinahe vorstellen.
Der Zeitungsbericht über den Selbstmord war skizzenhaft und allgemein gewesen - eine höfliche, die Fakten gnädig verhüllende Darstellung aus Respekt vor den Hinterbliebenen. Doch in einem Ort wie Willis verbreiteten sich die Neuigkeiten manchmal durch schnellere Kanäle als die Presse, und gegen Mittag des folgenden Tages hatte fast jeder die ganze Geschichte gehört. Offenbar war Bob Ronda aufgestanden, ehe seine Frau wach geworden war, hatte in der Garage seine abgesägte Schrotflinte geholt und war ins Badezimmer gegangen. Dort hatte er sich nackt ausgezogen, hatte sich in die Badewanne gelegt, hatte sich die Mündung der Schrotflinte in den Mund geschoben und sich ein Loch in den Schädel gepustet. Blut und Knochensplitter waren gegen die Fliesen hinter ihm gespritzt und tropften in die Wanne, als Ellen ins Bad gestürzt kam.
Es hatte keinen Abschiedsbrief gegeben.
Es gab noch andere Versionen der Geschichte. Eine Version, der Doug jedoch keinen Glauben schenkte, besagte, dass Ronda auf der Schrotflinte gesessen habe und sich das Blei in die Innereien gejagt hätte. Eine weitere Version: Er habe sich den Lauf in die Augenhöhle geschoben und ein Auge zerquetscht, eher er abgedrückt hatte. Doch diese grässlichen Gerüchte waren rasch wieder verstummt.
Billy hatte die Nachricht vom Selbstmord des Postboten tief erschüttert. Er hatte noch alle vier Großeltern, hatte noch nie auch nur ein Haustier verloren. Bob Rondas Selbstmord war seine erste Begegnung mit dem Tod. Billy hatte Bob Ronda sehr gemocht, wie die meisten Kinder in der Stadt, und es war ein Schock für ihn gewesen, dass der Postbote sich das Leben genommen hatte. Billy war die letzten beiden Tage still, bedrückt und ungewöhnlich nachdenklich gewesen. Trish und Doug hatten lange darüber diskutiert, ob der Junge zur Beerdigung mitgehen sollte. Am Ende hatten sie sich dagegen entschieden: Beide waren der Meinung, ihrem Sohn den Anblick der Trauernden und des Sarges ersparen zu können, und so hatten sie Mrs. Harte ins Haus kommen lassen, damit sie am Vormittag auf Billy aufpasste. Wenn sie zurückkamen, würden sie mit Billy in Ruhe über das Begräbnis reden, damit er begriff, was geschehen war.
Der Pfarrer stand am Grab vor dem geschlossenen Sarg und las aus der Bibel. Taktvoll verzichtete er darauf, die Todesursache zu nennen, und redete stattdessen von der Lücke, die Bob Ronda in seiner Familie und der Stadt hinterlassen würde.
Doug lauschte dem Pfarrer, ertappte sich jedoch dabei, dass seine Gedanken abschweiften. Obwohl er traurig war, hätte er irgendwie trauriger sein sollen. Er hätte ebenso sehr durch die Worte, die er hörte, bewegt sein sollen, wie durch seine Gedanken und Erinnerungen. Was den Worten des Pfarrers fehlte, wurde Doug klar, war aufrichtige Anteilnahme: Viele Trauergäste hätten eine bessere und mehr von Herzen kommende Grabrede halten können - Menschen, die Ronda persönlich gekannt und ihn gemocht hatten. Der Barkeeper aus dem Corral zum Beispiel. Oder George Riley.
Oder Howard Crowell.
Doug ließ den Blick über die Menge schweifen, bis er den Postchef gefunden hatte. Howard stand neben Bob Rondas Familie; er trug einen neuen schwarzen Anzug, den er extra für diesen Anlass gekauft hatte, und schluchzte, ohne es zu verbergen. Offensichtlich lauschte er den Worten des Predigers, und sein Blick schien vom Sarg gefesselt zu sein.
Doug runzelte die Stirn. Neben Howard stand - in einer hellblauen Postuniform, die einen deutlichen Kontrast zur schwarzen Kleidung der anderen Trauernden bildete - ein Mann, den er noch nie gesehen hatte. Groß und dünn, mit rotem Haarschopf und langem, blassem Gesicht. Der Mann starrte in die Ferne und war offensichtlich von der Beerdigung gelangweilt. Obwohl Doug nicht nahe genug war, um den Gesichtsausdruck des Fremden erkennen zu können, spürte er Arroganz und Geringschätzung in der Haltung des Mannes. Er drehte sich behäbig, um den Pfarrer anzuschauen, und das Sonnenlicht glänzte auf einer Reihe auffälliger Knöpfe an seiner Uniformjacke. Bei jedem anderen hätte diese Uniform würdevoll ausgesehen, vielleicht sogar Respekt gebietend, doch an ihm wirkte sie seltsam clownhaft, wie eine Zirkusuniform, und führte dazu, dass das Begräbnis trivial erschien. Der Fremde drehte sich wieder um und blickte über die Menge hinweg, und Doug hatte das plötzliche und unerklärliche Gefühl, dass der Mann ihn direkt ansah. Er wurde nervös, schaute rasch zur Seite und richtete den Blick dann wieder auf Howard.
Trish schien den Fremden gar nicht zu bemerken. Ihr Blick war auf Howard gerichtet, auf seine nassen Wangen und sein Gesicht, auf dem sich Schmerz und Erschütterung spiegelten. Er sah verloren aus, hoffnungslos und hilflos. Trish beschloss, ihn bald zum Abendessen einzuladen. Wahrscheinlich hatte ihm diese Woche die halbe Stadt solche Angebote gemacht, doch Trish wusste, dass er Doug und sie mehr mochte als die meisten anderen, und sie hoffte, ihn ein wenig aufmuntern zu können.
Trish blickte zu Ellen Ronda hinüber, die auf der anderen Seite neben Howard stand. Sie hatte die Frau nie so recht gemocht. Ellen war ihr immer zu hart erschienen, zu ehrgeizig für Bob, der ein liebenswürdiger und bescheidener Mann gewesen war. Doch der Schmerz, der trotz der Wirkung der Beruhigungsmittel zu erkennen war, ließ keinen Zweifel daran, dass Ellen ihren Mann von ganzem Herzen geliebt hatte und dass sie seinen Verlust nur schwer verwinden würde. Trish musste gegen die Tränen ankämpfen.
Der Himmel über ihnen war strahlend blau, und die Sonne brannte schon um zehn Uhr morgens heiß. Von hier aus konnte Trish den größten Teil des Ortes sehen: die stumpfblaue Mauer des Restaurants, die hinter dem Valley National Building hervorlugte, und das kleine Büro der Handelskammer; Teile des Einkaufszentrums, die zwischen den Stämmen und Ästen der Bäume hindurchschimmerten; die knallbunten Schilder der Tankstellen und Fastfood-Restaurants in dem neueren Viertel dahinter. In größerer Nähe, auf der anderen Seite der Wiese, die den Friedhof vom Golfplatz trennte, befand sich der ursprüngliche Ortskern: das Zeitungsgebäude, die Bibliothek, die Bars und die Polizeiwache - alle günstig gelegen innerhalb eines einzigen Häuserblocks. Und natürlich das Postamt.
Das Postamt.
Der Anblick des leeren Gebäudes schmerzte Trish. Es kam ihr verloren und verlassen vor, obwohl es nur für den heutigen Tag geschlossen war. Sie wischte sich die Augen, konzentrierte sich auf die Worte des Pfarrers und richtete den Blick auf das dunkle Rosenholz des Sarges. Er war glatt, die Kanten abgerundet, sodass er beinahe wie ein großer polierter Stein aussah. Trish wusste, dass Rondas Familie sich einen solch teuren Sarg gar nicht leisten konnte, und sie war sicher, dass der Betrag aus der Sterbekasse für den Differenzbetrag nicht reichen würde. Vielleicht hatte jemand im Ort einen Fonds eingerichtet, der helfen konnte, die Beerdigungskosten zu tragen. Sie würde Doug bitten, einmal nachzufragen. Wenn es nicht anders ging, würde sie selbst sich darum kümmern. Bob Rondas Familie hatte auch ohne die finanzielle Belastung eine schwere Zeit vor sich, musste sie doch mit dem Schmerz des Verlusts weiterleben.
»Asche zu Asche«, sagte der Pfarrer, »Staub zu Staub.«
Trish und Doug schauten sich an und nahmen sich bei den Händen.
»Amen.«
Ellen Ronda und die Jungen bewegten sich vorwärts, als der Sarg ins Grab gesenkt wurde. Begleitet vom Schluchzen der Trauernden war das leise Summen zu vernehmen, als die motorisierte Hebevorrichtung hinabfuhr. In der Stadt war es still. Da die meisten Bewohner zum Begräbnis gekommen waren, störte nicht einmal der gelegentliche Lärm von Autos oder Maschinen die Stille.
Ellen streckte die Hand aus, um ein wenig Erde aufzuheben. Bevor sie sie ins offene Grab fallen ließ, murmelte sie unhörbar ein paar Worte und drückte die Erde an ihre Lippen. Plötzlich brach sie zusammen, sank auf die Knie und schlug mit den Fäusten auf den Boden. Sie begann zu schreien, und einer ihrer Söhne zog sie auf die Beine, während der andere sanft auf sie einredete und sie zu beruhigen versuchte. Dr. Roberts drängte sich durch die Menge zu ihnen. Die meisten Anwesenden blickten aus Rücksicht und Höflichkeit weg, aber Doug sah, dass der Neuankömmling die Witwe unverschämt anstarrte und dabei auf den Fersen wippte, als gefiele ihm der Anblick.
Einen Augenblick später war es vorbei. Der Arzt hielt Ellens Hand, und sie stand starr neben dem Grab, mit steinerner Miene, während ihre Söhne die symbolische Hand voll Erde auf den Sarg fallen ließen.
Der Pfarrer sprach ein abschließendes Gebet.
Nach dem Gottesdienst gingen sie zu Rondas Familie und warteten in der Schlange, um ihr Beileid auszusprechen. Nach ihrem Gefühlsausbruch schien Ellen benommen und unter Beruhigungsmitteln zu stehen, und ihre Söhne mit ihren verweinten Augen fanden die Kraft, sie zwischen sich zu stützen. Der Pfarrer stand bei der Familie, ebenso wie Dr. Roberts und Howard. Neben dem Postchef, im äußeren Ring dieses engsten Kreises, stand der Neuankömmling. Aus der Nähe konnte Doug die Gesichtszüge des Mannes deutlich erkennen: die schmale, scharfe Nase, die durchdringenden blauen Augen, der harte Mund.
Trish ergriff fest Ellens ausgestreckte Hand. »Sie sind stark«, sagte sie. »Sie schaffen das. Es mag jetzt so scheinen, als ob der Schmerz für immer bleibt, aber er wird vergehen. Versuchen Sie einfach nur, Tag für Tag zu überstehen. Versuchen Sie weiterzuleben. Bob hätte es so gewollt.«
Ellen nickte schweigend.
Trish blickte von einem Sohn zum anderen. »Passen Sie auf Ihre Mutter auf. Kümmern Sie sich um sie.«
»Das werden wir, Mrs. Albin«, sagte Jay, der ältere.
Doug fiel nichts ein, was er sagen konnte, ohne dass es trivial und unangemessen gewesen wäre. Doch auch die Worte anderer waren in einer solchen Situation bedeutungslos und oberflächlich. »Es tut mir sehr leid«, sagte er einfach, hielt für einen Augenblick Ellens Arm und schüttelte dann beiden Jungen die Hand. »Wir hatten Bob sehr gern. Er wird uns fehlen.«
»Das ist wahr«, sagte Martha Kemp hinter ihm.
Trish sprach bereits mit Howard und äußerte dieselben Gefühle. Sie umarmte ihn kurz. Doug trat neben sie und klopfte mitfühlend auf die Schulter des älteren Mannes.
»Er war der beste Freund, den ich je hatte«, sagte Howard, wischte sich über die Augen und blickte von einem zum anderen. »Normalerweise sind die Freunde aus der Kindheit die besten. Es sind die Menschen, mit denen man zusammen aufgewachsen ist. Es kommt nicht oft vor, dass man jemanden findet, dem man so nahe steht.«
Trish nickte verständnisvoll. Doug nahm ihre Hand.
»Er fehlt mir jetzt schon.«
»Das wissen wir«, sagte Doug.
Howard lächelte matt. »Vielen Dank. Und danke für die Karte und den Anruf neulich. Danke, dass Sie einem verrückten, sentimentalen alten Mann zuhören.«
»Sie sind nicht verrückt, und alt sind Sie auch nicht«, entgegnete Trish. »Und was ist verkehrt daran, sentimental zu sein?«
Howard blickte Doug an. »Sie können sich glücklich schätzen«, sagte er. »Sie haben eine sehr nette Frau.«
Doug lächelte. »Ich weiß.«
»Wir würden uns freuen, wenn Sie diese Woche mal am Abend zu uns kommen«, sagte Trish und blickte Howard in die Augen. In ihrer Stimme war irgendetwas, das keinen Widerspruch zuließ. »Ich mache Ihnen ein gutes, selbst gekochtes Abendessen, okay?«
»Okay.«
»Versprochen?«
»Versprochen.«
»Also abgemacht. Wir sehen Sie später. Und wenn Sie nicht anrufen, rufen wir Sie an. Glauben Sie ja nicht, dass Sie so einfach davonkommen.«
Howard nickte zum Abschied, während die beiden weitergingen. Er hatte ihnen nicht den Mann neben sich vorgestellt, aber Doug wusste, auch ohne dass man es ihm gesagt hatte, dass er Bob Rondas Ersatz war. Der Mann streckte eine blasse Hand aus, die Doug widerstrebend ergriff. Die Haut des Mannes war warm, beinahe heiß, und vollkommen trocken. Er lächelte und enthüllte weiße, gleichmäßige Zähne. »Schönen Tag noch«, sagte er. Seine Stimme war tief und gedämpft, beinahe melodiös, doch es lag ein spöttischer Unterton darin, der die beiläufige Gefühllosigkeit seiner Worte nur noch verstärkte.
Doug sagte nichts, legte nur den Arm um Trish, ignorierte den Mann und ging mit den anderen Leuten aus der Stadt den Hügel hinunter zum Parkplatz. Als er sich umdrehte, um die Wagentür aufzuschließen, sah er zufällig den neuen Postboten, der aus den anderen Trauernden herausstach. Aus dieser Entfernung war es schwer zu sagen, doch es sah aus, als ob der Mann sie beobachtete. Und es schien, als lächelte er immer noch.
Billy sagte Mrs. Harte, dass er zum Spielen nach draußen gehen wollte, und sie erwiderte, dass sei in Ordnung, solange er in Rufweite des Hauses bliebe. Billys Eltern konnten jederzeit zurückkehren, und Mrs. Harte wollte nicht, dass sie den Eindruck bekamen, sie würde nicht auf Billy aufpassen.
Billy sagte, dass er nur zum Fort ginge, direkt hinter dem Haus. Sobald er das Auto seiner Eltern höre, käme er sofort zurück.
Mrs. Harte war einverstanden.
Das »Fort« befand sich zwischen den Bäumen hinter dem Haus, war aber von keinem Fenster aus zu sehen. Billy und Lane Chapman hatten es letzten Sommer aus dem Restmaterial von der Baustelle einer Sommerhütte weiter unten an der Straße gebaut. Die Firma, die Lanes Vater gehörte, hatte die Hütte errichtet; er hatte den Jungen auch die Pfosten, Bretter und ein paar Sack Zement gegeben - genug, um ihr Fort mit zwei Zimmern zu bauen. Sie hatten den größten Teil des Sommers gebraucht, um die Inneneinrichtung zusammenzuschnorren, doch als sie fertig waren, war das Fort perfekt - besser, als sie gedacht hatten. Die Front und die Seiten waren mit Essigbaum- und Manzanita-Zweigen getarnt; die Rückseite lehnte an einem dicken Baum. Man betrat das Fort, indem man auf diesen Baum stieg, von dort aufs Dach, und dann an der Schnur zog, mit der man auch die Klapptür entriegelte. Es gab keine Stufen und keine Leiter, die ins Innere führten, aber der Sprung war nicht tief.
Der größere der beiden Räume war mit Krimskrams ausgestattet, den die Jungen beim Sperrmüll ergattert hatten: alte LP-Hüllen, Bambusperlen, ein leerer Bilderrahmen, das Vorderrad eines Fahrrads. Lane hatte ein gestohlenes Stoppschild zur Einrichtung beigetragen, das ihm ein Freund geschenkt hatte. Der andere Raum, das »Hauptquartier«, war kleiner und mit einer fleckigen Teppichbrücke ausgelegt, die sie auf der Müllkippe gefunden hatten. Hier bewahrten sie auch die Playboy-Hefte auf, die sie in einem Sack voller Zeitschriften gefunden hatten, die zum Recycling bestimmt gewesen waren.
Billy ging den kurzen Weg hinter dem Haus entlang. Er hätte Lane anrufen können, um sich im Fort mit ihm zu treffen, aber heute wollte er allein sein. Er fühlte sich seltsam und traurig und einsam, und obwohl es kein angenehmes Gefühl war, wollte er es doch nicht verdrängen. Manchen Gefühlen musste man einfach ihren Lauf lassen - man musste sie erfahren, sie von selbst vorübergehen lassen -, und dies war solch ein Gefühl.
Außerdem war Billy nicht nach Reden zumute, und wenn Lane da war, wäre es nicht zu vermeiden gewesen: Der Junge redete mehr als jeder andere, den Billy je kennen gelernt hatte. Manchmal war das in Ordnung, aber nicht immer, und heute war Billy einfach nicht in der Stimmung für Gespräche.
Trotzdem kam er sich ein bisschen wie ein Verräter vor, weil er allein hierhergekommen war. Es war das erste Mal, dass er ohne Lane zum Fort ging, und das erschien ihm irgendwie falsch. Als ob er eine Art Pakt verletzte, obwohl es zwischen ihm und Lane keine derartige Vereinbarung gab, weder ausgesprochen noch unausgesprochen.
Billy erreichte das Fort und kletterte rasch den Baum hinauf, schwang sich auf das Dach und öffnete die Klapptür. Er ließ sich in den Hauptraum fallen, stand dort einen Augenblick und betrachtete den alten Eiskasten, den sie auf den Kopf gestellt und zu einer Bank umfunktioniert hatten. Den Eiskasten hatte ihnen Mr. Ronda gegeben, dazu ein paar Sperrholzbretter, die er noch zu Hause hatte. Er hatte das Material einmal bei einer seiner Runden mitgebracht und neben dem Briefkasten abgelegt.
Billy dachte an Mr. Rondas freundliches Gesicht, an seine lachenden blauen Augen, den dichten weißen Bart. Er hatte den Postboten sein Leben lang gekannt, hatte ihn jeden Tag gesehen, bis er zur Schule gehen musste, und danach an jedem Samstag, sowie in den Ferien und im Sommer. Als Billy für ein Schulfest Gummibänder gebraucht hatte, hatte Mr. Ronda sie für ihn gesammelt und morgens mit der Post geliefert. Als Billy ein Referat über das Postamt schreiben musste, hatte Mr. Ronda ihn auf seiner Runde mitgenommen. Nun würde Mr. Ronda ihm nie mehr helfen, würde nie mehr vorbeikommen, um die Post abzuliefern, würde nie mehr reden, nie mehr lächeln, nie mehr leben.
Billy spürte, wie seine Augen sich mit Tränen füllten, und er betrat durch den Vorhang das Hauptquartier. Er wollte traurig sein, aber nicht weinen, und so zwang er sich, an etwas anderes zu denken. Später, wenn er sich gefasst hatte, würde er sich wieder an Mr. Ronda erinnern.
Billy setzte sich auf den Teppich und nahm den obersten Playboy vom Stapel. Er blätterte durch das dicke Magazin, bis er zu den ersten Fotos kam. »Frauen in Uniform«, lautete die Überschrift. Er ließ den Blick über die Seite wandern. Da war eine Frau, die rittlings auf einem Feuerwehrschlauch saß und nur einen roten Feuerwehrhelm und einen glatten roten Regenmantel trug. Unter dem Foto war das Bild einer halbnackten Frau mit großen Brüsten, die eine Polizeimütze trug und an der runden Spitze eines Schlagstocks leckte. Billys Blick schweifte nach oben auf die nächste Seite und auf eine nackte Frau, die nichts als ein Lächeln und die Mütze eines Postboten trug. Eine Hand hielt einen Packen Briefe, der Zeigefinger der anderen Hand lag auf der Unterlippe ihres Schmollmundes.
Billy spürte, wie sich in seiner Hose etwas regte. Er drückte seine Jeans herunter, die sich auszubeulen begann.
Würde der neue Postbote so aussehen?
Einen Augenblick starrte er auf das Dreieck aus rotem Schamhaar und auf die rosafarbenen, harten Brustwarzen der Frau. Er fühlte sich schuldig, dass er solche Gedanken hatte, und schnell klappte er das Magazin zu und legte es oben auf den Stapel. Billy versuchte, wieder an Mr. Ronda zu denken und daran, was der Postbote für ihn getan hatte und nie wieder tun würde; an den Mann, der er gewesen war und nie wieder sein würde. Doch der Augenblick war verstrichen, und so sehr Billy es auch versuchte, es kamen keine Tränen mehr.