29.

Trish erwachte und fühlte sich nervös und unwohl; die emotionalen Überbleibsel eines Albtraums, an den sie sich leider erinnerte und in dem es natürlich um die Post gegangen war. Sie war jung gewesen, ein Kind noch, hatte aber in diesem Haus gewohnt, und sie war die Auffahrt zum Briefkasten hinuntergegangen. Es war ein prächtiger Tag, der Himmel war blau, die Sonne schien, und sie trug ihr rosa Lieblingskleid mit der kleinen Schürze. Sie öffnete den Briefkasten und holte einen Stapel Umschläge in leuchtenden Farben heraus, von denen der oberste mit einem tanzenden Teddybären geschmückt war. Vorsichtig, um nicht das schöne Papier zu zerreißen, öffnete sie die Lasche ...

Und eine weiße Hand schoss aus dem Umschlag und umklammerte ihren Hals.

Sie schrie und ließ die anderen Umschläge fallen, und diese öffneten sich, und aus jedem schoss eine Hand hervor. Eine der Hände zuckte zu ihrem Kleid hinauf und fasste ihr in den Schritt. Zwei weitere streckten sich nach oben, um ihre knospenden Brüste zu kneten und zu streicheln. Eine andere fuhr ihr direkt zwischen die Hinterbacken. Wieder andere ergriffen sie an Armen und Beinen. Sie schrie, doch eine letzte Hand verschloss ihr den Mund, und sie wurde zu Boden gezogen.

Und dann wachte sie auf.

Kein schöner Tagesanfang.

Heute war sie an der Reihe, das Frühstück vorzubereiten; sie machte Muffins mit Kleie und presste die letzten Orangen aus, bevor sie hinausging, um nach ihrem Garten zu sehen. Sie fühlte sich müde und mehr als nur ein wenig unwohl in ihrer Haut, aber sie erinnerte sich an ihren Schwur von gestern, an ihre Versprechen an Doug, und sie versuchte, ihre negativen Gefühle beiseitezuschieben. Sie nahm den Wasserschlauch und drehte den Hahn auf. Sie hatte ihre Pflanzen zwar regelmäßig gegossen, aber eine ganze Weile den Garten nicht gejätet; sie hatte sich auch nicht die Zeit genommen, Schädlinge zu bekämpfen oder Pflanzen zu beschneiden. Daher war das Gemüse dieses Jahr das schlechteste, das sie jemals gezogen hatte.

Auch das würde sich ändern, beschloss sie. Sie würde diesen Morgen damit verbringen, sich um ihren Garten zu kümmern. Es war Zeit, dass sie die Kontrolle über ihr eigenes Leben wiedererlangte und es nicht dem Postboten überließ.

Trish dachte an Irene. Sie würde ihre Freundin heute noch anrufen und sich davon überzeugen, dass es ihr gut ging.

Bald darauf erwachte Doug. Als sie das Duschwasser durch die Rohre laufen hörte, ging sie wieder ins Haus und weckte Billy. Heute Morgen würden sie alle gemeinsam frühstücken. So, wie es sein sollte.

Nach dem Frühstück spülte Doug das Geschirr, und Billy trocknete ab. Als sie fertig waren, rekrutierte Trish die beiden, ihr im Garten zu helfen. Billy versuchte, sich zu drücken und zu erklären, warum fernzusehen wichtiger für ihn war, aber Trish und Doug zwangen ihn, die Auffahrt zu harken. Soweit sie sich erinnern konnten, war es das erste Mal seit einiger Zeit, dass Billy die Arbeit tatsächlich ohne größeres Nörgeln erledigte. Es schien ihm sogar ein wenig Spaß zu machen, und flüsternd wies Trish Doug darauf hin, worauf er erwiderte, dass es nichts Besseres als einen kleinen Aufenthalt in der Hölle gab, um zu bewirken, dass die Menschen sich sogar nach dem Nicht-Vergnügen des täglichen Lebens sehnten.

Gemeinsam aßen sie auf der Veranda zu Mittag - Sandwiches mit Schinken, Salat und Tomaten. Danach beschlossen Doug und Billy, einen Ausflug zur alten Sutpen-Ranch zu machen. Trish füllte zwei Feldflaschen mit Wasser, packte für jeden ein Sandwich ein und sagte ihnen, dass sie um fünf wieder zurück sein sollten oder sie würde die Rangerstation anrufen. Winkend fuhren sie mit dem Bronco davon.

Als sie weg waren, rief Trish Irene an.

Sie hatte darüber nachgedacht, was sie ihr sagen sollte und welche zwingenden Argumente sie vorbringen konnte, damit die Freundin der Polizei sagte, was für grässliche Post sie erhalten hatte, oder damit sie wenigstens Trish erlaubte, es Doug zu erzählen. Doch als sie die verängstigte, gebrochene Stimme Irenes hörte, wusste sie sofort, dass kein logisches Argument sie würde umstimmen können.

»Hallo?«, sagte Irene.

»Hallo. Ich bin's, Trish.«

»Ich wusste, dass du es bist. Sonst hätte ich den Hörer gar nicht abgenommen.«

Trish holte tief Luft. »Hör mal«, sagte sie, »ich bin deine Freundin ...«

»Nein, ich werde es niemandem sagen.«

Trish war verblüfft, wie entschlossen die alte Frau klang. »Woher weißt du, dass ich dir das sagen wollte?«

»Wir wissen doch beide, warum du anrufst«, sagte Irene. Sie hustete unsicher. »Ich muss damit auf meine Weise fertig werden. Hast du verstanden?«

»Ja, aber ...«

»Es gibt Dinge, die du nicht weißt«, sagte die alte Frau, und in ihrer Stimme war etwas, was Trish kalte Schauer über den Rücken sandte. »Ich hätte dir von vornherein nicht so viel erzählen sollen.«

»Ich will dir nur helfen.«

Irene hustete wieder. »Ich weiß.«

Trish dachte einen Augenblick nach. »Versprich mir wenigstens, dass du mich anrufst, wenn etwas passiert. Ruf an, wenn du Hilfe brauchst.«

»Ja, sicher.«

»Okay.« Trish zögerte, aufzulegen, doch sie spürte, dass Irene im Moment wirklich nicht mit ihr reden wollte. »Du bist sicher, dass es dir gut geht?«

»Es geht mir gut. Wir reden später, okay?«

»Okay.«

Die alte Frau legte ohne Abschiedsgruß auf.

Doug irrt sich, dachte Trish, als sie den Hörer auflegte. Die Leute veränderten sich nicht völlig unabhängig von der Post. Direkt oder indirekt hing alles mit der Post zusammen. Die Ursache aller Geschehnisse in Willis, die Wurzel aller Feindseligkeit und Verrücktheiten war der Postbote.

Trish ging nach draußen, wo sie die Post hingelegt hatte, die sie an diesem Morgen aus dem Kasten geholt hatte, bevor Doug und Billy aufgewacht waren. Es waren zwei Umschläge, beide an sie adressiert. Den ganzen Tag hatte sie mit sich gerungen, ob sie die Briefe öffnen sollte oder nicht.

Nun nahm sie eine Schaufel und grub ein tiefes Loch auf der Waldseite des Gartens.

Sie warf die Umschläge hinein und begrub sie ungeöffnet.


Trish ging die Straße entlang zum Haus der Nelsons. Hannah hatte seit über zwei Wochen nicht mehr angerufen. Tatsächlich hatte Trish nicht mehr mit ihren Freunden gesprochen, seitdem Scooby vergiftet worden war. Das war ungewöhnlich. Normalerweise besuchten sie und Hannah sich wenigstens jeden zweiten Tag oder telefonierten miteinander.

Im Laufe der vergangenen Woche hatte Trish mehr als einmal versucht, die Nummer der Nelsons zu wählen, aber immer ein Besetztzeichen bekommen, und als sie an diesem Morgen angerufen hatte, hatte eine Roboterstimme sie informiert, dass die Verbindung abgeschaltet worden war und nicht mehr angewählt werden konnte.

Also hatte Trish beschlossen, hinüberzugehen.

Es hatte leicht geregnet, gleich nachdem Doug und Billy weggefahren waren - ein kurzer Schauer aus einer einsamen Wolke, der weniger als zehn Minuten gedauert hatte -, und nun klebte der Straßenstaub am Boden. Trish war dankbar dafür. Normalerweise wirbelte sie mit jedem Schritt Staub auf und war verschmutzt, wenn sie Hannahs Haus erreichte.

Trish bemerkte sofort, dass der Wagen der Nelsons in der Auffahrt stand; daher wusste sie, dass sie zu Hause waren.

Sie ging am Wagen vorbei zum Haus, wobei der Kies laut unter ihren Schuhen knirschte. Ihre Blickte schweiften zu der Metallstange hinüber, an der Scoobys Kette befestigt gewesen war. Neben der Stange stand ein leerer Wassernapf aus Kunststoff. Es war merkwürdig, nicht das fröhliche Bellen des Hundes zu hören, als sie sich dem Haus näherte, und sie fühlte sich unbehaglich, als wäre sie zum falschen Ort gekommen.

Trish stieg die Stufen der Veranda hinauf und klopfte an die äußere Gittertür. Sie konnte hören, dass sich im Haus jemand bewegte, doch die schwere Vordertür öffnete sich nicht. »Hannah!«, rief Trish.

»Verschwinde von hier!«, erklang die wütende Stimme ihrer Freundin aus dem Innern des Hauses.

»Ich bin's, Trish!«

»Ich sagte, du sollst verschwinden, verdammt!« Hannah Nelson öffnete und stand hinter der Gittertür. Ihr Haar war zerzaust und ungekämmt, ihr Hauskleid schmutzig. Trish konnte sich nicht erinnern, ihre Freundin jemals anders als wie aus dem Ei gepellt gesehen zu haben, und der Anblick ihres unordentlichen Äußeren war ein Schock.

»Hannah!«

»Hau ab, du Hexe!«

Trish starrte sie an, wusste nicht, was sie tun oder sagen sollte.

»Hundemörderin!«, schrie Hannah. Sie spuckte Trish an. Der Speichel, aufgefangen von dem feinen Drahtgitter, tropfte in dicken Fäden herunter.

Trish war fassungslos. »Wovon redest du?«

»Wir haben den Brief bekommen. Wir wissen alles. Ron!« Sie drehte sich zum Wohnzimmer um und ließ Trish auf den herabtropfenden Speichel starren.

Ron tauchte aus dem Halbdunkel des Wohnzimmers auf, öffnete die Gittertür und trat hinaus auf die Veranda. Er stellte sich vor Trish hin, die Beine leicht gespreizt, und blickte sie feindselig und drohend an. »Ich hätte nicht gedacht, dass du jemals den Mut findest, dich hier noch mal blicken zu lassen.«

»Ich weiß nicht, was du ...«

»Hau endlich ab!«, kreischte Hannah.

Ron starrte Trish wütend an. »Du hast gehört, was meine Frau gesagt hat. Verschwinde! Und lass dich hier nie wieder blicken.«

Jeden Schritt ertastend, wich Trish zurück. »Ich verstehe nicht ...«

»Geh nach Hause, Miststück.« Ron spuckte vor ihr auf den Boden. »Und sag deinem Bengel, dass wir ihn hier nicht mehr sehen wollen. Ich weiß, dass er immer hierhergekommen ist und Zitronen geklaut hat. Wenn er nicht damit aufhört, riskiert er, sich eine Kugel im Arsch einzufangen. Hast du kapiert?«

Trish fühlte, wie weiß glühende Wut in ihr aufwallte. »Mein Sohn hat noch nie etwas gestohlen! Er war die ganze letzte Woche zu Hause. Und wenn du nicht so ein dummer, ungebildeter Blödmann wärst, hättest du auch von selber darauf kommen können!«

Mit ausgestreckter Faust kam Ron auf sie zu, und Trish lief davon.

Am Ende der Auffahrt drehte sie sich um. »Und wenn du noch ein bisschen mehr nachdenken würdest, dann wüsstest du auch, dass wir Scooby niemals etwas antun würden!«

Ron hob einen Stein auf und warf ihn nach Trish. Er flog weit, verfehlte sie jedoch, und herausfordernd streckte sie ihm einen erhobenen Mittelfinger entgegen, ehe sie mit Tränen in den Augen nach Hause lief.

Als Doug und Billy eine Stunde später zurückkehrten, hatte Trish ihre Fassung zurückgewonnen. Sie erzählte Doug, was geschehen war, und gemeinsam gingen sie über die Straße zum Haus der Nelsons, nicht ohne Billy zuvor einzuschärfen, im Haus zu bleiben, solange sie weg waren.

Obwohl der Wagen der Nelsons immer noch in der Auffahrt stand und Doug mehrere Male laut klopfte, kam niemand zur Tür.

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