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Paul Hagbolt achtete kaum darauf, was die Sprecher auf der Plattform sagten, sondern dachte über den merkwürdigen Zufall nach, daß Doc genau das beschrieben hatte, was auf den Fotografien zu sehen war. Er hatte plötzlich das Gefühl, daß alles um ihn herum bereits im ersten Stadium der Auflösung sei. Als er zum Himmel aufsah, um sich mit den Sternen und dem Mond zu trösten, die sich seit Menschengedenken nicht verändert hatten, sagte eine fremde Stimme tief in seinem Innern: »Aber was ist, wenn die Sterne sich jetzt bewegen? Auf den Fotografien haben sie es schließlich auch getan.«

Ragnarok knurrte leise vor sich hin. Miau drückte sich flach gegen Margos Schulter und krallte sich fest.

Der kleine Mann sagte: »Ende der totalen Phase der Mondfinsternis.«

Doc sagte: »Möchte noch irgend jemand eine Frage stellen?«

Margo sagte: »Ruhig, Miau!«

Paul hob den Kopf und sah, daß der östliche Rand des Mondes bereits wieder hell wurde. Er atmete erleichtert auf, weil er plötzlich wußte daß seine unerklärlichen Befürchtungen mit dem Ende der Mondfinsternis verschwinden würden.

Etwa fünf Monddurchmesser östlich des Erdtrabanten bewegte eine Gruppe von Sternen sich rasch umeinander wie weiße Feuerwerksraketen, die in der Luft Räder schlagen und nach allen Richtungen Funken versprühen ... dann verschwanden sie.


Knolls Kettering III. starrte weiter durch das Teleskop und erklärte: »Das Wort ›Planet‹, Miß Katz, kommt von dem griechischen Verb planasthai, wandern. Eigentlich bedeutet es nur ›Wanderer‹: ein Himmelskörper, der sich zwischen den Fixsternen bewegt.« Er machte eine Pause und fuhr überrascht fort: »Die Mondoberfläche wird jetzt überall heller, nicht nur am Rand, wo das Sonnenlicht bereits wieder reflektiert wird. Ja, ganz entschieden heller — ich sehe sogar Farben.«

»Bleiben Sie bitte am Okular«, bat Barbara Katz in diesem Augenblick leise. »Bitte, Sie müssen sich auf einen großen Schock vorbereiten.«

»Ein Schock? Was ist denn, Miß Katz?« erkundigte er sich nervös, obwohl er ihre Anweisung befolgte.

»Ich weiß nicht«, antwortete Barbara. »Es sieht wie ein alter Umschlag von Amazing aus. Ich glaube fast, daß Ihr Wanderer hierher kommt — nur haben die alten Griechen wahrscheinlich andere Vorstellungen davon gehabt. Dort oben steht ein neuer Planet am Himmel.«


Paul zuckte zusammen und hielt die Augen fast zwei Sekunden lang fest geschlossen.

Als er sie wieder öffnete, stand der Wanderer am Himmel und strahlte blutrot und golden.

Der Wanderer war deutlich zu sehen: sein Durchmesser betrug mindestens das Vierfache des Monddurchmessers, er stand etwa ebenso weit östlich des Mondes am Himmel; seine sechzehnmal größere Oberfläche wurde durch ein breites umgekehrtes S in zwei goldene und purpurfarbene Hälften geteilt, die samtweich aussahen, obwohl ihr Rand sich deutlich gegen den schwarzen Himmel abzeichnete.

Das alles nahm Paul im Bruchteil einer Sekunde auf, bevor er sich instinktiv zu Boden warf und den Kopf in den Händen verbarg. Er hatte den Eindruck, daß am Himmel eine flammende Bedrohung stand, die jeden Augenblick zur Erde stürzen und ihn zerschmettern konnte.

Margo hielt Miau an sich gepreßt und kauerte ebenfalls auf der ehemaligen Tanzfläche.

Aus Zufall fiel Pauls Blick auf das Programm, das neben ihm lag. Er las automatisch eine Zeile: »Unser bärtiger Diskussionsteilnehmer ist Ross Hunter, Professor für ...«, bevor ihm auffiel, wie leicht er beim Licht des Wanderers lesen konnte.


General Spike Stevens befahl scharf: »Jimmy, verändern Sie die Einstellung, damit das Licht verschwindet, bevor die Bildröhre durchbrennt!«

»Jawohl, Sir«, antwortete Captain James Kidley. »Aber auf welchem Bildschirm ist es? Ich sehe es auf beiden.«

»Es ist auf beiden«, warf Oberst Willard Griswold ein. »Sehen Sie selbst, Spike. Es ist dort draußen — und so groß wie die Erde.«

»Entschuldigen Sie, Spike«, sagte Oberst Mabel Wallingford rasch, »aber könnte es sich nicht um einen Test handeln? Sie wissen doch, daß das Hauptquartier I unsere Nachrichtenverbindungen jederzeit zu Testzwecken unterbrechen kann.«

»Richtig«, meinte der General und griff begierig nach dem angebotenen rettenden Strohhalm, »wahrscheinlich handelt es sich nur um einen simulierten Notfall. Okay, nehmen wir also an, daß das Hauptquartier unsere Einsatzbereitschaft überprüfen will.«


Paul warf einen ängstlichen Blick nach oben und stellte fest, daß der Wanderer sich nicht bewegt zu haben schien. Er richtete sich auf, half Margo beim Aufstehen und sah sich um. Die anderen hatten wie er reagiert; überall standen umgefallene Stühle, aber weder die Zuhörer noch die Diskussionsteilnehmer waren zu sehen.

Allerdings gab es eine Ausnahme. Der Ladestock stand aufrecht und sagte mit hoher Stimme: »Kein Grund zur Panik, Leute. Seht ihr nicht, daß das nur ein Luftballon ist? Wahrscheinlich aus Japan — jedenfalls den Farben nach.«

Unter einem Tisch hervor kam Docs laute Stimme: »Bleibt unten, ihr Idioten! Wißt ihr nicht, daß eine Atomexplosion im Raum wie eine glühende Kugel aussieht?« Dann fügte er leiser hinzu: »Haben Sie irgendwo meine Brille gesehen, Rama Joan?«

Ann kam auf Paul und Margo zu. »Weshalb haben eigentlich alle Angst?« erkundigte sie sich fröhlich. »Das ist doch die größte Untertasse aller Zeiten.«

Der Ladestock sprach mit der gleichen hohen Stimme weiter: »Der japanische Luftballon bewegt sich sehr langsam, Leute. Er wird dicht über uns hinwegfliegen, aber keine Angst, er fällt nicht herunter.«

Der kleine Mann ging zu ihm hinüber, griff nach seinem Arm und schüttelte ihn heftig.

»Wie kann ein Ballon die Sterne völlig verdecken?« fragte er laut. »Wie ist es möglich, daß er alles fast taghell erleuchtet? Was haben Sie dazu zu sagen, Charlie Fulby?«

Der Ladestock sah sich um. Dann verdrehte er die Augen, wollte sich an einem Stuhl festhalten und sackte wortlos zusammen. Der kleine Mann schüttelte den Kopf und sagte: »Jedenfalls ist das dort oben nicht Arletta.«

Im gleichen Augenblick tauchten Doc, der seine Brille wiedergefunden hatte, und Hunter, der Professor mit dem Bart, hinter dem Tisch auf.

»Das war keine Atomexplosion«, verkündete Doc, »sonst hätte die Feuerkugel sich bereits weiter ausgedehnt. Außerdem wäre sie zu Anfang wesentlich heller gewesen.«

Rama Joan war ebenfalls wieder aufgestanden. Ihr Smoking wirkte jetzt leicht zerknittert, der grüne Turban war verrutscht.

Der Wanderer stand weiter unbeweglich am Himmel: samtweich und doch klar umrissen, unvorstellbar und doch offensichtlich. Seine beiden Hälften erinnerten an das Yin-Yang-Symbol von hell und dunkel, männlich und weiblich, gut und böse.

Während die anderen nach oben starrten, nahm der kleine Mann ein Notizbuch aus der Jackentasche und zeichnete auf eine der freien Seiten eine saubere Skizze des neuen Himmelskörpers. Er stellte die unregelmäßig verlaufende Trennlinie durch ein geschwungenes umgekehrtes S dar, schraffierte die purpurrote Fläche und ließ den goldenen Teil weiß.



Don Merriam sammelte die letzten Behälter ein und machte sich auf den Rückweg. Er sah nach oben und stellte fest, daß die Sonne innerhalb der nächsten Sekunden hinter der Erde auftauchen würde. Dann herrschten hier wieder hohe Temperaturen, während der schwarze Planet von dem reflektierten Licht silbern beleuchtet wurde.

Dann blieb er wie erstarrt stehen. Die Sonne war noch nicht wieder sichtbar geworden, aber die Erdoberfläche leuchtete hell — mindestens zwanzigmal heller als er sie je bei Mondschein hatte glänzen sehen. Er erkannte die beiden Amerikas und am rechten Rand ein Glitzern, das Grönland sein mußte.

»Sieh dir nur die Erde an, Don«, sagte Johannsen in diesem Augenblick.

»Das tue ich bereits, Yo. Was hat das zu bedeuten?«

»Keine Ahnung, aber vielleicht hat irgendwo auf dem Mond eine riesige Explosion stattgefunden. Zum Beispiel in dem sowjetischen Stützpunkt — der Raketentreibstoff könnte sich entzündet haben.«

»Selbst das wäre nicht so hell, Yo. Ich glaube eher, daß Ambartsumian eine neuartige Leuchtfackel ausprobiert.«

»Nukleare Festbeleuchtung?« meinte Johannsen. »Dufresne hat eben einen dritten Vorschlag gemacht: Alle Sterne auf der anderen Seite des Mondes haben sich in Novä verwandelt.«

»Das könnte hinkommen«, stimmte Don zu. »Aber was hat der komische Fleck im Atlantik zu bedeuten, Yo?«

Der Fleck, von dem er sprach, war ein goldener und purpurroter Lichtpunkt auf dem ruhigen Wasser.

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