21

Die Untertassen-Beobachter spürten ihre Lebensgeister endlich wieder erwachen, nachdem sie sich völlig durchnäßt ans Ufer gerettet hatten, wo sie vor den Brechern sicher waren. Die Männer hatten Treibholz gesammelt und am Rand der Brücke über dem ausgetrockneten Flußbett ein großes Feuer entzündet. Jetzt trockneten sich alle daran, teilten sich die Decken aus dem Lieferwagen und die wenigen anderen Kleidungsstücke, die nicht durchnäßt waren.

Rama Joan schnitt die Hose ihres Smokings bis zum Knie ab, kürzte die Ärmel der Jacke um die Hälfte und band ihre rotgoldenen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen, so daß sie den grünen Turban als Plastron benutzen konnte. Ann und Doc bewunderten sie aufrichtig.

Alle sahen ziemlich mitgenommen aus. Margo fiel auf, daß Ross Hunter sich besser als die übrigen Männer gehalten zu haben schien, aber dann merkte sie, daß daran sein gepflegter Bart schuld war, der sich kaum verändert hatte, während die anderen unterdessen schwarze Bartstoppeln hatten, die nicht gerade vorteilhaft aussahen.

Als ein strahlend schöner Tag heraufkam, konnten sie sich alle kaum noch vorstellen, was letzte Nacht tatsächlich passiert war — und daß in diesem Augenblick der neue Planet Japan Australien und die anderen Inseln im Pazifik terrorisierte. Aber sie sahen einen gewaltigen Erdrutsch, der die Straße kaum zweihundert Meter nördlich von ihnen blockierte, während Doc auf die Trümmer der Plattform und des kleinen Hauses wies, die gegen den Stacheldrahtzaun von Vandenberg zwei geschwemmt worden waren.

»Trotzdem steht fest, daß der Mensch nachträglich an seinen eigenen Erlebnissen zu zweifeln beginnt«, sagte Doc. »Wie steht es mit einem weiteren Augenzeugenbericht, den wir alle unterzeichnen können, Doddsy?«

»Ich mache Tagebuchaufzeichnungen mit wasserfester Tinte«, antwortete der kleine Mann sofort. »Sie alle können meine Notizen jederzeit nachlesen.« Er hielt sein Buch hoch, als wolle er diese Feststellung ausdrücklich bekräftigen. »Falls jemand die Ereignisse anders in Erinnerung hat, notiere ich seine Version gern — unter der Voraussetzung, daß er die Abweichung mit seiner Unterschrift bestätigt.«

Wojtowicz warf einen Blick auf die Zeichnungen in dem Notizbuch und sagte: »He, Doddsy, der Wanderer hat aber nicht ganz so ausgesehen!«

»Ich habe einige Details weggelassen und nur den Gesamteindruck wiedergegeben«, antwortete der kleine Mann ruhig. »Andererseits habe ich die Zeichnungen nach der Natur angefertigt. Aber wenn Sie den neuen Planeten anders in Erinnerung haben, können Sie ihn selbst zeichnen und die abweichende Darstellung unterschreiben.«

»Nein, nein, ich bin wirklich kein Künstler«, wehrte Wojtowicz grinsend ab.

»Heute abend können Sie sich davon überzeugen, wer recht hat, Wojtowicz«, warf Doc ein.

»Reden wir lieber nicht davon!« sagte der andere.

Der Ladestock hielt sich von den anderen fern; er saß auf dem breiten Brückengeländer und starrte trübselig aufs Meer hinaus, wo der Wanderer untergegangen war.

»Sie hat ihn gewählt«, murmelte er erstaunt vor sich hin. »Ich habe geglaubt und bin doch übergangen worden. Er ist jetzt an Bord der Untertasse.«

»Mach dir nichts daraus Charlie«, sagte Wanda und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Vielleicht war es gar nicht die Kaiserin selbst, sondern nur eine Zofe, die ihren Auftrag nicht richtig verstanden hatte.«

»Das war wirklich komisch, als die Untertasse plötzlich über uns erschien — ich wäre fast erschrocken«, erzählte Wojtowicz den anderen. »Wißt ihr eigentlich bestimmt, daß Paul darin verschwunden ist? Ich sage das nicht, um euch zu ärgern, aber schließlich könnte er ins Meer abgetrieben worden sein, wie es uns fast passiert ist.«

Doc, Rama Joan und Hunter versicherten ihm, daß sie die Szene mit eigenen Augen beobachtet hatten. »Ich glaube allerdings, daß sie mehr an der Katze als an Paul interessiert war«, fügte Rama Joan hinzu.

»Warum?« fragte der kleine Mann. »Und weshalb ›sie‹?«

Rama Joan zuckte mit den Schultern. »Schwer zu sagen, Mister Dodd. Wahrscheinlich nur deshalb, weil das Lebewesen wie eine Katze aussah.«

»Richtig«, stimmte Doc zu.

»Glauben Sie, daß die Untertasse wirklich einen trägheitslosen Antrieb besessen hat — wie die Bergenholms von E. E. Smith oder so ähnlich?« fragte Harry McHeath Doc.

»Vermutlich, denn sonst hätte sie nicht so rasch ihre Richtung ändern können. In solchen Situationen sind SF-Romane unsere einzige Stütze. Andererseits ...«

Während sich die anderen unterhielten, benützte Margo die Gelegenheit, um hinter den nächsten Büschen zu verschwinden. Sie kletterte über eine niedrige Böschung am Ufer des ausgetrockneten Flußbettes und stand dann auf einer mit Felsbrocken übersäten Terrasse etwa fünf Meter über dem Strand.

Sie sah sich vorsichtig um und stellte fest, daß ihr niemand gefolgt war. Erst dann holte sie die Pistole, die aus der Untertasse gefallen war, unter ihrer Jacke hervor. Jetzt hatte sie zum erstenmal Gelegenheit, ihren Fund eingehend zu betrachten. Die Pistole bestand aus einem grauen Metall — dem Gewicht nach Aluminium oder Magnesium — und wies keine erkennbare Öffnung auf, aus der eine Kugel oder ein anderes Geschoß hätte kommen können. Der Griff mit dem Feuerknopf schien für eine Hand mit drei Fingern und einem Daumen vorgesehen zu sein. An der linken Innenseite des Griffes sah Margo einen violetten Streifen, der fünf Achtel der gesamten Länge einnahm und sie an ein Thermometer erinnerte.

Margo wog die Pistole nachdenklich in der Hand. Dann zielte sie auf einen der kleineren Felsbrocken, der am Rand der Klippe lag, und drückte langsam auf den roten Knopf an der Vorderseite des Griffes. Ihr Herz schlug rascher. Zunächst geschah gar nichts, aber als sie fester auf den Knopf drückte, schoß der Felsbrocken plötzlich förmlich davon, ohne daß Margo einen Rückstoß bemerkt hätte. Im Rand der Felsklippe gähnte jetzt ein breites Loch; der Felsbrocken und die losen Steine waren zwanzig Meter weiter fast geräuschlos in den nassen Sand gefallen. Ein kurzer Windstoß wehte Margo die Haare ins Gesicht, dann rutschten noch einige Steine hinter den anderen her nach unten.

Margo holte tief Luft und grinste zufrieden. Der violette Streifen hatte sich nicht merklich verkürzt. Sie steckte die Pistole in die Innentasche der Lederjacke zurück und zog den Reißverschluß bis oben zu. Dabei runzelte sie nachdenklich die Stirn.

Als sie über die Böschung zurückkletterte, sah sie dort zu ihrer Überraschung Hunter stehen, der auf sie gewartet zu haben schien.

»Professor Hunter!« sagte Margo scharf. »Das hätte ich Ihnen wirklich nicht zugetraut!«

»Was?« fragte Hunter.

»Daß Sie hinter mir her spionieren.«

Er schüttelte den Kopf. »Sie irren sich, das war keineswegs beabsichtigt«, antwortete er dann. »Ich habe nur einen kleinen Erdrutsch gehört und wollte nachsehen, ob alles in Ordnung ist.«

»Ein Felsbrocken ist zum Strand hinabgerollt«, erklärte Margo ihm. Sie ging an ihm vorbei. »Aber das Geräusch kann nicht weit zu hören gewesen sein.«

»Ich habe es aber gehört«, meinte Hunter und ging neben ihr her. »Warum ziehen Sie nicht die Jacke aus? Es wird allmählich heiß.«

»Ich könnte mir geschicktere Annäherungsversuche vorstellen«, versicherte Margo spöttisch.

»Ich auch«, sagte Hunter.

»Wahrscheinlich«, stimmte Margo sofort zu. Sie blieb stehen und sagte: »Ross, nennen Sie einen führenden Wissenschaftler, besonders einen Physiker, der nobelpreisverdächtig ist und trotzdem nicht vergißt, daß der Mensch unmöglich alles wissen kann.«

»Das ist gar nicht so leicht«, meinte Hunter nachdenklich. »Da wäre zunächst Drummond zu nennen, aber auch Stendhal — der allerdings kein wirklicher Physiker ist — und Rosenzweig ... und selbstverständlich auch Morton Opperly.«

Margo nickte langsam. »Genau diesen Namen wollte ich von Ihnen hören«, sagte sie dann. »Vielen Dank, Professor.«


General Spike Stevens planschte durch das kalte Salzwasser an dem Fahrstuhlschacht vorbei, aus dem mit jeder Sekunde größere Wassermassen drangen, unter deren Druck die Metalltür erzitterte. Die Lampe auf seiner Brust leuchtete auf das hüfthohe Wasser hinab und ließ die historischen Schlachtszenen deutlich hervortreten, mit deren Abbildungen die Wand vor ihm tapeziert war.

Der General tastete die Wand ab, legte die Hand auf einen versteckt angebrachten Griff und riß eine Klappe auf, die hinter der Tapete verborgen gewesen war. Jetzt wurde eine dunkle Öffnung sichtbar, in der nur ein riesiger schwarzer Hebel waagerecht aus der Wand ragte.

Stevens drehte sich nach den anderen um. »Verstehen Sie mich richtig«, sagte er rasch. »Ich weiß nur, wo der Notausgang anfängt. Wo er aufhört, weiß ich ebensowenig wie Sie, weil ich offiziell nicht einmal ahnen darf, wo wir uns im Augenblick befinden — und ich habe auch keine Ahnung. Wir können nur hoffen, daß der Ausstieg zu einer Art Turm führt, weil wir wissen, daß wir fast zweihundert Meter unter der Erde sind und daß von oben irgendwie Salzwasser herunterkommt. Verstanden? Okay, ich öffne jetzt den Ausgang.«

Er wandte sich um und zog den schwarzen Hebel nach unten. Oberst Mabel Wallingford stand dicht hinter ihm, Oberst Griswold und Captain Kidley wiederum dicht hinter ihr.

Der Hebel bewegte sich zwei Zentimeter weit und blieb dann stecken. Stevens zog mit beiden Händen daran, bis er nur noch bis zu den Knien im Wasser hing. Oberst Mabel faßte ebenfalls an und machte einen Klimmzug an dem schwarzen Hebel.

»Halt!« rief Griswold plötzlich. »Wenn der Hebel klemmt, bedeutet das ...«

Der Hebel bewegte sich ruckartig zwanzig Zentimeter weiter nach unten. Kaum zwei Meter neben der kleinen Gruppe platzte die Tapete von der Wand, als eine schmale Eisentür aufflog. Im gleichen Augenblick schoß ein schwarzer Wasserstrahl mit hohem Druck aus der eben entstandenen Öffnung. Die vier Offiziere wurden voll getroffen und verloren sofort den Boden unter den Füßen.

Der Wasserstrahl strömte unvermindert rasch in den unterirdischen Bunker und füllte ihn innerhalb weniger Minuten, während die restliche Luft durch den Ventilatorschacht hinausgedrückt wurde. Die vier Lampen glühten noch kurze Zeit weiter, bis sie schließlich rasch nacheinander erloschen.


Margo und Clarence Dodd lehnten nebeneinander auf dem Geländer der Brücke, sahen zu den Hügeln hinauf und sprachen über die seltsamen Rauchwolken, die der leichte Morgenwind von Süden herantrieb. Sie verdunkelten die Sonne etwas und ließen ihr Licht rötlicher als sonst wirken.

»Vielleicht sind das nur Buschfeuer in den Bergen«, meinte der kleine Mann. »Ich fürchte allerdings, daß noch mehr dahintersteckt, Miß Gelhorn. Wohnen Sie in Los Angeles?«

»Ich habe einen Bungalow in Santa Monica gemietet, aber das ist kein großer Unterschied.«

»Haben Sie dort Familie?«

»Nein, ich lebe allein.«

»Das ist gut. Falls wir nämlich keinen Regen bekommen ...«

»Sehen Sie nur!« unterbrach Margo ihn und wies nach unten. »Das Flußbett ist plötzlich voll Wasser! Bedeutet das nicht, daß es in den Bergen geregnet hat?«

In diesem Augenblick kam Hixons Lieferwagen mit triumphierendem Hupen von einer Erkundungsfahrt an der Küste entlang zurück. Dicht hinter ihm fuhr ein gelber Schulbus mit etwa zwanzig Sitzplätzen. Die beiden Fahrzeuge hielten auf der Brücke an. Wojtowicz kletterte aus dem Bus. Er trug eines der beiden Gewehre in der Hand. Doc kam hinter ihm her, blieb aber auf der Treppe stehen, damit alle ihn sehen konnten.

»Meine Damen und Herren, ich darf Ihnen die freudige Mitteilung machen, daß ich für Sie alle ein ausgezeichnetes Transportmittel beschafft habe«, rief er fröhlich. »Ich habe darauf bestanden, einen Blick auf den Monica Mountainway zu werfen — und dort stand dieser entzückende kleine Schulbus, als habe er nur auf uns gewartet. Er ist aufgetankt und reichlich mit keimfreier Milch und Sandwiches mit Erdnußbutter und Marmelade beladen. Machen Sie sich alle fertig, damit wir in fünf Minuten fahren können!«

Doc trat auf die Straße herab und ging auf das Brückengeländer zu. »Das dort unten ist nicht Regenwasser, sondern die Flut, Doddsy«, stellte er fest, als der kleine Mann fragend nach unten zeigte. »Sie brauchen nur einen Blick über das andere Geländer zu werfen, dann sehen Sie eine einzige ununterbrochene Wasserfläche, die bis China reicht. In unseren Tagen muß man eben auf Überraschungen dieser Art gefaßt sein. Sie haben das zweite Gewehr, Doddsy — deshalb fahren Sie mit den Hixons. Ida ebenfalls, damit sie sich um Ray Hanks kümmern kann. Ich kommandiere den Bus.«

»Mister Brecht«, sagte Margo, »wollen Sie jetzt den Monica Mountainway benützen?«

»Jedenfalls so weit wie möglich«, antwortete Doc. »Ich möchte erst einmal sechshundert Meter höher sein, wenn sich das irgendwie schaffen läßt. Und dann ...« Er zuckte mit den Schultern.

»Mister Brecht«, fuhr Margo fort. »Vandenberg drei liegt ziemlich am Ende der Bergstraße. Eigentlich sogar in unmittelbarer Nähe. Morton Opperly hält sich dort auf — er ist für die wissenschaftliche Seite des Mondprojektes verantwortlich. Meiner Meinung nach müßten wir uns mit ihm in Verbindung setzen.«

»Eigentlich gar keine schlechte Idee«, meinte Doc nachdenklich. »Er ist bestimmt vernünftiger als die Idioten in V-2 und freut sich vielleicht sogar über ein paar Rekruten, die nicht übergeschnappt sind. Ich bin auch dafür, daß wir in dieser kritischen Situation Anschluß an die besten Wissenschaftler suchen. Allerdings weiß vorläufig noch niemand, ob wir V-3 jemals erreichen — oder Opperly noch dort ist, wenn wir endlich ankommen«, fügte er schulterzuckend hinzu.

»Darüber brauchen wir uns jetzt noch keine Sorgen zu machen«, antwortete Margo. »Ich möchte nur, daß Sie mir helfen, wenn sich eine Gelegenheit bietet, mit ihm Verbindung aufzunehmen. Ich habe einen wichtigen Grund dafür, den ich allerdings vorläufig noch nicht erklären kann.«

Doc warf ihr einen fragenden Blick zu und nickte dann langsam. »Wird gemacht«, versprach er, bevor er sich abwandte, um die Fragen und Vorschläge der anderen entgegenzunehmen, die sich aufgeregt um ihn drängten.

Margo stieg sofort in den Schulbus und setzte sich auf den Platz hinter dem Fahrer. Er war ein mürrischer Alter mit so eingefallenen Wangen, daß sie sich fragte, ob er überhaupt noch Zähne besaß.

»Sehr freundlich von Ihnen, daß Sie uns auf diese Weise aushelfen«, stellte sie fest.

»Meinen Sie mich?« erkundigte der Alte sich ungläubig und drehte sich nach Margo um. »Er hat mir erzählt, daß demnächst eine zweihundert Meter hohe Flutwelle zu erwarten ist«, fuhr er dann fort und wies mit dem Daumen durch die offene Tür auf Doc. »Er hat mir lebhaft genug ausgemalt, was passiert, wenn ich nicht bald weiter in die Berge hinauffahre. Und dann hat er mir noch gesagt, daß ich nicht lange zu überlegen brauche, ob ich seine Leute mitnehmen will, weil er einen Kerl mit einem Gewehr mitgebracht hatte. Freundlich von mir? Ich hatte gar keine andere Wahl!« Er schüttelte den Kopf und fügte hinzu: »Außerdem ist meine normale Route durch einen Erdrutsch blockiert. Deshalb verliere ich eigentlich nichts, wenn ich mich diesem komischen Haufen anschließe.«

Margo lachte. »Sie gewöhnen sich bestimmt bald an uns«, meinte sie.

In diesem Augenblick bestieg der Ladestock den Schulbus und rief Doc über die Schulter zu: »Gut, Wanda und ich fahren in diesem Klapperkasten, aber ich weigere mich, Milch zu trinken, die mit künstlichen Mitteln keimfrei gemacht worden ist!«

Der Fahrer warf Margo einen Blick zu. »Vielleicht«, meinte er dann zweifelnd.

Die anderen Mitglieder stiegen nacheinander ein. Hunter ließ sich neben Margo nieder, als sie mit dem Fahrer sprach. Sie machte demonstrativ etwas mehr Platz, aber er sah sie nicht ein mal an. Doc stand in der Tür und zählte die Fahrgäste. »Alles an Bord«, stellte er dann fest. Er beugte sich hinaus und rief Hixon zu: »Okay, wir fahren! Folgen Sie in Linie achteraus!«

Die beiden Fahrzeuge wendeten auf der breiten Brücke. Margo sah, daß das Wasser in dem ehemals trockenen Flußbett schon wieder einen Meter weiter gestiegen war. Der Teil des Strandes, auf den der Felsbrocken gefallen war, stand ebenfalls bereits unter Wasser. Am vergangenen Abend war die Straße hier fast fünfhundert Meter vom Meer entfernt gewesen, aber jetzt brachen sich die Wellen kaum hundert Meter vor dem Asphalt.

Doc ließ sich auf den strategisch günstigen Sitz neben der Tür fallen, den er für sich reserviert hatte, und legte die Beine auf den freien Platz neben sich.

»Abfahrt in Richtung Monica Mountainway«, wies er den Fahrer an. »Fahren Sie nicht schneller als fünfzig und passen Sie gut auf Felsbrocken auf. Wir müssen nur etwa sechs Kilometer an der Küste entlangfahren und haben genügend Zeit, um auf das höher gelegene Land auszuweichen. Sie erinnern sich hoffentlich daran, daß die Gezeiten an der Pazifikküste zwischen einem tieferen und höheren Wert abwechseln. Zum Glück für uns ist heute morgen eine niedrige Flut an der Reihe.«

Doc drehte sich ganz nach rückwärts um und rief: »McHeath, Sie sind unser Verbindungsmann! Behalten Sie den Lieferwagen im Auge. Die anderen drängen sich möglichst nicht an der Meerseite zusammen. Ich möchte nicht, daß der Bus einseitig belastet ist, wenn wir bergauf fahren. Wir sind der Flut weit genug voraus und befinden uns keineswegs in Gefahr.«

»Es sei denn, wir ...«, begann Margo, beherrschte sich aber noch rechtzeitig. Sie hatte etwas von Erdbeben sagen wollen, die Springfluten erzeugten.

Hunter lächelte ihr zu. »Richtig, sagen Sie es lieber nicht«, flüsterte er ihr zu. Dann wandte er sich leise an Doc: »Wie sind Sie auf die zweihundert Meter gekommen, Rudi?«

»Achtzigmal die hier übliche Fluthöhe von zweikommafünf Meter«, antwortete Doc ebenso leise. »Der Wert ist hoffentlich viel zu groß, aber schließlich müssen wir einen Anhaltspunkt haben.«

Margo zuckte zusammen, als sie die rauhe Stimme hörte, die ›zur Aufmunterung der anderen‹ sang. Sie wünschte sich, Paul säße an Docs Platz. Dann verschränkte sie die Arme und starrte die Rückseite des Fahrersitzes an. Er schien erst kürzlich abgeschrubbt worden zu sein, aber sie konnte noch immer ›Jo-Ann ist doof‹ und ›Pop hat nur fünf Zähne‹ lesen.

Obwohl Doc sich große Mühe gegeben hatte, die Mitglieder der Gruppe zu beruhigen, beobachteten die Fahrgäste gespannt das langsam steigende Wasser oder den rauchverhangenen Horizont. Während der Bus weiter nach Süden tuckerte, wuchs die Spannung immer mehr, nahm einige Minuten lang ab, als das Fahrzeug auf die zweispurige Straße abbog, die steil in die Berge hinaufführte, und nahm wieder zu, als die Fahrgäste nach vorn starrten und dort Erdrutsche oder Risse in der schwarzen Oberfläche der Straße suchten. Aber das erste Stück Straße, das geradewegs über die Kuppe eines niedrigen Hügels lief, wirkte glatt und hindernisfrei.

»Der Lieferwagen ist ebenfalls abgebogen und folgt uns, Mister Brecht«, sagte eine laute Stimme von hinten.

»Danke, McHeath«, antwortete Doc. Dann grinste er Margo und Hunter an und stellte laut fest: »Ich schwöre wirklich auf den Monica Mountainway. In den Zeitungen hat nicht viel darüber gestanden, aber die Straße ist tatsächlich geradezu revolutionär modern gebaut.«

»He, Doc, wir müßten doch andere Fahrzeuge sehen, wenn die Straße bis nach Los Angeles frei wäre«, rief Wojtowicz.

»Heute morgen sind Sie wirklich auf der Höhe, Wojtowicz«, stimmte Doc zu, »aber wir brauchen nur zehn Kilometer freie Straße — dann sind wir über zweihundert Meter hoch. Die übrigen fünfunddreißig Kilometer brauchen uns nicht zu kümmern. Wahrscheinlich ist es sogar besser für uns, wenn die Straße dort irgendwo blockiert ist.«

»Schon verstanden, Doc — dann wären fünfzigtausend andere Fahrzeuge auf der Straße.«

»Der Himmel vor uns sieht schwärzer aus, Mommy«, sagte Ann. Sie saß mit Rama Joan hinter Doc. »Eine dichte schwarze Rauchwolke.«

»Wir sind zwischen Wasser und Feuer eingeschlossen«, verkündete der Ladestock. Seine Stimme klang wieder so verträumt wie schon einmal zuvor. »Aber keiner braucht Angst zu haben — Ispan kehrt zurück!«

»Genau das fürchte ich auch«, flüsterte Hunter Margo zu. Er warf einen bedeutungsvollen Blick auf ihre hochgeschlossene Lederjacke. »Wollen Sie mir nicht das Ding zeigen, das der Katzenfrau in der Untertasse aus der Pfote gefallen ist? Ich habe gesehen, daß Sie es aufgehoben haben, und vermute, daß Sie es heute morgen ausprobiert haben. Funktioniert es?«

Als Margo keine Antwort gab, fuhr er fort: »Behalten Sie es ruhig für sich, wenn Sie glauben, auf diese Weise sicherer zu sein. Ich habe gehört, was Sie mit Doc vereinbart haben, und bin völlig Ihrer Meinung. Sonst würde ich Ihnen das Ding nämlich gleich jetzt fortnehmen.«

Margo schwieg weiter und sah nicht einmal zu ihm auf.

Der Bus hatte den höchsten Punkt des ersten Hügels erreicht, durchquerte die folgende Senke in einer leichten Kurve und fuhr langsamer das nächste steile Straßenstück hinauf. Bisher waren noch keine Erdrutsche oder Felsbrocken zu sehen.

Doc grinste zufrieden und stellte fest: »Die Straße nach Santa Monica verläuft fast ausschließlich auf Hügelrücken und besteht zudem aus einer neuen Asphaltart, die künstlich erzeugte molekulare Längsverbindungen enthält. Ergebnis: der Belag ist äußerst dehnbar und fast unempfindlich gegen Steinschlag. Das habe ich aus einer Fachzeitschrift für Straßenbau gelernt. Ha!

Am besten vertraut man immer dem universalen Genie, sage ich nur!«

»Universales Großmaul«, murmelte jemand hinter ihm.

Doc drehte sich rasch um, runzelte die Stirn und sah Rama mißtrauisch an. »Wir haben bereits etwa neunzig Meter Höhe gewonnen«, verkündete er dann.

Der gelbe Bus folgte der Straße über den zweiten Hügel, von dem aus sie zum letztenmal auf die Küstenstraße hinabsehen konnten. Sie war bereits überflutet. Die Wogen brachen sich jetzt an den Steilhängen über der ehemaligen Straße.

Загрузка...