Als die Untertassen-Beobachter schließlich die Stelle erreichten, an der die Straße sich gabelte, brauchte Hunter sich zum Glück nicht für eine der beiden Möglichkeiten zu entscheiden. Die Straße nach Mulholland war durch drei Cadillacs versperrt, die ihrem Äußeren nach eine lange Fahrt hinter sich haben mußten. Die Fahrgäste waren ausgestiegen und standen auf der Straße zusammen — vermutlich diskutierten sie darüber, in welcher Richtung sie auf dem Monica Mountainway weiterfahren sollten. Obwohl sie fast so schmutzverkrustet wie ihre Wagen waren, wirkten sie trotzdem vornehm und reich; vermutlich kamen sie aus Malibu.
Bis die Straße nach Mulholland wieder frei war, würde einige Zeit vergehen, entschied Hunter. Nachdem seine Gruppe aber so rasch wie möglich vorankommen wollte, weil die Verfolger bereits deutlich zu hören waren, blieb nur die andere Richtung.
An dieser Stelle verlief der Monica Mountainway fast einen Kilometer lang geradeaus über einen Hügelrücken, bevor die eigentliche Bergstrecke begann. Der Thunderbird und der Lieferwagen hatten kaum die Hälfte dieser Entfernung zurückgelegt, als zwei völlig überladene Sportwagen um die letzte Kurve rasten. Hinter ihnen wurden weitere Fahrzeuge sichtbar. Hunter fuhr langsamer und winkte Hixon zu. Der Lieferwagen dröhnte an ihm vorüber. Hunter sah einen Augenblick lang die grimmigen Gesichter der Männer auf der Ladefläche: Fulby, Pop, Doddsy und Wojtowicz — und Harry McHeath mit dem einzigen Gewehr in der Hand.
Die Frauen in seinem Wagen schwiegen bedrückt. Ann klammerte sich an ihre Mutter.
Dann sah er blitzartig andere Gesichter vorüberziehen. Diesmal waren es die der Leute aus Malibu, die neben ihren Luxuslimousinen standen und beleidigt dreinsahen, als wollten sie sagen: »Wie unverschämt von den Kerlen, einfach ohne zu halten oder wenigstens zu winken vorbeizufahren — und das in diesen schrecklichen Zeiten, wo jeder auf den anderen angewiesen ist!«
Hunter wünschte ihnen bestimmt nichts Böses, aber er hoffte trotzdem, daß sie die Verfolger für einige Minuten ablenken und zurückhalten würden. Als er hinter sich kreischende Bremsen und einen Schuß hörte, nickte er halb zufrieden und halb schuldbewußt.
Hixons Lieferwagen war bereits in der ersten einer ganzen Reihe von Haarnadelkurven verschwunden, an die Hunter sich noch deutlich erinnerte. Er kniff die Augen zusammen, weil die Sonne ihm jetzt ins Gesicht schien, und hielt nach einer Kurve Ausschau, die ihm am Vortag aufgefallen war.
Er fand sie wenig später — die dritte Haarnadelkurve von unten. An der Innenseite lagen auf der überhöhten Felskante einige größere Felsen. Hunter bremste scharf und sprang aus dem Wagen.
»Die Impulspistole!« forderte er mit ausgestreckter Hand von Margo. Als er sie bekommen hatte, stieg er den Abhang hinauf bis er unmittelbar hinter den Felsen stand. Dann zielte er mit der Pistole auf sie und drückte auf den Feuerknopf. Nach zwei Sekunden fürchtete er bereits, sie würden nicht in Bewegung geraten, so daß er die letzte Ladung vergeudet hätte, aber dann polterten sie doch nach unten, stießen dabei mehrmals heftig zusammen und türmten sich auf der Straße übereinander.
Hunter kletterte hinter ihnen her und starrte angestrengt durch die aufgewirbelten Staubwolken um zu sehen, ob ein zweiter Schuß erforderlich war. Aber die Felsbrocken versperrten die Straße von einer Seite bis zur anderen.
Er hörte weit über sich Beifallsrufe, hob den Kopf und sah den Lieferwagen, der zwei Kurven weiter über ihm am Straßenrand hielt. Er winkte den anderen zu und rannte zu dem Thunderbird zurück. Bevor er Margo die Pistole in die Hand drückte überzeugte er sich davon, daß die Ladung anscheinend doch nicht völlig erschöpft war, denn der violette Strich war noch am untersten Ende der Skala sichtbar. Als er anfuhr, hörte er hinter sich quietschende Bremsen und wütende Stimmen.
»Die Leute von vorhin können also in dieser Richtung nicht weiterfahren?« erkundigte Ann sich nachdenklich.
»Die Straße ist für jeden unpassierbar geworden«, erklärte Rama Joan.
»Hoffentlich«, warf Margo spöttisch vom Rücksitz aus ein.
»Die Straße ist völlig versperrt«, antwortete er kurz. »Wer die Felsen fortschaffen will, muß schon einen Kranwagen mitbringen.«
»Ich meine aber die netten Leute, die neben ihren Wagen am Straßenrand gestanden sind«, fügte Ann hartnäckig hinzu.
»Sie haben selbst eine Straße gehabt, auf der sie gekommen sind«, stellte Hunter aufgebracht fest. »Ich kann nichts dafür wenn sie die Gelegenheit nicht benutzt haben. Dann sind sie eben nur reiche Idioten gewesen!«
Ann wich vor ihm zurück und drängte sich dichter an ihre Mutter. Hunter hätte sich am liebsten selbst geohrfeigt, weil er einem Kind gegenüber so unbeherrscht gewesen war. Doc wäre das nicht passiert.
»Professor Hunter hat völlig recht, Ann«, sagte Wanda vom Rücksitz her. »Ein Mann muß immer zuerst an die Frauen in seiner Begleitung und ihre Sicherheit denken.«
Rama Joan sagte leise zu Ann: »Die Götter haben immer Schwierigkeiten bei der Anwendung ihrer Zauberwaffen. Das wird in jeder Mythologie geschildert.«
Hunter versuchte sich auf die kurvenreiche Straße zu konzentrieren und hätte beide am liebsten angebrüllt, sie sollten endlich den Mund halten. Aber er beherrschte sich mühsam und schwieg verbissen.
Erst zwanzig Minuten später hatten sie den Lieferwagen wieder eingeholt. Hixon hatte ihn unmittelbar vor der Abzweigung einer weiteren Nebenstraße geparkt.
»Hier steht ›Nach Vandenberg‹«, rief er und zeigte dabei auf einen Wegweiser, als der Thunderbird neben ihm zum Stehen gekommen war. »Wahrscheinlich führt die Straße ohne große Umwege durch die Hügel. Nachdem wir nach Vandenberg wollen, weil sich dieser komische Opperly angeblich dort aufhält, könnten wir eigentlich gleich hier abbiegen. Auf diese Weise sparen wir uns ein paar Kilometer an der Küstenstraße entlang.«
Hunter stand von seinem Platz auf und hielt sich am oberen Rand der Windschutzscheibe fest. Die Nebenstraße schien nicht beschädigt zu sein — jedenfalls nicht auf dem ersten sichtbaren Stück. Der Straßenbelag unterschied sich nicht von dem der Hauptstraße, auf der sie gekommen waren. Hunter überlegte einige Sekunden lang.
In dieser Pause erschütterte ein leiser Donner die Luft. Das Geräusch schien aus Südosten gekommen zu sein und pflanzte sich nach Nordwesten fort. Die Mitglieder der kleinen Gruppe hoben erstaunt die Köpfe, aber keiner von ihnen erriet, daß der leise Donner den letzten Ausläufer der Schockwelle darstellte, die erst jetzt anzeigte, daß der Isthmus von Nikaragua vom Meer überflutet und von Vulkaneruptionen zerstört worden war.
Hunter schüttelte den Kopf und sagte laut: »Nein, wir bleiben auf dem Monica Mountainway. Wir sind erst gestern hier gewesen und wissen, daß die Straße in Ordnung ist — keine Erdrutsche und so weiter. Eine neue Straße ist eine unbekannte Größe.«
»Wirklich?« meinte Hixon langsam. »Ich sehe nur, daß sie meinen Vorschlag ausgeführt haben, die Straße mit Felsen zu blockieren, damit unsere Verfolger nicht weiterkönnen.«
»Ganz richtig«, antwortete Hunter, weil ihm im Augenblick nichts anderes einfiel. Er zuckte mit den Schultern.
»Doddsy hat mich vorhin daran erinnert, daß wir an der Küste auch mit der Flut rechnen müssen«, fuhr Hixon fort.
»Wenn wir vor Sonnenuntergang auf die Küstenstraße kommen, ist alles in Ordnung«, versicherte Hunter ihm. »Die Ebbe setzt um fünf Uhr nachmittags ein. Natürlich unter der Voraussetzung, daß die Gezeiten den früheren Rhythmus einhalten — aber gestern war das jedenfalls noch nicht anders.«
»Ja ... wenn«, murmelte Hixon.
»An den Küsten müssen wir überall mit den Gezeiten rechnen«, antwortete Hunter aufgebracht. Er spürte, daß seine Nerven bis zum Zerreißen gespannt waren. »Los, wir müssen weiter«, fügte er laut hinzu. »Ich fahre jetzt voraus.«
Er setzte sich wieder hinter das Steuer und fuhr auf dem Monica Mountainway weiter. Nach einer Minute sagte Margo beruhigend: »Hixon fährt hinter uns her.«
»Haben Sie etwas anderes erwartet?« erkundigte Hunter sich grinsend.
Barbara Katz hatte das kleine Teleskop unter dem Arm, als sie auf das Dach des Rolls-Royce kletterte, der mit einer Panne am Straßenrand stand. Sie wollte einen Blick über die niedrigen Mangrovenwälder werfen, die sich zu beiden Seiten der engen Landstraße erstreckten. Die Sonne stand bereits tief am Horizont und strahlte die Wolken dunkelrot an, die der kühle Südostwind rasch über den Himmel trieb. Das Wetter hatte sich in der letzten halben Stunde völlig verändert.
Hester streckte den Kopf aus dem Fenster der Limousine und flüsterte: »Sie dürfen nicht dort oben herumtrampeln, Miß Barbara. Mister K. ist sehr schwach und muß endlich ruhig schlafen.«
Helen kauerte am Straßenrand und reichte Benjy Werkzeuge zu. Irgendwie hatte sich ein längeres Stück Draht am linken Hinterrad verfangen und war jetzt fest um die Achse gewickelt so daß eine Windung neben und über der nächsten lag. Benjy war erst darauf aufmerksam geworden, als das Hinterrad blockierte.
Der Chauffeur kam rückwärts unter dem Wagen hervor, blieb neben Helen in der Kniebeuge und schüttelte trübselig den Kopf. »Keine Ahnung, wie ich das verdammte Zeug loskriegen soll«, sagte er dann. »Ich habe einfach nicht die richtige Zange dafür. Und der Draht ist zu fest aufgewickelt — mindestens fünfzigmal.«
Barbara, die noch immer auf dem Dach der Limousine stand und sich große Mühe gab, so wenig Lärm wie möglich zu machen, während sie auf der glatten Oberfläche einen festen Halt suchte, wunderte sich ohnehin noch jetzt darüber, daß es Benjy gelungen war, den Rolls-Royce wieder in Gang zu bringen. Als das Wasser wieder gesunken war, hatte er fieberhaft an dem Motor des Wagens gearbeitet; eine halbe Stunde später hatte er ein Triumphgeheul ausgestoßen, als der Motor beim ersten Startversuch spuckte, stotterte und wieder gleichmäßig lief. Dann waren sie etwa vierzig Kilometer weiter nach Norden gefahren bevor diese Panne mit dem Draht eintrat.
Hester beugte sich aus dem Fenster und sah nach hinten. »Hoffentlich schaffst du es doch, Benjy«, meinte sie besorgt.
»Die Gegend hier ist noch flacher als sonst — und die kleinen Bäume verschwinden bestimmt sofort unter Wasser.«
»Unmöglich, Hes«, widersprach Benjy. Er zuckte mit den Schultern. »Jedenfalls dauert es noch zwei oder drei Stunden.«
»He!« rief Barbara plötzlich aufgeregt. »Dort vorn an der Straße ... vielleicht eineinhalb Kilometer entfernt ... sehe ich ganz deutlich ... zwischen den Bäumen ... ein weißes Dreieck! Jetzt sind wir gerettet, glaube ich!«
»Und was soll uns ein weißes Dreieck helfen, Kind?« fragte Hester.
»Benjy«, rief Barbara, »können Sie eine Art Tragbahre für Mister K. herrichten — oder ihn einen Kilometer weit tragen?«
»Klar«, antwortete Benjy. »Warum auch nicht? Schließlich haben wir schon fast alles andere probiert.«
»Da ist es!« rief Barbara Katz laut, um den Wind zu übertönen. Der gleiche Blitz, der die dunklen Mangrovenzweige sichtbar werden ließ, die sich heftig in dem Sturm bewegten, der auch die Wolken über den Nachthimmel trieb, zeigte ein weißes Dreieck zwischen den Bäumen. Es war der Bug eines Segelbootes, das fast fünf Meter über ihnen zwischen zwei Bäumen hing.
Barbara nahm die schwere Thermosflasche in die linke Hand und die Taschenlampe in die rechte; dann schaltete sie die Lampe ein, als sie auf die Bäume unter dem Bug zuging. In dem Lichtstrahl war zu erkennen, daß der tiefe Kiel auf den unteren Ästen ruhte.
Benjy legte den alten KKK mit seiner Decke an den Straßenrand.
Hester und Helen setzten ihre Bündel ab und beugten sich besorgt über den Alten.
Benjy kam auf Barbara zu. Er keuchte vor Anstrengung.
»Richten Sie ... die Lampe auf den Rumpf«, stieß er hervor.
Sie drängten sich durch das Unterholz und leuchteten zuerst eine Seite des Kiels ab, dann folgte die andere. Barbara las den Namen des Bootes: Albatros.
»Anscheinend hat es kein Leck«, stellte Benjy kurze Zeit später fest. »Der Mast muß allerdings ziemlich kurz abgebrochen sein, sonst hätten wir ihn gesehen. Wahrscheinlich treibt das Boot mit der Flut nach oben. Vielleicht sitzt es zu fest, aber das glaube ich nicht. Ich klettere am besten nach oben und lasse dann das Seil herunter.« Er wies auf das Seil, das er um die Brust geschlungen trug.
Der Wind hatte sich in der Zwischenzeit etwas gelegt. Benjy hob die Hände an den Mund und rief nach oben: »Hallo! Jemand an Bord?«
Zwei Sekunden später frischte der Wind wieder auf. Benjy drehte sich zu Barbara um. »Ich habe eben ein Geräusch gehört, glaube ich«, sagte er. »Aber es war nicht nur der Wind.«
»Ich auch«, antwortete Barbara. Ihre Zähne klapperten — weil der Wind so kalt war, versuchte sie sich einzureden. Sie richtete den Lichtstrahl der Taschenlampe senkrecht nach oben. »Oh, mein Gott!«
Über die Seite des Bootes ragte ein kleines weißes Gesicht hinaus.
»Ein kleines Kind!« rief Benjy.
»Ein Baby!« stellte Helen, die inzwischen herangekommen war, verblüfft fest. Sie winkte nach oben. »Bleib nur dort, Baby! Nicht herunterfallen! Wir kommen schon!«